Meine Freundin gibt mir regelmässig Zeitungsartikel zu lesen, die ich sonst übersehen würde, weil sie nicht im Sportteil abgedruckt sind. Es sind meist (immer) interessante Artikel zu einem relevanten Thema. Oder relevante Artikel zu einem interessanten Thema. Ich bedanke mich bei ihr und lege sie auf die Seite (die Artikel). Auf den kleinen Beistelltisch neben der blauen Liege oder irgendwo auf meinen Schreibtisch zwischen die Steuerunterlagen, die zu bezahlenden Rechnungen und die angefangenen Geschichten. Dieses Wochenende waren es zwei Artikel. Ein Interview mit Susan Sontag und einen Artikel über Duchamps. Das Interview mit Susan Sontag habe ich an ihrem wöchentlichen Namenstag gelesen. Eine überzeugende Frau. Eine Frau mit dezidierten Meinungen. Und mit 68 immer noch eine schöne, schon zum Ansehen faszinierende Frau. Dass sie mit vierzehn Proust las auf dem Fussboden tut daran keinen Abbruch. Vielleicht war kein Sofa vorhanden.
Den Artikel über Duchamps habe ich vor ein paar Minuten zuende gelesen. Im Zug nach Zürich, wo ich noch sitze, den tragbaren Computer on top of my lap.
Ich muss mich kurz äussern dazu, Geliebte. Und ich bitte Dich natürlich (natürlich bitte ich Dich darum), diesen kurzen Text (der Zug trifft in zwanzig Minuten im Zürcher Hauptbahnhof ein) ganz für Dich zu behalten. Halte ihn vor allem und um Deines Gottes Willen aus meinem Gesamtwerk raus, wenn es gierige Studenten in ein paar Jahrzehnten dereinst bei Dir abholen (Du wirst über 68 sein und immer noch, ich kann Dich vor mir sehen, eine bildschöne, schon vom Ansehen her faszinierende Frau mit einer dezidierten Meinung) – sie würden mich für einen ganz und gar ungebildeten Menschen halten und sich trotz meiner zahnlosen Meriten, die ich mir eventuell noch um die abendländische Literatur erwerben werde (sonst kämen die Studenten gar nicht, um den ganzen Karsumpel wegzuschleppen), von mir abwenden wie von einem Trickbetrüger, mein Gesamtwerk auf den Müll werfen anstatt es sorgfältig zu editieren. Und sie hätten recht damit. Völlig recht.
Harald Szeemann, steht hier geschrieben (hier wie in diesem Artikel, nicht hier wie in diesem Text, obwohl es jetzt hier auch steht), wird im Basler Museum Jean Tinguely die repräsentative Schau „Marcel Duchamps“ einrichten. Damit würde zum ersten Mal seit Venedig (1993 – Du warst damals Mitte 30) das Schaffen Marcel Duchamps, der zentralen Figur der Kunst des 20. Jahrhunderts (fett gedruckt) in einer grossen Ausstellung gezeigt. Aha.
Da bin ich jetzt allerdings gefordert. Ich könnte den Artikel zur Seite legen, auf dem Sitz liegen lassen (pro Jahr entsorgen die Putzequipen der SBB einen ganzen, ziemlich langen Güterzug voll Müll – hauptsächlich gelesene und ungelesene Zeitungen – welchen die Passagiere liegen lassen). Ein Zug ist keine Toilette, die man so hinterlässt, wie man sie gerne antreffen würde. Ich wische mit einem Zusatzpapier meinen Scheiss vom inneren Schüsselrand, weil mich das anwidert, wenn ich eine Toilette in diesem Zustand antreffe). Das könnte ich tun, aber ich merke, dass ich mich mit der WC-Schüssel bereits auf Marcel Duchamps eingelassen habe. Auf sein teuflisches Spiel.
Ich will versuchen, das Ganze irgendwie einzuordnen, damit ich es verstehen kann. Ich wenigstens. Das würde mir bereits reichen.
Beginnen wir vorne. Dieser Szeemann – hat der nicht zuletzt Aufsehen damit erregt, dass er das Zürcher Kunsthaus verpackt hat? Oder verwechsle ich ihn? Hat der seine Karriere bei Ayax Amsterdam begonnen und spielt heute bei Inter Mailand? Oder heisst der Seedorf? Hat jedenfalls am Wochenende ein wunderschönes Tor geschossen. Von der Strafraumecke aus. Aus dem Stand. Der Torhüter hat kaum reagiert. Als stünde er in einem Freiluftmuseum. Duchamps hätte gesagt: Ein Torwart entsteht, indem man einen Mann in kurzen Hosen und einem Trikot nimmt und ihn in ein Stadion stellt. Man darf ihn nicht ankleiden, trainieren und womöglich noch bezahlen. Man darf ihm auch nicht sagen, warum man ihn in ein Stadion führt und ihn dort zwischen zwei Aluminiumpfosten stellt. Hätte Duchamps gesagt. Und er hätte es einen readymade Torwart genannt. Obwohl er dann in den entscheindenden Momenten nicht bereit gewesen wäre. Not ready at all.
