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Eröffnungsrede der Soirée Suisse 2022

9. Mai 2023

(gehalten am 8. September 2022, gekürzte Version, es galt das gesprochene Wort)

Sehr geehrte Gäste

Meine Gattin und ich begrüssen Sie ganz herzlich zur Soirée Suisse 2022!

Wer mich kennt und mich schon einmal reden gehört hat, der weiss: «Man sollte mir alles geben, nur nicht das Wort»

Von Diplomaten wird ja allgemein erwartet, dass sie lange reden, ohne dabei wirklich etwas zu sagen. In der Regel beruhige ich diesbezüglich die Zuhörerschaft gleich zu Beginn meiner Reden, indem ich ankündige, mich kurz zu halten und mich zu bemühen, auch wirklich etwas zu sagen. Was Letzteres betrifft, kann ich Ihnen heute versichern: Ich habe in meinen 35 Berufsjahren schon so oft geredet, ohne dabei wirklich etwas zu sagen, dass es praktisch nichts mehr gibt, was ich noch nie nicht gesagt habe. Was hingegen die Kürze meiner Ansprache angeht, kann ich Ihnen heute leider nichts versprechen. Ich hoffe, Sie sitzen bequem.

Der Grund dafür, dass ich heute allenfalls etwas länger werden könnte, liegt nicht nur darin, dass es nach zwei Jahren Unterbruch endlich wieder möglich ist, die Soirée Suisse mit Ihnen zu feiern, wodurch ich zwei nicht gehaltene Reden in der heutigen Rede unterbringen musste, die wegen ihrem Ausfall sehr ungehalten waren; der Grund liegt auch darin, dass ich Ende Jahr in Pension gehen werde, oder – wie man bei Diplomaten sagt – meinen zweitletzten Transfer habe. Die heutige Rede dürfte somit meine allerletzte Gelegenheit sein, bei der mir ein grösseres Publikum schonungslos ausgeliefert ist.   

Liebe Gäste,

Am 2. August letzten Jahres, also einen Tag nach dem Schweizer Nationalfeiertag, konnte man im Standard lesen, Biologen hätten in der Schweiz eine Moospflanze entdeckt, die bisher nur an einer einzigen Stelle und zwar in Tirol vorgekommen sei.

Es handelt sich um eine Moosart mit dem Namen Spalthütchen, die nur in sehr großer Höhe wächst und nur spärliche Bewässerung braucht, wie zum Beispiel von Gletscherwasser, weshalb die äusserst seltene Pflanze vom Klimawandel bedroht ist.

Die Spezies war vor etwa 25 Jahren vom österreichischen Botaniker Heribert Köckinger nahe des Gipfels der vorderen Kendlspitze in den Hohen Tauern entdeckt worden. Und nun wurde das äusserst seltene Moos also auch in der Schweiz, nämlich im Kanton Glarus, in der Nähe des Martinslochs, in der Tschingelhörner-Gipfelkette entdeckt, und mit schweizerischer Konsequenz «Martinsloch-Spalthütchen» getauft.

Falls Moose sammeln ein Hobby von Ihnen ist und Sie das Martinsloch-Spalthütchen einmal suchen gehen sollten: Es weist eine warme braune Färbung auf, hat eiförmige, konkave und mutierte Blätter, mit abgerundeten Spitzen, Spaltöffnungen sowie ellipsoide Kapseln, die an der Mündung eingeschnürt sind. Ich bin sicher, Sie sehen das jetzt ganz klar und deutlich vor ihrem geistigen Auge.

Pflücken Sie es aber bitte nicht, weil es auch in Ihrem Kopf sehr selten ist, und weil man bei Moosen und Pilzen allgemein sehr vorsichtig sein sollte, was man davon isst. Das ist mir erst am letzten Wochenende wieder einmal bewusst geworden, als meine Gattin hier im Botschaftsgarten seltsame Pilze fand. Sie meinte zuerst, ich sei es, der im Gras liege, und über den sie fast gestolpert wäre, aber es stellte sich als eine stattliche Ansammlung von über Nacht gewachsenen «Spitzkegeligen Kahlkopfpilzen» heraus.

Nicht, dass ich das sofort erkannt hätte. Ich musste mich bei «Swissfungi» erkundigen, dem mir bis dahin unbekannten Schweizer Daten- und Informationszentrum für Pilze, das mir für Pilze in einem Schweizer Residenzgarten die geeignete Anlaufstelle schien.

Spitzkegelige Kahlkopfpilze, so erfuhr ich, gehören zu den halluzinogenen Pilzen, die den Wirkstoff Psilocybin enthalten, den der Schweizer Chemiker Albert Hoffmann in meinem Geburtsjahr 1958 erstmals aus diesen Pilzen isoliert hat. Die Pilze haben sich in den 60er-Jahren als hippe Partydroge unter dem Namen «Magic Mushrooms» einer grossen Beliebtheit erfreut.     

Der Spitzkegelige Kahlkopfpilz enthält von allen Pilzen den mit Abstand grössten Anteil von halluzinogenen Wirkstoffen und er kommt in der Schweiz relativ häufig vor.  Wie oft der Spitzkegelige Kahlkopf tatsächlich in der Schweiz auftrete, sei schwierig zu sagen, da viele Funde nicht gemeldet würden, was mich angesichts der Eigenschaften des Pilzes nicht wirklich erstaunt, und vielleicht dazu beiträgt, dass die Schweizer Bevölkerung in der internationalen Zufriedenheitsskala regelmässig weit oben steht.  

Meiner Frau und mir ist jedenfalls durch den Fund klargeworden, warum unsere oberösterreichischen Pudel oft völlig ausgeflippt im Garten herumtollen und auf den Hinterbeinen stehend miteinander tanzen, als seien sie auf einem grandiosen Trip.

Also, liebe Gäste: Falls Sie heute Abend Pilze finden sollten im Botschaftsgarten – die Botschaft übernimmt keinerlei Verantwortung für das, was Sie nachher anstellen, falls sie die Pilze essen oder rauchen sollten. 

Entschuldigen Sie bitte, dass ich dauernd abschweife, aber Ich muss nochmal von den Pilzen zu den Moosen wechseln. Laut der Roten Liste des Schweizer Bundesamts für Umwelt, Wald und Landschaft gelten 416 der über 1000 bekannten Schweizer Moosarten als gefährdet. Das mit dem Martinsloch-Spalthütchen am nächsten verwandte Moos, dessen lateinischen Namen ich mir und Ihnen erspare, wurde beispielsweise seit 1966 nicht mehr gesichtet.

Bei mir verhält es sich so, dass man mich ab Dezember 2022 nicht mehr sichten wird, jedenfalls nicht mehr als Schweizerischer Botschafter. Ursprünglich bestand die Absicht, dass meine Frau und ich nach meiner Pensionierung zurück in die Schweiz ziehen würden. Als ich dann aber den Artikel über das Martinsloch-Spalthütchen las, das mehr als 25 Jahre brauchte, um von Tirol in den Kanton Glarus zu wandern, habe ich beschlossen, in Wien zu bleiben, um der Gefahr zu entgehen, dass

ich das zeitliche segne, bevor ich in Zürich ankomme.

Verehrte Gäste,

nach all diesen Abschweifungen zu Moosen und Pilzen wäre es höchste Zeit, dass ich endlich zur Sache käme. Da ich aber schon viel zulange rede und nicht mehr sicher bin, um welche Sache es heute geht, komme ich direkt zum Schluss.    

Als ich im Herbst 2017 nach Wien kam, stellte ich mich auf eine beschauliche Zeit in einem stabilen Nachbarland der Schweiz ein, mit dem wir traditionell ausgezeichnete Beziehungen haben. Die Beziehungen waren – und sind es noch – auch tatsächlich ausgezeichnet, die Erwartung der Stabilität erfüllte sich dann aber nicht auf allen Ebenen. Während ich in 35 Jahren als Schweizer Diplomat unter lediglich sechs Aussenministern gedient habe, erlebte ich nun in 5 Jahren Österreich 6 Bundeskanzler, zweimal den gleichen zwar, aber in der Abfolge doch 6. So habe ich Österreich als bewegtes Land erlebt und es ist mir auf jeden Fall nie langweilig geworden.

Wenn Sie mich fragen, was ich in meinen fünf Jahren für die Beziehungen zwischen der Schweiz und Österreich getan habe, dann möchte ich gerne für mich in Anspruch nehmen, dass in meiner Amtszeit ein seltenes Moos das letzte Stück seines Weges vom Bundesland Tirol in den Kanton Glarus zurückgelegt hat – eine ebenso lange wie völkerverbindende Wanderung.

Das alpenüberquerende Euter der österreichischen Künstlerin Barbara Anna Husar hat mir auch sehr gut gefallen, aber ich kann es mir nicht auf die Fahne schreiben, weil ich sonst wegen kultureller Aneignung eingeklagt werde.

Ich wünsche Ihnen, sehr geehrte Gäste, einen vergnüglichen Abend.  

Vier klassische Konzerte um den Jahreswechsel

4. Mai 2023

Das dritte Konzert

Zurlinden hiess sie! Paula Zurlinden! Ich war das Alphabet gerade mehrmals durchgegangen auf der Suche nach dem Namen meiner ehemaligen Assistentin, weil mich die Frau, die im Wiener Konzerthaus direkt vor mir Platz genommen hatte, von hinten (nur von hinten, von der Seite bestand keinerlei Ähnlichkeit) stark an sie erinnerte, ohne dass mir ihr Name in den Sinn gekommen wäre. Bei „a“ glimmte einmal im Hintergrund kurz ein Licht, wie ein erlöschender Zigarettenstummel, und einmal meinte ich, es versuche sich ein „o“ schüchtern aufzudrängen, aber keiner der Buchstaben, die ich vor meinen geschlossenen Augen aufmarschieren liess, war imstande, einen Namen aus dem Dunkel meiner Erinnerung zu locken.

Erst als ich die Augen im zweiten Satz von Mozarts 9. Symphonie wieder öffnete, während des ersten Themas, das, wie mir das Programmheft erklärt hatte, aus Vorder- und Nachsatz aufgebaut war, die wiederum aus zweitaktiger „Frage“ und „Antwort“ bestanden, flog mir ihr Name zu. Und als hätte der plötzlich ankommende Vogel einen bereits anwesenden aufgescheucht, löste sich, als der junge Dirigent seinen linken Arm abrupt nach oben riss, um einem Teil seiner Musiker das Zeichen zum Einsatz zu geben, seine linke Hand aus der Manschette und flog wie ein Vogel anmutig über den Köpfen des Orchesters hinauf in Richtung des prachtvollen, altehrwürdigen Gewölbes. 

Paula Zurlinden wartete damals, vor 15 Jahren, als ich überraschenderweise meinen ersten Posten als Botschafter (in Israel) antrat, als Assistentin des Missionschefs auf mich. Eine sehr liebenswürdige und stets äusserst hilfsbereite Frau mit den sanften, braunen Augen eines Rehs, die ich nach einer Weile als meine Assistentin ersetzen musste, aus Gründen, die hier keine Rolle spielen, um sie nur wenig später auf einer anderen Position wieder einzustellen, für die sie besser geeignet und auf der sie zufrieden und glücklich war. Aber was heisst schon zufrieden, und was, wenn es so etwas als Zustand und nicht nur als flüchtigen Moment gäbe, wäre Glück?

Ein paar Jahre nach meinem Abgang aus Tel Aviv trug mir jemand zu, sie sei schwer krank geworden. Ein Tumor von der Grösse einer Baumnuss im Hinterkopf, wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht. Und noch einmal ein paar Jahre später erfuhr ich, sie sei operiert worden und hätte alles gut überstanden. Ich hoffe, diesen zweiten Teil meiner Erinnerung nicht meinem Gedächtnis zu verdanken, das, stets um mein Wohlbefinden bemüht, dazu neigt, alles gut werden zu lassen, auch Dinge, die nie gut geworden sind. Wenn heute Abend das Jahr zu Ende geht, werde ich ein Glas auf Sie trinken, liebe Frau Zurlinden, in der Hoffnung, es gehe Ihnen tatsächlich gut! Ich wünsche Ihnen noch viele gesunde und glückliche Jahre.

Nun hätte ich erwartet, dass im Moment, als sich die linke Hand des Dirigenten aus seinem Ärmel verabschiedete und mit eleganten Schwüngen an Höhe gewann, zumindest ein bass erstauntes allgemeines Raunen, wenn nicht ein entsetzter Aufschrei durch Orchester und Publikum gegangen wäre, oder dass zumindest der Dame aus dem Chor, der hinter dem Orchester stehend auf seinen Einsatz wartete, über deren Kopf die Hand mit so wenig Abstand abdrehte, dass sie ihn fast getroffen hätte und vermutlich gestreift hat, ein Schrei entfahren wäre, während sie versucht hätte, dem seltsamen Vogel auszuweichen oder – je nach Temperament – ihn abzufangen, aber nichts dergleichen geschah.

Niemand im Publikum oder im Chor schien von dem doch äusserst ausserordentlichen Vorfall auch nur Kenntnis genommen zu haben und der Dirigent bewegte seinen linken Arm weiterhin so, als befände sich an seinem Ende seine linke Hand, obwohl man deutlich erkennen konnte, sogar ich mit meinen nicht sehr guten Augen aus der 22. Reihe, dass sie fehlte. Ich drehte mich zu meiner Frau hin, aber sie lächelte und hatte offenbar auch nichts bemerkt, obwohl sie ihre Brille trug. War ich einer optischen Täuschung erlegen?

Beim nächsten Konzertbesuch, nahm ich mir vor, wollte ich mein Opernglas mitnehmen, und fragte mich gleichzeitig, ob es wohl erlaubt sei, Operngucker ins Konzert mitzubringen. Ich hatte jedenfalls noch niemanden gesehen, der die Gesichter der Musiker oder den Rücken des Dirigenten durch sein Fernglas beobachtete.

Das Konzert ging also weiter, als ob nichts gewesen wäre. Der Vogel musste sich (ich hatte ihn aus den Augen verloren), nachdem er eine Weile lang unter dem Dach umhergeflattert war, irgendwo niedergelassen haben, und der Dirigent brachte die 9. Symphonie ohne Probleme einhändig zu Ende. Während das Publikum minutenlang frenetisch applaudierte und „Bravo!“ rief, verschwand der Dirigent dreimal und kam jedes Mal ohne seine linke Hand zurück. Einmal, er hatte wohl für einen Augenblick vergessen, dass sie ihm gerade abhandengekommen war, winkte er sogar mit dem linken Arm in den applaudierenden Saal, aber nicht einmal da schien dem Publikum etwas aufzufallen. 

Wenn ich gesagt habe, ich sei damals überraschenderweise zu meinem ersten Botschafterposten in Israel gekommen, so bezieht sich die Überraschung auf das Land, in dem man mir zum ersten Mal die Vertretung der Schweizer Interessen anvertraute. Noch erstaunter als ich war wohl derjenige, der eigentlich für den Posten vorgesehen war. Aber die Dinge nehmen manchmal ihren eigenen, von niemandem vorhersehbaren Lauf. Ich wurde damals buchstäblich über Nacht ernannt, weil der, der für die Ernennung vorgesehen war (ein überaus brillanter Kollege), ein paar Jahre zuvor an einem offiziellen Nachtessen eine längere Rede gehalten hatte in der Sprache seines damaligen Gastlandes, die der neben ihm sitzende Schweizer Bundesrat leider nicht verstand.     

Das vierte Konzert

Sie fragen sich jetzt wahrscheinlich, warum ich mit dem dritten Konzert begonnen habe und nun bereits zum vierten und letzten Konzert übergehe. Die Erklärung ist so kurz wie einfach. Die beiden ersten Konzerte fanden ohne mich statt. Das erste sogar ohne uns, weil meine Frau und ich an Corona erkrankt waren, und das zweite ohne mich, weil meine Gattin es alleine besuchte. Es fand einen Tag vor dem dritten statt, von dem ich gerade berichtet habe, und zwei klassische Konzerte hintereinander wären für mich eines zu viel gewesen.

Das vierte Konzert fand im Musikverein statt. Dort, wo jedes Jahr das Neujahrskonzert in alle Welt hinaus übertragen wird. Wenn ich Ihnen sage, ich wisse nicht mehr, was gespielt wurde und wer dirigierte, bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als mir zu glauben. Im Gegensatz zum dritten Konzert gab es beim vierten auch für mich keine ausserordentlichen Vorfälle. Ich hatte nach dem dritten Konzert schon auf dem Heimweg meine Frau gefragt, ob sie gesehen habe, wie die Hand des Dirigenten ihm entflog, aber sie hielt es für eine meiner besonderen Formulierungen und meinte nur, ja, er habe sehr lebhaft dirigiert. Am nächsten Tag habe ich die Medien durchforstet und zwei Freunde angerufen, von denen ich annehmen durfte, dass sie auch am Konzert waren, aber niemand wusste etwas von einer entflogenen Hand und der Dirigent, so las ich, würde schon am übernächsten Tag in Mailand wieder dirigieren. 

Für einen kurzen Augenblick zog ich in Erwägung, nach Mailand zu reisen, um der Sache auf den Grund zu gehen, aber dann verwarf ich die Idee, und fragte mich stattdessen, was mich im Grossen Saal des Musikvereins beim vierten Konzert erwarten würde. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass ich wohl noch nie so gespannt und aufmerksam in ein klassisches Konzert gegangen bin.

Umso unerklärlicher ist es mir, dass ich nicht mehr weiss, was gespielt wurde und wie der Dirigent hiess. Das Einzige, was ich noch mit Bestimmtheit sagen kann, ist, dass es ein schon etwas älterer Herr war, der beidhändig dirigierte und abrupte Bewegungen vermied. Und dass die Musik sehr melodiös war, ohne Crescendo mit Pauken und Trompeten.

Kurz vor Schluss muss ich eingedöst sein. Offenbar lange und tief genug, dass es zum Träumen reichte. Dass Konzert war zu Ende und das Publikum klatschte frenetisch Beifall, obwohl niemand Arme hatte, auch ich nicht. Nur meine Frau schien mindestens einen Arm zu haben, mit dem sie an meiner Schulter rüttelte. „Wach auf…“, sagte sie, und ich fragte sie: „Wie machen wir das?“    

Vorsicht beim Umblättern

3. Mai 2023

Eines schönen Sommermorgens sass ich auf dem Balkon des 14. Stockwerks eines Hochhauses in Ramat Gan mit Blick auf die Skyline von Tel Aviv, die immer mehr derjenigen von Manhattan zu gleichen beginnt, und las in einem Roman von Lars Gustafsson. Als ich das Kapitel zu Ende gelesen hatte, blätterte ich noch einmal zurück zum Titel („Der Hund aus Karbenning“) und wunderte mich: es war gar kein Hund im Kapitel vorgekommen. Oder hatte ich ihn überlesen? Ich las das Kapitel ein zweites Mal, aber da war kein Hund. Was war mit ihm passiert? Hatte er sich gleich nach dem Titel aus dem Staub gemacht?

Später ging ich spazieren und nahm das Buch in meinem Rucksack mit. Das Kapitel mit dem Hund in der Überschrift, in dem dann gar kein Hund vorkam, ging mir nicht aus dem Kopf. Es war nicht so, dass ich die ganze Zeit daran dachte, mein Hirn war ja andauernd mit all den real existierenden Menschen, Katzen Hunden und Dingen beschäftigt, denen ich auf meinem Spaziergang begegnete, aber der nicht im Kapitel vorkommende Hund kehrte immer wieder in mein Bewusstsein zurück. Es war, als würde er in der Nachbarschaft meiner Gedanken umherstreunen und mir dabei immer wieder über den Weg laufen.

Weshalb hatte der Autor den Hund im Titel erwähnt, das Kapitel dann aber gänzlich ohne ihn gestaltet? Es schien mir ein wenig so, als würde man seinem Hund das Halsband anziehen und vielleicht schon die Leine anschnallen und dann ohne ihn aus dem Haus gehen. Wollte Gustafsson, dass man sich als Leser durch sein Kapitel bewegt, seinen Gedanken folgt, und dabei darauf wartet, dass um die Ecke des nächsten Satzes ein Hund erscheint? Diente die Ankündigung des Hundes dem Zweck, eine Bereitschaft zu erzeugen, die Erwartung des Lesers auf etwas zu lenken, was dann nicht eintraf, um ihn etwas anderes, was währenddessen passierte, nicht bemerken zu lassen? Wäre es nicht seltsam, wenn ein Autor etwas schreiben würde, wovon er gleichzeitig ablenkte, damit es niemand bemerkt?