Ich habe Duchamps vor allem von der letzten Weltmeistermannschaft der Bleus in Erinnerung. Einer der vielen brillianten Techniker, die auch noch kämpfen können. Ein genialer Rackerer. Keiner der ganz grossen Stars wie Zinfandel Zinnsoldat. Ein Mosaikstein im Gesamtkunstwerk des französischen Nationaltrainers, das er im WM-Final 1998 den Brasilianern überreichte, die davon schlicht überwältigt waren und es kaum annehmen konnten, dann aber doch mussten. Aus Freundlichkeit des Gastes. Dieser Dugarry also, oder Duchamps (wer weiss das so genau), stellte, wenn er nicht gerade Fussball zelebrierte und dabei Brasilianer vorführte, readymades her. Dinge, soll er gesagt haben, die rein dadurch (und nur dadurch) Kunst werden, dass man sie von da, wo sie gerade sind, wegnimmt und in ein Museum stellt. 1917. Ein Urinal. Ein Fanal.
Keiner, sagt dieser Artikel, sagt Szeemann, sagt der französische Nationaltrainer, keiner (keiner) sei im 20. Jahrhundert um dieses Urinal herumgekommen. Deshalb sei es das Zentrale Dings der Kunst des 20. Jahrhunderts (fett gedruckt).
Meine Damen und Herren: Ich gebe hier und jetzt vor Ihnen zu, dass mir Duchamps nur vom Namen her ein Begriff war, bevor ich diesen Artikel (diesen da) gelesen habe. Er kommt einfach nicht oft genug im Sportteil vor. Aber ich muss hier als einer, der nicht Kunstgeschichte studiert hat, eines einmal ganz klar sagen (mir): Bloss weil Harold Seedorf nach einem Dreivierteljahrhundert (und zwei vorzeitigen Trainerentlassungen) in Basel eine Gesamtschau verpackt, weil weder Andy Warhol, Joseph Beuys, Franz Beckenbauer noch Fatzke Padopulos noch sonstwer, der in meiner Küche schon einmal eine Installation gemacht oder auf irgendeinem Nebenplatz einmal hinter’s Tor geflankt hat, oder den Namen Madonna ausgesprochen, ohne an Pop zu denken, bloss weil Basel zum ersten Mal seit zwei bis drei Jahrzehnten wieder Meister werden könnte und Guerrero nach seiner letzten Verletzung vielleicht nie wieder Fussball spielt: deswegen muss man sich doch nicht gleich zu diesem idiotischen und völlig unhaltbaren Superlativ versteigen (fett gedruckt).
Ich gebe zu, der Mann hatte ein gewisses Format. Gute Technik. Viel Überblick. Und originell war er auch. Hinter der Viererabwehrkette. Aber die zentrale Figur der Kunst des 20. Jahrhunderts? Welche Kunst? Welches Jahrhundert? Es gibt keine Kunst. Es gibt keine Kunst des 20. Jahrhunderts. Es gibt kein 20. Jahrhundert. Es gibt in jedem Jahhundert eine unheimlich grosse Zahl unheimlich kreativer und talentierter Menschen, die Kunst schaffen. Und es gibt in gewissen Zeiten dermassen originelle Schaffer, dass sie mit ihrer Kunst andere Künstler begeistern und beeinflussen und dann entsteht eine Bewegung, eine Kunstrichtung, über die dann endlos geschrieben wird von Leuten, die darüber endlos schreiben können (auch eine Kunst). Und dieser Duchamps, den ich überhaupt nicht kenne (mir aber vielleicht die ihm gewidmete Ausstellung anschauen gehe, bevor sie in Basel mit den Vorbereitungen zur Meisterfeier beginnen und man als Zürcher nicht mehr hin kann), der war bestimmt genial. Er musste wahrscheinlich überhaupt nichts mehr an sich manipulieren. Alles, was er mitnahm, wurde dadurch, dass er es irgendwo liegenliess, zu Kunst. Ein ganzer Güterzug voll pro Jahr. Ich will an seiner Bedeutung für die SBB überhaupt nicht herumdeuteln. Ich habe auch mit Ronda Shearers Theorien kein Problem, die Duchamps vorwirft, und diesen Vorwurf mit akribischen Recherchen erhärtet, er hätte eben doch an seinen angeblichen readymades herumgefummelt und sei deshalb ein, wenn auch sympathischer, Betrüger. Ich bin sicher, das tut Duchamps Ruf wenig Abbruch. Gewonnen ist gewonnen, ganz egal wie. Da ist der Sport von einer befreienden Klarheit. Im Gegenteil: In ein paar Jahren wird es jemanden geben, jemanden oder eine vollzählige Studiengruppe, welche sich mit Ronda Shearers Forschungen und Theorien zu Duchamps auseinander-setzen wird. Man wird in akribischen Studien beweisen, dass sie bei den Bildern und Gegenständen, mit denen sie beweisen wollte, dass Duchamps seine readymades manipuliert hatte, herumgefummelt hat. Und ein paar Jahre später wird eine Studiengruppe in Tübingen beweisen können (oder mindestens ernsthaft den Versuch starten), dass diese AntiRondianer (die Gegenshearer) bei ihrer Schmutzkampagne gegen die Gattin von Professor Gould in Tat und Wahrheit schummelten. Und irgendwann wird ein Einsiedler im Harzgebirge über den Sinn des Lebens nachdenken bis er von einem altersschwachen Baum erschlagen wird. Und über all dem wird Duchamps thronen, der begnadetste Dribbler, der je in einem WM-Final gstanden hat. Er habe, hat neulich einer seiner ehemaligen Teamkollegen in einer Dokumentation zum 100. Genurtstag von Real Madrid am Fernseher dem unsichtbaren Interviewer anvertraut (ein weisshaariger Mann, der aussah, als habe er sein Leben wirklich genossen), in der Dusche manchmal ein Stück Seife in die Luft geworfen und mit der Innenseite des Fusses aus der Luft gestoppt. Vielleicht der begnadetste Fussballer aller Zeiten, dieser Duchamps.
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