Ich las das kurze Kapitel ein drittes Mal und verdrängte den Hund dabei ganz aus meinen Gedanken, versuchte es jedenfalls, um ihn mir nicht einzubilden. Ich wusste ja, dass er nicht da sein würde. Aber ich konnte auch so nichts entdecken, was ich vorher in Erwartung des Hundes übersehen haben könnte. Da war nichts, was der Autor vielleicht an meinem Bewusstsein vorbei in die Geschichte schmuggeln wollte, damit es sich in meinem Unterbewusstsein einnisten und sich zu einem späteren Zeitpunkt bemerkbar machen würde. Jedenfalls fiel mir nichts auf. War ich also auf der falschen Fährte? Hatte er mich wie den Hund im Titel losgeschickt um nach etwas zu suchen, was gar nicht vorhanden war, wie wenn man einem Hund einen Stock wirft, ihn aber nicht loslässt, und der Hund rennt ihm trotzdem hinterher?

Mir kam ein Rabbiner in den Sinn, aus dessen Briefen einst ein Dichter die Anwesenheit einer Katze lesen konnte, während der Rabbi sie schrieb, ohne dass dieser die Katze auch nur mit einem Wort in einem seiner Briefe erwähnt hätte. Ich nahm mir vor, nach dem Gedicht zu suchen, sobald ich wieder zuhause war, und tat das auch, aber vergeblich. Ich dachte, vielleicht wäre es ein Gedicht von Krolow, aber im einzigen Gedichtband, den ich von Karl Krolow besitze, kommt lediglich ein Hund vor, der sich in einem Steinbruch verlaufen hat. Es konnte nicht meiner sein. Aber ich sagte mir: Wenn man die Anwesenheit einer Katze aus Schriftstücken erahnen konnte, in welchen sie nicht erwähnt wird, musste es auch möglich sein, dass ein Hund durch ein Kapitel streunt, ohne dass er darin vorkommt. Besonders dann, wenn ihn der Titel angekündigt hat.

Ich las das Kapitel ein weiteres Mal und nahm mir gleichzeitig vor, dass dies das letzte Mal sein würde. Ich wollte endlich weiterlesen im Buch. Ich wollte nicht noch weiter in dieses Kapitel, das mich jetzt schon über Gebühr beschäftigte, hineingezogen werden wie in einen gefährlichen Strudel, aus dem ich mich am Ende nicht mehr befreien und auf der Suche nach dem Hund selber verschwinden würde. In einem Steinbruch womöglich, bei glühender Sonne.

Ich las langsam und aufmerksam und schaute beim Lesen, das mir wie Spazieren vorkam,  zwischen die Zeilen, wie man in Seitengassen schaut. Am Ende jeder Zeile spähte ich vorsichtig um die Ecke, bevor ich zum Anfang der neuen Zeile sprang. Die wenigen Seiten, denn es war wie gesagt ein kurzes Kapitel, blätterte ich äusserst langsam und vorsichtig um, um den Hund nicht zu verscheuchen, aber er war nirgends zu sehen, und ich spürte ihn auch nicht. Ein einziges Mal meinte ich ein Bellen zu hören, aber es war nur das Husten eines Fussgängers, den ich erst bei der vierten Lektüre entdeckte. War er neu hier? Oder gab es tatsächlich Dinge, die ich mehrmals überlesen hatte? Was für ein stupides Wort: „Fussgänger“. Soll man etwa auf den Ellbogen gehen?

Ich beschloss, den Hund zurückzulassen, auch wenn mich der Gedanke im selben Augenblick betrübte, als ich den Entschluss fasste. Ihn hinter dem Titel winseln zu hören wie hinter einer verschlossenen Türe, schien mir grausam. Sollte ich sie einen Spalt offenlassen, damit er vielleicht in einem späteren Kapitel erscheinen könnte? Die Überschrift wäre dann eine frühe Ankündigung gewesen von etwas, was nicht unmittelbar, sondern erst später erscheint. Im Flughafen würde es an der Anzeigetafel hinter dem Herkunftsort grün blinken: verspätet.

Oder spielte der Autor ein Spiel mit seinen Lesern? Gab er seinen Kapiteln hin und wieder Titel, die gar nichts mit deren Inhalt zu tun hatten? „Der Körper des Himmels“ etwa, und dann ging es nur um die Seele der Erde? Oder „Nach dem nach Hause kommen“, dabei war im ganzen Kapitel niemand weggegangen und es war auch keiner unterwegs?

Tat er es, weil er es satt hatte, dass die meisten Leser den Überschriften nicht wirklich Beachtung schenken? Dass sie sie schon nach wenigen Zeilen vergessen haben und es deshalb überhaupt keine Rolle spielt, wie eine Überschrift lautet? Ich nahm mir vor, mir von nun an die Kapitelüberschriften zu merken und sie während dem Lesen der Kapitel stets im Kopf zu behalten. Wenn Gustafsson tatsächlich ein Spiel mit mir spielte, hatte er sich den Falschen ausgesucht. Ich würde den Hund finden, auch wenn, einmal abgesehen von der einen Kapitelüberschrift, vielleicht gar keiner vorkam in diesem verflixten Buch, das ich nun endlich zu Ende lesen wollte.   

Texte, die sich zum Lesen eignen, während man im Ofen Teigwaren aufwärmt  

22. April 2023

 

Wenn Charles Bukowski über Hollywood schreibt, so kann man es im Vorwort zu dessen 2019 neu aufgelegtem Roman Hollywood lesen, das ein gewisser Howard Sounes zu verfassen sich bemüssigt gefühlt hat, meine er damit üblicherweise nicht das Hollywood der Filmindustrie, sondern den als East Hollywood bekannten, schäbigen Wohndistrikt am unmodischen Ende des Sunset Boulevards, wo er mehrere Jahre gelebt habe. Nur im vorliegenden, 1989 zum ersten Mal erschienen Buch, dem fünften seiner sechs Romane, führt Sounes in seiner Einführung aus, gehe es Bukowski tatsächlich um die Filmindustrie.   

Ich bin als jemand, der in seinem Berufsleben oft und immer wieder einführende Worte für Darbietungen von Repräsentanten aller Künste zu sprechen hatte, kein Freund von Vorworten, auch nicht von Nachworten, wenn wir dabei sind. Ich finde beides lästig. Ein unnötiges und leidiges Hinauszögern das eine, ein ebenso mühsames wie überflüssiges Verlängern das andere, während der Weisswein und die Häppchen warten.    

Wenn Walter Haffner über Wien schreibt, so wird man es hoffentlich nie lesen (ich meine den Satz, in dem wir uns befinden, nicht, was ich allenfalls noch über Wien schreibe), meint er damit üblicherweise nicht das Wien der Konzertsäle, sondern den als 3. Bezirk bekannten 3. Bezirk, wo er nach seinem Transfer ins Privatleben mehrere Jahre mit seiner Frau und seinen zwei Hunden schrieb, zeichnete, malte und lebte.

Auch in seinem angeblich gleich nach dem vierten geschriebenen aber ebenso wie die ersten drei Romane (Die Trilogie des Verschwindens) nie veröffentlichten fünften Roman mit dem Titel Wien, sei es ihm nicht um das klassische Wien gegangen, sondern hauptsächlich um Personen, die sich in seinen Wiener Jahren in seinem Kopf aufgehalten haben und dringend raus mussten.  

Walter Haffner ist ein literarisches Phänomen. Er schreibt alle zwei bis drei Monate über irgendetwas, praktisch immer ohne gelesen zu werden, und die wenigen, die hin und wieder einen Text von ihm lesen, rufen ihm zu: „Vielleicht hättest Du das besser gemalt“, bevor sie wieder in ihren Alltag flüchten.  

Es lässt sich nicht alles malen, ruft er ihnen nach , als sie schon wieder weg sind, auch wenn er das eine oder andere Vor- oder Nachwort lieber gemalt auf dem Buchdeckel gehabt hätte. Nehmen wir als Beispiel die Suche nach Janet McCann, zu der ich gleich komme, und Ihr sagt mir dann am Ende, ob man das auch einfach hätte malen oder als Cartoon zeichnen können.

Schon ihren schmalen Gedichtband in meinem Büchergestell zu finden, war nicht ganz einfach. Fast hätte ich zuerst in meinen Kisten und Mappen gesucht, weil ich in Erinnerung hatte, dass ich ihren Gedichtband zusammen mit meinen Übersetzungen ihrer Gedichte aufbewahrte.

Dann schaute ich zum Glück doch zuerst in den Regalen mit meinen Gedichtbänden, denn die waren im Gegensatz zu meinen Mappen und Kisten im Stehen erreichbar. Ich wusste, dass ich nach einem schmalen Band suchte. Zuerst zog ich Godzilla Attacks a Truck von Louis Cuneo aus dem Regal.

Das dünne Heft, erschienen 1981 in einer Reihe von Publikationen, von denen der Verlag auf den hinteren Seiten gegen Einsendung von einem Dollar weitere anbietet, enthält ausgewählte Haikus in freier Versform aus den Jahren 1972-80 und hat nur 19 Seiten. Ich las das Heft (zum zweiten Mal, denke ich, obwohl ich ausser an den Titel keinerlei Erinnerung daran hatte), während ich im Ofen den Hörnchen Auflauf nach dem Rezept meines Schwiegersohns aufwärmte, den ich mir gestern gekocht hatte. Vielleicht erstelle ich eine Liste mit Texten, die sich zur Lektüre eignen, während man im Ofen Teigwaren aufwärmt.   

Ich weiss, dass man Haikus nicht kurz nacheinander lesen sollte, praktisch am Stück. Man sollte sie einzeln lesen und auf sich einwirken lasse, bis die Silben zu tanzen beginnen und sich nicht mehr zählen lassen. Hinten und vorne keine 5 und in der Mitte keine 7.

Aber ich konnte es noch nie lassen, mehrere Haikus nacheinander zu lesen, oft den ganzen Sack wie bei gerösteten Erdnüssen. Dazu kommt, dass die Haikus Last Trip To You eine Kurzgeschichte in Haikus sind, wie der Untertitel sagt, man sie also nacheinander lesen muss, bis Cuneo im Flugzeug über New York sitzt, während sein Vater kremiert wird.    

Aber verlassen wir New York, verlassen wir Cuneo und seine Haikus. Haikus sind, so erinnert Cuneo am Anfang des Hefts daran, gemäss Meister Basho ganz einfach das, was diesen Augenblick an diesem Ort geschieht. Was also geschieht hier, gerade jetzt? Und was wäre alles geschehen, wenn Haikus eine Vergangenheitsform hätten?

In den Sinn gekommen war mir Janet McCann, als ich heute Morgen anstatt zu malen in meinem Computer nach einem Text suchte, an dem ich weiterschreiben wollte, und dabei unversehens in die Rubrik Übersetzungen geriet, wo auch das halbe Dutzend Gedichte von ihr abgelegt ist, die ich vor bald drei Jahrzehnten übersetzt habe.

Bevor ich mich auf die Suche nach ihrem Gedichtband machte, wollte ich nachschauen, ob sie noch lebt. Nicht, dass ihre Gedichte mit ihrem Tod etwas verloren hätten – Gedichte sind Konserven, sie halten sich ohne Autor ausgezeichnet – aber ich wollte es wissen, bevor ich sie wieder las. Zuletzt waren mir eine ganze Anzahl von Menschen, die oder deren Werk ich schätzte, einfach weggestorben, als ich ein paar Jahrzehnte nicht hinschaute.

Eine Google-Suche ergab innerhalb von Sekundenbruchteilen, dass Janet Mary McCann im Alter von 68 Jahren am 19. Dezember 2021 in Sioux Falls, South Dakota gestorben war. Sie diente in der US Army, arbeitete danach in einem Pflegeheim und liebte Katzen und Surfen im Internet. Sie wurde überlebt von ihrem Vater und ihren Geschwistern. Ihre Mutter und mehrere Katzen gingen ihr im Tod voraus. Kein Wort von Gedichten.

Sieben Monate später starb am 29. Juli 2022 Janet “Janice” McCann. Sie hatte mit ihrem ersten Mann Don fünf Kinder, zehn Grosskinder und neun Urgrosskinder und sie malte. Nach Dons Tod heiratete sie wieder und hatte mit ihrem zweiten Mann noch einmal fünf Kinder, die ihr elf Grosskinder und zweiundzwanzig Urgrosskinder schenkten, die sie überlebten. Die Liste der ihr im Tod Vorausgegangenen ist lang.  

Als ich runterscrollte und sah, wie viele Nachrufe auf Janet McCann es gab, beschloss ich, anstatt sie mir alle anzuschauen, samt Hinterbliebenen und vorausgegangen Katzen, was Stunden gedauert hätte und mir zudem voyeuristisch oder pietätlos vorgekommen wäre, dass sie noch am Leben sei.  

Beim Blättern in Looking for Buddha in the Barbed -Wire Garden fiel mir ein, dass ich Janet McCann schon einmal in meinem Blog erwähnt hatte. Ich ging nachschauen und fand, dass es mehr als 12 Jahre her ist. Der Beitrag hiess Ein Gedicht mit Vierzehn Jahren Verspätung.  

Meine Frau hat mich neulich darauf aufmerksam gemacht, dass ich zuletzt oft über mein lange zurückliegendes Leben in den USA geschrieben habe. Sie hat Recht damit. Nur, in diesem Fall konnte ich es nicht kontrollieren.

Als ich das Gedicht von Janet McCann am 10. Januar 2010 in den Blog stellte, war es mir noch so vorgekommen, als sei es wie ein Pottwal aus den Tiefen des Speichers meines Computers aufgetaucht. Jetzt bin ich mir sicher, dass es ein Pottwal ist. Er taucht alle zwölf bis vierzehn Jahre auf. Cuneo hat ihn mir heute angekündigt, während der Hörnchen Auflauf im Ofen war:

Falling asleep / while watching a / whale documentary

Die Schönheit der Berge zu verschiedenen Jahreszeiten

17. April 2023

(Der Titel ist aus Wolfgang Hildesheimers «Bildnis eines Dichters» ausgeliehen. Ich habe vor, ihn ihm bei der nächsten Begegnung zurückzugeben.)

Irgendwann zwischen 1994 und 1998 habe ich einen Schriftsteller und Theaterautor von Washington D.C. zu einer Universität in Virginia gefahren, wo er für eine Lesung erwartet wurde. Ich gehe davon aus, dass wir auch dort angekommen sind und er seine Lesung gehalten hat, aber ich mag mich weder an die Universität, noch an die Lesung oder die Rückfahrt erinnern. Es kann sein, dass ich nicht für die Lesung geblieben und am selben Tag noch nach Washington zurückgefahren bin. Die Fahrt dauert ungefähr 4 Stunden, es wäre also möglich gewesen. Etwas ungewöhnlich zwar für einen Kulturattaché, einen Autor so weit zu fahren und dann nicht für die Lesung zu bleiben, aber möglich. Ich traue mir das so, wie ich damals war, durchaus zu.   

Normalerweise hätte meine Mitarbeiterin in der Kultursektion der Botschaft den Autor auf seiner Lesetour begleitet, aber aus irgendeinem Grund, an den ich mich nicht mehr erinnere, habe ich seine Begleitung selber übernommen. Ich würde nun gerne schreiben, dass ich es tat, weil ich spürte oder zumindest hoffte, dass sich auf der langen Fahrt interessante Gespräche ergeben würden, über das Schreiben langer Texte zum Beispiel, aber das kann ich nicht.

Wahrscheinlicher ist, dass meine Mitarbeiterin, die sonst alles erledigte, wodurch sich meine Arbeit auf Begrüssungen und Verabschiedungen reduzierte, in den Ferien weilte oder andersweit verhindert war.  Jedenfalls hat die Fahrt genau das gebracht: eine sehr spannende Unterhaltung, von der mir vor allem seine Aussagen über das Schreiben langer Texte im Gedächtnis geblieben sind, denn ich war damals überzeugt, in mir stecke ein Schriftsteller, den das Schicksal mit seiner ganzen Hinterhältigkeit  in die Rolle eines Kulturvermittlers gezwängt hatte.    

Unterdessen ist ein Vierteljahrhundert vergangen. Als ich mich vor etwa zwei Jahren ohne erkennbaren Anlass an unsere Unterhaltung auf der langen Fahrt durch herbstliche Wälder erinnerte, fiel mir ausser seinem Vornamen (Peter?) zunächst gar nichts mehr zu seiner Person ein, weder der Familienname (etwas mit einem «o»?) noch der genaue Titel eines seiner Theaterstücke oder seines ersten Buches, das ich vor einigen Jahren schon einmal gesucht und als vergriffen gefunden hatte.  Das ist nicht viel, um jemanden zu finden, aber ich habe es schliesslich nach einigen (zum Teil unterhaltsamen) Umwegen geschafft, nur um traurig festzustellen, dass er vor fünf Jahren gestorben war. Aber fangen wir hinten an.

Wenn man altershalber aus dem Berufsleben ausscheidet, geht es darum, möglichst rasch etwas zu finden, was man tun könnte, wenn man nichts mehr tun muss. Die erste Schwierigkeit, die sich dabei ergibt, ist die, dass man altershalber nicht ausscheidet, sondern ausgeschieden wird – ein Vorgang, vor dessen passiver Natur man auf der Hut sein sollte. Allzu leicht prägt er sonst nicht nur den Übergang in ein Leben ohne Beruf, sondern dieses schlechthin, und ehe man es sich versieht, passiert einem eines nach dem anderen, und man stellt fest: Man hat das Heft, das man vorher vermeintlich festgehalten und fleissig beschrieben hatte, für den Rest seiner Zeit, wie kurz oder lang sie auch sei,  aus den Händen gegeben.  

Nun gehöre ich nicht zu den Leuten, die sich andauernd alles vergegenwärtigen müssen, denn meine Gegenwart ist schon dermassen mit allem Möglichen und Unmöglichen zugestellt, dass im kleinen Vorgarten zur Strasse hin, die aus der Vergangenheit an ihr vorbei in die Zukunft führt, permanent ein Schild mit der Aufschrift «Voll belegt!» stehen müsste. Trotzdem kann es hilfreich sein, wenn man sich das eine oder andere vorzustellen versucht, bevor es eintrifft. Was also werde ich tun, wenn ich eines nicht mehr fernen Tages aus dem Berufsleben ausgeschieden worden sein werde?

Die Vorstellung, dass man von seinem Beruf als Perle ausgeschieden wird, wäre natürlich nicht nur schmeichelhaft, sie würde auch die Beantwortung der Frage wesentlich erleichtern, was danach zu tun sei. Als Perle wäre auch nichts tun durchaus eine Option. Planloses vor sich hin glänzen und dafür auch noch bewundert werden.

Leider kann ich dieses schöne Bild für mich nicht in Anspruch nehmen. Perlen sollen bekanntlich in der Natur durch eine Abwehrreaktion einer Muschel entstehen, die zur Perlmuschel wird, indem sie einen Eindringling (zum Beispiel ein Sandkorn), den sie zuerst erfolglos wieder hinaus ins Meer zu befördern versuchte, mit Perlmutt umgibt und ihn dadurch isoliert und für sich unschädlich macht.

Ich bin, mag der Vergleich mit dem Sandkorn noch passend sein, in die Muschel, die mich (und meine Kinder) nun 35 Jahre ernährt hat, nicht eingedrungen, sondern von ihr mittels eines aufwendigen Concours rekrutiert worden, und sie hat mich auch nicht mit Perlmutt beschichtet, sondern mit Weisungen und administrativen Erlassen, Kontrollmechanismen und Zielvereinbarungen ein- und zugedeckt und damit unschädlich gemacht, denn wer weiss, was ich alles hätte anstellen können, wenn man mich und meine Arbeitskolleginnen und Kollegen nicht dazu angehalten hätte, uns konstant mit uns selber zu beschäftigen.

Das mit der Perle wird also nichts und ich muss mir etwas anderes einfallen lassen für die Zeit danach. Ich träume zum Beispiel immer noch davon, auch tagsüber, einen Roman zu schreiben. Ich habe mir vor einigen Jahren sogar ein Buch gekauft, in dem erklärt wird, Schritt für Schritt, wie man einen langen Text, im Gegensatz zu einem kurzen, schreibt.  Es hat mir aber nicht viel geholfen. Alles, was ich bis heute fertigbringe, sind kurze Texte.

Kurze Texte sind, ausser dass sie kurz und damit schnell vorüber sind, keine schlechte Sache. Vor allem sind sie einfach zu schreiben. Man beginnt am Anfang, schreibt etwas in die Mitte und ehe man es sich versieht, ist man am Ende angelangt und der Abspann läuft bei guter Musik. Manchmal werden noch die Zeilen nachgeliefert, die man geschrieben aber nicht verwendet hat, und man kann daraus mit etwas Geschick ein hübsches Gedicht machen.

Wolfgang Hildesheimer hat mit kurzen Texten begonnen. Wir teilen uns die Initialen, und ich frage mich, ob sie ihm seine Mutter auch auf die Unterhemden gestickt hat, damit er nach dem Schulturnen das richtige Unterhemd anzog, weil damals alle dieselben weissen Unterhemden trugen.  Auch Richard Brautigan hat mit Kurzprosa begonnen, und wenn ich jetzt sämtliche Schriftsteller aufzählen würde, die, bevor ihnen endlich ein Roman gelang, kurze Texte geschrieben und veröffentlicht haben, würde dieser Text vom Umfang her ein ziemlich langer Roman werden.

Der Theaterautor, den ich damals durch den Indian Summer von Washington nach Richmond chauffierte, es fiel mir später wieder ein, hiess Peter Adrian Cohen. Er war mir sehr sympathisch und erzählte mir, während wir durch den Shenandoah National Park nach Süden fuhren, dass er einst als gut bezahlter Mitarbeiter einer PR-Firma um die halbe Welt gereist und dabei immer in den besten Hotels abgestiegen war, bevor er und seine Frau beschlossen, als sie um die vierzig waren, bescheiden zu leben, um ihm seinen Traum zu ermöglichen: Theaterstücke schreiben.

Er erzählte mir auch, dass er fast verzweifelt sei, weil es ihm nicht gelang, ein Theaterstück oder einen Roman, kurz: einen längeren Text zu schreiben. Bis ihm jemand erklärt habe, dass das Vorgehen, die Schreibtechnik, eine völlig andere sei. Man könne nicht Sprint trainieren und dann meinen, man könne einen Marathon rennen.

Ich weiss nicht mehr, ob er mir die Technik erklärt hat, die für ihn zum Erfolg führte. Das Einzige, woran ich mich erinnere, ist, dass er Beispiele erwähnt hat. Ein berühmter Schweizer Autor soll sich jeweils kleine Figuren auf einer Bühne auf seinen Schreibtisch gestellt haben. Ein anderer soll für jede seiner Figuren einen Eigenschaftskatalog angelegt haben.

Ich habe während meiner Zeit in Washington keinen Roman geschrieben, auch danach bis heute nicht. Aber einen Marathon habe ich 1996 beendet, obwohl ich nie ein Sprinter war und am Ende mehr ging als rannte.     

Ich denke die wenigsten von denen, die schliesslich einen Roman geschrieben haben, wussten, bevor sie damit begannen, wie man einen Roman schreibt. Die meisten begannen einfach und wussten es auch während dem Schreiben nicht. Merkten erst gegen Ende, dass der Text viel zu lange geworden ist für einen Kurzgeschichte.

Die Ehrlichen unter ihnen würden vielleicht zugeben, wenn man sie fragten würde, dass sie, nachdem sie ihren Roman beendet hatten, noch immer nicht wussten, wie man einen Roman schreibt. Für solche, die mehrere Romane vorlegen können, ist es möglicherweise wie mit dem Treppensteigen: der Vorgang ist für den Körper so komplex, dass man während dem Steigen besser nicht darüber nachdenkt und danach nicht beschreiben kann, wie man es gemacht hat.    

Die Appalachen, durch die ich Peter Adrian Cohen damals zu seiner Lesung fuhr, gelten hinsichtlich ihrer Höhe als Mittelgebirge. Sie waren für die Einwanderer das erste Hindernis, das sie auf ihrem Weg nach Westen zu überqueren hatten.  Ausser sie blieben im Osten und nahmen sich vor, Romane zu schreiben.  

All das Reden

1. April 2023

“Wie geht es dem Pferd?”

Es waren seine ersten Worte, als er nach einem halben Jahr aus dem Koma erwachte, und lange Zeit sah es so aus, als ob es auch seine letzten sein würden, was sie am Ende auch sein sollten, aber das konnte man nicht wissen, denn gleich danach war er wieder weg und es würde drei lange Jahre dauern, bis er zum zweiten Mal aufwachen sollte.

Michal weinte. Sie war in seinem Krankenzimmer, als er für einen kurzen Augenblick aufwachte und sich nach dem Pferd erkundigte. Es war kein Zufall, dass sie da war. Sie war seit seinem Unfall jeden Tag nach der Arbeit direkt ins Spital gekommen und an sein Bett gesessen, stundenlang, und hatte mit ihm geredet. Nicht mit ihm, natürlich, denn er antwortete ja nicht, aber zu ihm. Sie sass an seinem Bett, hielt seine Hand und redete. Sie hatte Hable con ella von Pedro Almodóvar gesehen. Benigno spricht da auch andauernd mit Alicia. Nur Sex wollte sie nicht mit ihm haben. Das ging zu weit. Dafür müsste er zuerst einmal aufwachen.

Der junge Assistenzarzt, den sie gefragt hatte, meinte, es sei nicht völlig auszuschliessen, dass er sie hören könne. Nicht völlig auszuschliessen – sie sah ihm an, dass er vom Gegenteil überzeugt war, und dass er sie für eine Vollidiotin hielt, so etwas überhaupt zu fragen. Egal, dachte Michal. Er konnte denken, was er wollte, dieser geschniegelte Geck. Sie würde weiter zu ihm sprechen, bis er aufwachte. Dann würde man ja sehen, ob er sie gehört hatte, oder ob all das Reden umsonst war. Wobei reden nie umsonst war. Davon war sie überzeugt.  

“Gestern war ich bei Gal”, hatte sie ihm am Tag, bevor er kurz erwachte, erzählt. Ihre Schwester Gal wohnte mit ihrem Mann Yalon, ihrem Sohn Gadi, der gerade seinen Militärdienst bei einer Spezialeinheit leistete, und ihrem Wisla in Even Yehuda. Das wusste er natürlich, aber sie erklärte es ihm noch einmal, denn vielleicht hatte er durch den Sturz auf den Kopf ja das eine oder andere vergessen. “Du weisst doch, sie gehen einmal pro Monat mit den fünf Schwestern ihres Wisla und deren Besitzern ans Meer. Was für ein Schauspiel, die Hunde in den Uferwellen springen zu sehen. Sie springen unheimlich hoch.“

Der Wisla ihrer Schwester hatte vor einem Jahr einen Preis gewonnen. Irgendeine Dressur oder so. Agility hiess das, oder ähnlich. Jedenfalls hatte der Wisla ihrer Schwester gewonnen. Er war nun israelischer Meister. „Ach ja, und der Hund ihres Bruders ist gestorben. Hast Du den überhaupt je gesehen? Doch, natürlich, Du hast ihn gesehen. Der mit dem weissen Auge.“ Und falls Du jetzt gefragt hättest, wie alt er war: er war zwölf. Zwölf ist ein hohes Alter für grosse Hunde. Während kleine 15, 18 oder auch mal 20 Jahre leben können. Falls wir uns einen Hund nehmen, wenn Du wieder wach bist, meine ich, will ich einen kleinen. Es ist ganz schlimm, wenn einem der Hund stirbt. Man muss das so lange wie möglich hinauszögern. Findest Du nicht auch? Willst Du einen Hund?“

Natürlich war ihr klar, dass ihn wahrscheinlich höchstens die Hälfte von dem, was sie ihm erzählte, wirklich interessierte. Wenn überhaupt. Der Hund vielleicht. Aber sonst? Männer waren ja auch wenn sie wach waren nicht wirklich an vielem interessiert. Wenigstens nicht an den Dingen des Alltags. Der Sohn der Nachbarin ist von der Schule geflogen? – Was geht mich das an? Männer wollten auch nicht dauernd reden, informiert oder in ein Gespräch verwickelt werden. Sie wollten lieber ihre Ruhe und sie liebten es, wenn es einfach still war. Was war schön daran, wenn es still war? Und warum hatte man eine Partnerin, wenn man nicht mit ihr reden wollte? Einmal hatte sie gehört, wie ein Pfleger unter der offenen Tür zum anderen sagte: „Der arme Kerl. Er kann nicht einmal davonlaufen. Er ist ihr völlig ausgeliefert.“ Sie wünschte ihnen nichts Böses, aber vielleicht würden sie anders denken, wenn sie selber im Koma lägen.

In den ersten Tagen seines Komas hatte sie ihm viel von zuhause erzählt. „Ich musste die Orchideen wegwerfen. Alle sechs. Sie sind vertrocknet. Obwohl ich ihnen regelmässig Wasser gegeben habe. Hast Du gesehen, wie sie ihre Luftwurzeln nach allen Seiten ausstrecken?“ Natürlich hatte er es nicht gesehen. Die Orchideen standen auf dem Glastisch hinter dem Sofa, direkt am Fenster, und wenn er auf dem Sofa sass, schaute er in die andere Richtung, wo im Fernsehen irgendein Sportanlass übertragen wurde.  Langlauf, Biathlon, Eishockey, Fussball, Baseball, American Football – was auch immer, bloss keine Dokumentarfilme und schon gar keine Nachrichtensendungen, höchstens einmal ein Spielfilm, den er dann bei der dritten Werbeunterbrechung abbrach.  

Sie hätte jetzt gemein sein können zu ihm, und ihm einen Fernseher ins Zimmer stellen lassen, auf dem den ganzen Tag Nachrichten aus aller Welt liefen. Die 126. Schiesserei an einer amerikanischen Schule. Ein israelischer Schulabwart, der 15 Jahre im Gefängnis verbrachte für einen Mord an einem kleinen Mädchen, den er nicht begangen hatte. Und zwischen den Nachrichten Dokumentarfilme, bei denen – ganz egal, worum es ging – die stets gleiche, sonore Stimme den Raum füllte. Dieser weise, ältere Mann, der alles allen erklärte. Kurz vor seinem Unfall hatte sie sich eine Dokumentation über Hitlers Sexleben angeschaut. „Das Mädchen war gerade 18 Jahre alt, als Hitler sie zum ersten Mal sah*, sagte die sonore Stimme. „Sie stand auf einer Leiter, als Hitler die Buchhandlung betrat.“  

Er hatte es auf dem Weg zur Küche gehört und sich darüber lustig gemacht. „Woher will er das wissen, verflucht nochmal? Und findest Du es nicht auch verdächtig, dass er uns gerade erst erklärt hat, es ist keine Stunde her, warum die Berglöwin Zita mit ihrem letzten Wurf in ihr angestammtes Revier zurückgekehrt ist, obwohl dort unterdessen eine Rivalin mit ihren Kindern lebte?“  Sie sagte nichts. „Die haben offensichtlich bei der deutschen Synchronisierungsfirma nur einen einzigen Typen, der Dokus macht. Er geht mir fürchterlich auf den Sack. Ich hoffe, er steht nie an der Kasse im Billa vor mir und erzählt seinem Grosskind die Geschichte des Einkaufswagens. Ich müsste mich schwer beherrschen, ihm keine reinzuhauen.“ Michal hatte nur gelacht. Er und jemandem eine reinhauen. Gerade er. Sie liebte Dokumentarfilme, vor allem über den 2. Weltkrieg. Und es störte sie nicht, dass die Stimme des Erzählers stets dieselbe war. Dier Sportreporter tönten auch alle gleich.

 „Es tut mir leid, dass ich gestern Abend nicht gekommen bin“, sagte sie an einem Abend im Februar zu ihm. „Ich bin gleich nach der Arbeit ins Warenhaus und habe uns einen Luftbefeuchter gekauft. Vielleicht nehmen Orchideen ja die Feuchtigkeit mit ihren Luftwurzeln auf und sie sind wegen der trockenen Luft abgestorben. Wegen der Heizung, Du weisst schon. Er steht in der Mitte des Wohnzimmers, damit er die Luft in alle Richtungen befeuchten kann, und da wird er bleiben, bis Du nachhause kommst und darüber stolperst. Nein, keine Angst, natürlich stelle ich ihn an die Wand, bevor Du nachhause kommst.“  

„Vielleicht ist er dann aber auch schon wieder weg. Ich bin mir nicht sicher, ob er richtig funktioniert. Als ich ihn einschaltete, gab er die Luftfeuchtigkeit mit 36% an. Wie kann ein Gerät in einer Sekunde die Luftfeuchtigkeit so genau bestimmen? Und nach einer Viertelstunde, weisst Du, was er da behauptet hat? Die Luftfeuchtigkeit betrage jetzt 34%. Ist es zu glauben? Ist das Gerät bereits defekt oder habe ich vielleicht aus Versehen einen Trockner gekauft? Ich geb ihm jetzt ein paar Tage, und sonst bring ich ihn dann zurück. Es ist eine zweijährige Garantie drauf und ich habe die Rechnung behalten.“

Ernesto war im März 2023 bei einer Demokratie-Demonstration beim Hashalom Bahnhof in Tel Aviv von einem berittenen Polizisten überrannt worden. Überrannt ist zuviel gesagt, aber so nannten sie es in den Nachrichten, weil es brutaler klingt. Das Pferd kippte, von der aufgewühlten Menge bedrängt, mit seinem Reiter langsam, fast in Zeitlupe, zur Seite und fiel auf Ernesto, der mit dem Kopf auf dem Randstein aufschlug.

Michal hatte ein schlechtes Gewissen. Sie hatte ihn überredet, mit ihm an die Demonstration zu gehen. „Was soll ich da?“ hatte er geantwortet. „Mein ganzes Leben habe ich nicht an einer einzigen Demonstration teilgenommen. Warum sollte ich jetzt noch damit anfangen?“ „Komm, sei kein Spielverderber, nur dieses eine Mal!“ hatte sie ihn gedrängt. „Du kannst nicht immer alles verpassen.“ Obwohl sie wusste, dass er das ohne weiteres konnte.

Schliesslich hatte er nachgegeben, und als sie auf dem Weg zum Bahnhof auf der Brücke standen und unten auf dem Highway zum ersten mal eine Staffle berittener Polizei sahen, war er beeindruckt.

„Was für kraftvolle, elegante Tiere“ sagte er zu ihr. „Mir tun sie nur immer leid, wenn sie so eingesetzt werden.“  Und dann dies.

Und damit nicht genug. Den ganzen Abend zeigten sie auf allen Nachrichtenkanälen die gleiche Sequenz, von einem Demonstranten auf seinem Handy gefilmt, wie ein älterer Mann unter einem umstürzenden Polizeipferd begraben wird, in einer Endlosschlaufe. Er, der Nachrichten hasste, war nun landesweit die Nachricht des Abends. Das Einzige, was fehlte, war, dass eine sonore Stimme das Ereignis kommentiert hätte.  

Als Ernesto Torrini am 28. August 2026 das zweite Mal erwachte, war Michal nicht im Krankenzimmer. Netanyahu stand gerade vor Gericht, der Likud hatte sich gespalten, Iran bestritt auf’s Heftigste, einen unterirdischen Atombombentest durchgeführt zu haben, die Schweiz diskutierte die Auslegung ihrer Neutralität und die Russen versuchten gerade, die 2024 verlorene Krim zurückzuerobern.

Ernestos Kinder aus erster Ehe, Toni und Arlette, sassen  an seinem Bett, überglücklich, ihren Vater, der dreieinhalb Jahre als vermisst gegolten hatte, zurückzuerhalten. Sie waren unverzüglich aus der Schweiz angereist, nachdem das Spital sie benachrichtigt hatte. Es hatte sich durch eine Verkettung von für Michal unglücklichen administrativen Abläufen herausgestellt, wer Ernesto war und dass sie ihn gar nicht kannte, jedenfalls hatte sie nie mit ihm zusammengewohnt. Sie hatte sich spontan als seine Frau ausgegeben und war nach dem Unfall mit in die Ambulanz gestiegen. Nachdem alles herausgekommen war, durfte sie ihn nicht mehr besuchen.

Ernesto erholte sich nie mehr richtig. Er sass im Rollstuhl und das Sprechvermögen erlangte er nicht mehr. Jedenfalls sprach er nicht. Es war unklar, was er noch wusste, und was nicht, woran er sich erinnerte und woran nicht. Schriftlich kommunizierte er sehr knapp, meist einsilbig, auf einem kleinen Block, den er stets auf seinem Schoss hatte.

„Durst“

„Toilette“

*Rücken kratzen“

Auf Fragen, mündlich oder schriftlich, reagierte er nicht. Nur ein einziges Mal, als die Frau von der Spitex, die sich tagsüber um ihn kümmerte, ihn eines Abends, bevor sie ging, fragte, ob er noch etwas brauche, schrieb er auf seinen Block das Wort „Orchideen“.

Enenen

18. Juni 2022

(der Fall Paul K.)

Wer für einen Moment vergessen hat, wann die Berliner Mauer gefallen ist, oder lediglich nicht mehr ganz sicher ist, ob es wirklich im Jahre 1989 war (Oktober oder Herbst?), und nichts Falsches behaupten möchte, dem macht es Google leicht. Er muss nur «Fall der» ins Suchfeld eintippen, und schon erscheint ohne Knopfdruck die «Berliner Mauer». Gibt man hingegen «Der Fall» ein, kommt von Collini über Jesus ein ganzer Rattenschwanz von Fällen, nur auf den Fall der Evelyne B. wartet man vergeblich, denn es ist nur der zweite Teil des Titels eines Romans von Ernst Augustin (Raumlicht), wo in den Träumen des Ich-Erzählers, der in München nicht auffallen möchte, Afghanistan immer im Regen liegt. 

Raumlicht war nicht das erste Buch von Ernst Agustin, das ich gelesen habe (das erste war Der Amerikanische Traum), es war auch nicht das zweite, aber ich habe es gelesen, weil ich noch heute  lieber nach dem ersten noch ein zweites oder drittes Buch eines Autoren lese, als neben dem ersten seine Biografie. Ich bin bei meiner gegenüber meinen Deutschlehrern verteidigten Ansicht geblieben, dass ein Buch les- und geniessbar sein muss, ohne dass man etwas über das Autorenkollektiv weiss, das damals in einer Wohngemeinschaft in Ostberlin lebte, bis Paul K. (den alle nur Roddy nannten) die Flucht in den Westen gelang, womit das Kollektiv zu existieren aufhörte und die anderen Mitglieder bald darauf die Räume der WG verlassen mussten, weil sie ohne Roddys Beitrag die Miete nicht mehr bezahlen konnten. 

Muss ich wirklich wissen, wer im Ostberliner Autorenkollektiv gerade mit wem geschlafen und sich (deswegen, wirklich deswegen, Leute?) mit wem überworfen hat, während einer der fünf Romane entstand, die sie gemeinsam geschrieben haben? Muss ich die Geschichte des getrennten Berlins kennen, die Geschichte des Kalten Krieges und wie er im November 1989 endete, bis man im Februar 2022 überrascht feststellen musste, dass er damals gar nicht zu Ende gegangen war, sondern im Verborgenen fast 33 Jahre lang fortgedauert hatte, um danach wieder ungehemmt und wild lodernd auszubrechen, als wäre es gar kein kalter Krieg gewesen, sondern ein Brand, der unbemerkt vor sich hin gemottet hat?  

Paul K. ist nach seiner Flucht in den Westen nicht mehr viel gelungen. Durch seine Flucht interessanter geworden, als er zuvor war, tingelte er noch ein paar Jahre durch die literarischen Talk-Shows und es gibt ein undatiertes Bild von ihm, wie er neben Wolf Biermann in einem Salon im Berliner Ortsteil Moabit auf dem Friseurstuhl sitzt und sich den Backenbart stutzen lässt, aber geschrieben hat er nach seiner Flucht nichts mehr, jedenfalls nichts, was veröffentlicht worden wäre, oder wenn, dann von einem Kleinverlag, dessen Restbestände noch ein paar Jahre in einem Berliner Antiquariat zu besichtigen waren, in welchem die «Furie des Verschwindens» in einem Gedichtband von Enzensberger auf dem Regal wartete, bis ihr, der am Ende alles zufällt,  auch das Antiquariat zufiel.  

Ganz bestimmt wird einmal jemand der Frage nachgehen, ob Paul K. nicht mehr schrieb (jedenfalls nichts mehr, was veröffentlicht wurde), weil er zum Schreiben zwingendermassen das in Ostberlin zurückgelassene Kollektiv gebraucht hätte, oder ob es vielleicht damit zu tun haben könnte, dass ihn in Westberlin niemand mehr Roddy nannte. Wie dem auch sei: Er hat nach seiner Flucht nichts mehr geschrieben und soll – Ironie des Schicksals – zuletzt von der Sozialhilfe gelebt haben, nachdem er seinen Job als Ausläufer verloren hatte und die Miete für seine Zweizimmerwohnung in Berlin Lichtenberg, die er alleine bewohnte, nicht mehr bezahlen konnte.

Zwei Monate bevor er im Alter von 73 Jahren im Bundeswehr Krankenhaus an einer verschleppten Lungenentzündung starb, soll er verzweifelt versucht haben, nach Ostberlin zurückzukehren. Er konnte ohne die Mauer nicht glauben, dass er bereits in Ostberlin war.  

Soviel zum Fall Paul K.  An den Fall Jesus wage ich mich hier nicht. Die Recherchen würden zu lange dauern, ausser man beschränkt sich auf den gleichnamigen Film aus dem Jahr 2017, der wesentlich weniger lange zurückliegt. Beim Fall Collini geht es um einen deutschen Politthriller aus dem Jahr 2019, eine Verfilmung des 2011 erschienenen Romans Der Fall Collini von Ferdinand von Schirach, der vor seiner Karriere als Schriftsteller in Berlin als Strafverteidiger wirkte, und dessen Grossvater, Baldur von Schirach, zwischen 1940 und 1945 Hitlers Gauleiter und Reichsstatthalter in Wien war und als solcher verantwortlich für die Deportation von 185’000 österreichischen Juden.

Die gelb unterlegte Bemerkung «Dieser Artikel ist älter als ein Jahr», die einem beim Lesen des Artikels über Ferdinand von Schirachs Verhältnis zu seinem Grossvater auf der orf.AT Webpage ins Auge springt, mutet etwas seltsam an. Was ist damit gemeint? Dass der Artikel verjährt ist? Dass die im Artikel gemachten Aussagen vielleicht unterdessen nicht mehr stimmen? Oder ist es eine Warnung, dass der Artikel nur noch kurze Zeit auf der Webpage sein wird, weil er bereits ein Jahr lang aufgeschaltet war, und alles, was nach anderthalb Jahren nicht mehr genügend Hits pro Monat erhält, wird automatisch gelöscht? 

Das wäre schade. Ferdinand von Schirachs Distanzierung von seinem Grossvater Baldur, auf die der Artikel verweist, ist überzeugend und sollte nicht verjähren. Der Artikel zeigt aber letzten Endes auch, wie alles zusammenhängt: der Fall der Mauer mit dem Fall Collini, die von Schirachs mit Berlin, wo Paul K. zuerst im Ost- und dann im Westteil der Stadt gelebt hat, um am Ende in Ostberlin zu sterben, ohne es zu merken, und Berlin mit Wien, wo ich sitze und schreibe.  

PS: Enenen ist kein Name. Es ist auch kein Wort, sondern eine Endung, die man in Worten wie erschienenen finden kann. Beim Durchlesen dieses Textes bin ich über die Endung gestolpert und habe zunächst gemeint, da wäre ein «en» zu viel, bis ich – kurz davor, es aus dem Wort zu streichen – begriff, dass sich das erste «en» in einem «ien» versteckt, und da fand ich, doch, das ist einen Titel wert.

Die Überquerung des Pazifiks in einem Zug aus Balsaholz  

16. Juni 2022

(über die Schwierigkeit, ausgeliehene Bücher zurückzugeben)  

Ich wurde in der Vergangenheit ab und zu von Leuten, die ich kaum oder gar nicht kannte, auf Bücher angesprochen, die ich ihnen ausgeliehen hätte, meist im Zug, und während ich in einem Buch las, das ich gerade niemandem ausgeliehen hatte.  

„Sie haben mir vor vielen Jahren“, richtete zum Beispiel einmal ein älterer Herr irgendwo zwischen Aarau und Olten unvermittelt sein heiseres Wort an mich, nachdem er mir seit Zürich schweigend gegenübergesessen hatte, „Als wär’s ein Stück von mir von Carl Zuckmayer ausgeliehen. Ich habe es nun endlich fertiggelesen und möchte es Ihnen zurückgeben, habe es aber nicht bei mir.“

„Kennen wir uns?“ fragte ich.  Aber anstatt zu antworten, fuhr er fort: „Wenn Sie morgen wieder denselben Zug nehmen, kann ich Ihnen das Buch mitbringen.“

„Ich weiss nicht, ob ich morgen wieder Zug fahren werde,“ sagte ich, obwohl ich wusste, dass ich am nächsten Tag wieder im selben Zug unterwegs sein würde, „und ich glaube, hier liegt eine Verwechslung vor. Ich kenne Sie nicht und ich habe niemandem ein Buch von Carl Zuckmayer ausgeliehen.“

Der alte Mann reagierte nicht.

„Das von Ihnen erwähnte Buch stand zwar in der Bibliothek meines Vaters“, fuhr ich fort, „aber ich habe es nie gelesen, obwohl mich der Titel als Jüngling beeindruckt hat. Es stand, wenn ich mich richtig erinnere, zwischen Stefan Zweigs Die Welt von gestern und Heinrich Manns Ein Zeitalter wird besichtigt, aber ich weiss nicht einmal, wo das Buch jetzt ist. Vielleicht in meiner Bibliothek in Wien, vielleicht aber auch in meinem Lager in Bülach. Ich hoffe, ich habe es nicht bei einem meiner zahlreichen Umzüge weggegeben. Ausgeliehen habe ich es auf jeden Fall nicht.“

„Vielleicht war es auch Die Welt von gestern, die Sie mir ausgeliehen haben“, sagte der alte Mann.  „Ich kann Ihnen morgen gerne beide Bücher zurückbringen, wenn Sie wollen, aber ich müsste wissen, in welchem Zug ich Sie antreffen kann.“

„Auch die Welt von gestern habe ich Ihnen nicht ausgeliehen,“ antwortete ich mit einem Seitenblick auf die Sitznachbarin des alten Manns, eine jüngere Frau mit wallenden Locken und Hornbrille, die unserer Unterhaltung ganz offensichtlich folgte. „und Sie müssen mir keines der Bücher zurückgeben, denn sie gehören mir nicht. Wie gesagt, es liegt eine Verwechslung vor. Stellen Sie sich vor, Sie treffen später auf den Mann, der Ihnen die Bücher ausgeliehen hat, und Sie können sie ihm nicht zurückgeben, weil Sie sie bereits mir gegeben haben. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich möchte weiterlesen.“  

Der alte Mann schwieg eine Weile, dann sagte er „Oder war es vielleicht Kon-Tiki von Thor Heyerdahl?“, wobei er sich vorbeugte und mir mit dem Zeigfinger auf das Knie tippte.

„Das reicht jetzt!“ sagte ich, irritiert durch seine Berührung vielleicht etwas zu energisch und zu laut, und er schreckte zurück, als hätte ich ihn angeschrien.

„Was herrschen Sie den alten Mann so an!“ schaltete sich seine Sitznachbarin ein. „Er hat Ihnen doch nichts getan. Er will Ihnen nur ihre Bücher zurückgeben, und Sie schreien hier herum, als würde er Sie bedrängen.“

„Es sind aber nicht meine Bücher“ sagte ich zu ihr, „Ich kenne den Mann überhaupt nicht, und was mischen Sie sich überhaupt ein?“, um dann an meinen Sitznachbarn gewendet fortzufahren: „Wollen Sie sich vielleicht auch noch dazu äussern?“

Dass ich wegen des alten Mannes so die Fassung verlor, hatte mit seiner Berührung zu tun (ich werde nicht gerne von fremden Menschen angefasst) und mit seinem Insistieren, aber am meisten irritiert hatte mich, dass er nach Als wär’s ein Stück von mir und Die Welt von gestern nun auch noch Kon-Tiki erwähnt hatte – ein weiteres Buch, das sehr nahe bei den anderen beiden Büchern in der Bibliothek meines Vaters gestanden hatte. Ich habe kein fotografisches Gedächtnis (eher ein Tonband im Ohr, das alles, was ich höre, aufnimmt und in meinem Gedächtnis speichert), aber an einzelne Bereiche der Bibliothek meines Vaters erinnere ich mich noch sehr genau.

Ich kann heute noch die Rücken der Bücher beschreiben, ihre Umschläge und Einbände, und ich weiss natürlich ihre Titel noch. Im Falle von Kon-Tiki kann ich mich auch an die Bilder des Schiffs aus Balsaholz erinnern, und wie ich mich damals gewundert hatte, wie man aus einem so leichten, zerbrechlichen Holz, aus dem wir kleine Segelflieger mit Gummimotoren bastelten, ein Schiff bauen könne, das den Pazifik zu überqueren vermag.

Wie konnte der alte Mann gleich drei Titel von Büchern nennen, die in der längst aufgelösten, umfangreichen Bibliothek meines Vaters praktisch nebeneinander standen? War er zu Lebzeiten meines Vaters bei uns in Zürich zuhause gewesen? Hatte er meinen Vater gekannt?

„Entschuldigen Sie,“ wandte ich mich dem alten Mann wieder zu „dass ich Sie angeschrien habe.“ (denn offenbar hatte ich ihn wirklich angeschrien) „Es tut mir leid, und ich wollte das nicht.“

„Jetzt bin ich sicher“ sagte er. „Es war Kon-Tiki, das sie mir ausgeliehen hatten.“

„Könnte es sein,“ fragte ich ihn, „dass Sie mich mit meinem Vater verwechseln? Er hiess ebenfalls Walter und je älter ich werde, sagen mir Leute, die ihn kannten, desto ähnlicher sehe ich ihm. Er war natürlich grösser als ich, aber das sieht man ja nicht sofort, wenn ich sitze. Und vielleicht ist die Ähnlichkeit jetzt, wo ich älter bin als er, ja noch frappanter geworden.“ Aber der alte Mann wiederholte nur „Es war Kon-Tiki!“, dann stand er auf und ging in Fahrtrichtung des Zuges, der in diesem Augenblick gerade in den Bahnhof Solothurn einrollte, auf den Ausgang zu.

Den Rest der Fahrt bis Bern hielt ich mein Buch in den Händen, aber ich las keine Zeile mehr. Es diente mir mehr dazu, den missbilligenden Blicken der jungen Dame auszuweichen. Ich dachte an den alten Mann, der vielleicht wirklich meinen Vater gekannt hatte, und ich bereute, dass ich ihm, als er in Solothurn den Zug verliess, nicht nachgegangen war. Vielleicht war es aber auch einfach ein grosser Zufall, dass er drei Bücher erwähnte, die in meines Vaters Büchergestell nebeneinander gestanden hatten, und dass er gerade mir eines zurückgeben wollte.  Vielleicht war es auch ein nicht ganz so grosser Zufall, weil belesene Menschen seiner Generation die gleichen Bücher lasen.  

Ich könnte diese Geschichte nun leicht so beenden, dass ich behaupten würde, ich hätte den alten Mann ein paar Tage später wieder getroffen, im selben Zug von Zürich nach Bern. Er sei im Viererabteil schräg vis-à-vis gesessen und ich hätte mitgehört, wie er seinem Gegenüber, einer älteren Dame, ein Buch von Alberto Moravia (Il disprezzo) zurückgeben wollte, welches ich in der englischen Übersetzung gelesen hatte (A Ghost At Noon), und welches sie, so beteuerte sie ohne laut zu werden, ihm nie ausgeliehen hatte.  Aber wer würde das glauben?

Lächerliche Passanten

11. Juni 2022

Als ich gestern, es war Freitagnachmittag, mit meiner Frau im Café am Hof gegenüber vom Schwarzen Kamel sass, kamen mir auf einmal alle Leute, die vor unseren Augen vorübergingen, völlig lächerlich vor.

Der Unterschied zwischen dem Café am Hof und dem gegenüber liegenden Schwarzen Kamel sind weniger die leckeren Canapés, die es im Café am Hof nicht gibt, sondern der Umstand, dass man im Café am Hof sitzt, Kaffee trinkt und die Menschen vorbeiziehen sieht, während man im Schwarzen Kamel sitzt, damit die vorbeigehenden Menschen sehen können, dass man im Schwarzen Kamel sitzt.

Man kann übrigens im Café am Hof draussen auch sitzen und sich etwas ausruhen, wenn man vom Flanieren oder Einkaufen müde geworden ist, ohne etwas zu konsumieren. Allerdings nur an einem einzigen Zweiertisch, der direkt vor der hohen Bar steht und dort in einer Art totem Winkel, in dem einen die Kellner, obwohl sie dauernd daran vorbeigehen, nicht wahrnehmen und deshalb erst bedienen, nachdem man sich bemerkbar gemacht hat. Auch auf das Zahlen kann man am Ende entsprechend lange warten und ich vermute, man könnte auch gehen, ohne zu bezahlen, und es würde erst am Feierabend bemerkt, dass auf dem Tisch gebrauchtes Geschirr steht und vermutlich Gäste da waren.    

Das Lächerliche begann mit zwei jüngeren Herren, die offensichtlich ihr Wochenpensum geleistet hatten und auf dem Weg in ihr Wochenende waren. Sie sahen, wenn auch jung, dynamisch und modern frisiert, mit ihren dunkelblauen Anzügen dennoch absolut lächerlich aus, als trügen sie das Kostüm einer fünftägigen Aufführung, die gerade zu Ende gegangen war und am Montag wieder neu beginnen würde.  

Dass sie mir lächerlich vorkamen, wäre an sich noch nichts Besonderes gewesen, und ich würde es für sich genommen kaum hier erzählen. Männer in Anzügen kommen mir oft lächerlich vor, eigentlich mehr als nicht. Vielleicht deshalb, weil ich nun 35 Jahren lang selber in einem solchen Kostüm aufgetreten bin und Männer in dieser uniformhaften Bekleidung einfach nicht ganz ernst nehmen kann (Frauen in Hosenanzügen übrigens auch nicht), weil sie in ihren Anzügen und mit ihren Krawatten ganz offensichtlich etwas spielen, eine Rolle, die Anzüge erfordert, und lustigerweise darin vor und mit anderen auftreten, die ausnahmslos auch solche Anzüge tragen.  Das Besondere an diesem Nachmittag war, dass mir auch alle anderen Passanten, die keine Anzüge trugen, plötzlich lächerlich vorkamen.

Eine kleine Gruppe chinesischer Touristen fand ich total ulkig mit ihren Einkaufstaschen. Bei einem Mann, der nahe an unserem Tisch vorbeiging, musste ich mich zurückhalten, dass ich nicht laut in sein grimmiges Gesicht lachte, und ein anderer Mann tat beim Gehen das, was man „rouler la mécanique“ nennt, so ausgeprägt, dass es wirklich zum Schiessen komisch war und ich meine Frau auf seinen Macho-Gang hinwies. Zum Glück tat ich das diskret, denn er machte kurz darauf kehrt und trat an den Tisch neben uns, um ein Paar zu begrüssen, das – es wird mittlerweile niemanden mehr wundern – absolut lächerlich aussah.  

Als nächstes kam eine Frau vorbei in einem enganliegenden, ihren übergewichtigen Körper unvorteilhaft betonenden Outfit, die offenbar mit ihren Tragtaschen nicht wusste, wo sie als Nächstes hinwollte, denn sie sollte etwas später in der anderen Richtung noch einmal vorbeikommen und wieder etwas später ein drittes Mal, diesmal wieder aus ihrer ursprünglichen Richtung.

Obwohl ich sie in ihrer an Verwirrung grenzenden Unentschlossenheit bedauerte, musste ich gleichzeitig lachen über ihren Anblick, wie mich auch ein sie beim ersten Mal kreuzender Jüngling in kurzen Hosen amüsierte, wahrscheinlich ein Student, der eine dieser Freitag-Taschen, die angeblich aus alten Lastwagenplanen gefertigt werden, über der Schulter trug und mit seinem zu langen Oberkörper so weit nach vorne gebeugt ging, dass man Angst um ihn haben musste, er würde gleich vornüber fallen.  

Dann kam ein älteres Ehepaar, das ganz und gar normal aussah, und auf mich trotzdem und vielleicht gerade deshalb völlig lächerlich wirkte. Meine Frau hatte, obwohl sie in einem Buch las, unterdessen mitbekommen, dass ich dauernd lachen musste, und sie fragte mich, was mich in aller Welt so amüsiere. „Die Menschen!“ antwortete ich lachend, und zeigte auf zwei junge Frauen, die sich eingehakt hatten und die eine sprach auf die andere ein. „Schau Dir nur diese beiden an – sind sie nicht drollig?“. „Oder diese drei Männer (in Freizeitkleidung) – schau Dir den wichtigen Gang an, wie jeder einzelne von ihnen geht. Was die wohl denken, wohin sie gerade unterwegs sind, diese Komiker.“

Schräg hinter uns erzählte ein Mann jemandem von einem Haus, das er im Tirol besitzt und gerade mit hochwertigen Materialien umgebaut habe, und etwas später, ohne dass der andere (oder die andere) dazwischen wirklich zu Wort gekommen wäre, von einem anderen seiner Häuser, das er nächstens im Salzkammergut umbauen werde.  „Es war wohl,“ sagte ich zu ihm, indem ich mich zu ihm umdrehte, “gegenüber kein Tisch mehr frei?“. Er schaute mich verständnislos an und der andere, ein weisshaariger Mann in einem verblichenen Polo Shirt, den ich mir auch mit einer Matrosenmütze hätte vorstellen können, schüttelte seinen Kopf und lehnte sich dann wieder erwartungsfroh in seinen Sessel zurück, um zu erfahren, wo sein Gegenüber wohl das nächste seiner Häuser umbauen würde.  

Ich versuchte auszublenden, was hinter mir renoviert wurde, und amüsierte mich noch eine ganze Weile über die Parade der Menschen, die in unterschiedlichen Graden der Lächerlichkeit an uns vorbeizogen, dann gelang es mir nach mehreren Versuchen, die Aufmerksamkeit eines Kellners zu erhaschen und die Rechnung zu bezahlen, bevor unser Tisch wieder unsichtbar wurde. Auch die Kellner wirkten übrigens in ihren Uniformen lächerlich, sowohl der Chefkellner, der, nachdem er uns endlich entdeckt hatte, die Bestellung aufnahm und am Ende auch die Rechnung brachte, als auch sein junger Kollege, der dazwischen die Getränke gebracht hatte.

Auch auf dem Weg zum Taxi (meine Frau ist nach einer Operation noch nicht allzu gut zu Fuss) trafen wir auf lächerliche Menschen, und der Taxifahrer gab eine durchaus lustige Figur ab, so dass ich mich auf der Heimfahrt fragte, was es heute mit all den lächerlichen Leuten an sich habe, und ob die Menschen je wieder aufhören würden, lächerlich auszusehen für mich, denn ich war mir sehr bewusst, dass sie nur mir lächerlich vorkamen. Nur ich konnte an allen, die ich heute sah, das Lächerliche erkennen, weil es mir unmittelbar in die Augen sprang.  Meine Frau lachte zwar auch, wenn ich sie auf  diese oder jene Lächerlichkeit hinwies, aber sie wären ihr wohl alleine nicht aufgefallen, und sicher nicht bei allen Vorübergehenden.

Zuhause angekommen vermied ich es, in einen Spiegel zu schauen, nicht in den grossen gleich nach der Eingangstüre, und auch nicht beim Zähneputzen vor dem ins Bett gehen. Ich putzte meine Zähne im Dunkeln, als meine Frau schon schlief, nachdem ich ihr die Verbände gewechselt hatte, immer wieder leise kichernd, weil mir einzelne Menschen in den Sinn kamen, die ich zum Lachen gefunden hatte. Ich hatte irgendwie Angst, mich selber der Lächerlichkeit preiszugeben, die mich heute ob allem Menschlichen ergriffen hatte.    

Zwerge erfinden

8. Juni 2022

Im Jahr 1867 erschien in der mit Ausnahme der Jubiläumsausgabe zum 10-Jährigen Erscheinen auf dreissig Exemplare beschränkten Hauszeitung des Salzburger Lesezirkels, dem damals rund zwei Dutzend mehr oder weniger aktive Mitglieder (alles Männer) und ein schon vor vielen Jahren aus Salzburg weggezogenes Passivmitglied Namens Franz-Albert Schwegler angehörten, das erstaunlicherweise seinen (für Passivmitglieder um die Hälfte reduzierten) Mitgliederbeitrag immer noch durch eine jährliche Postanweisung bezahlte, ein Essay mit dem Titel «Wider das Princip der rheinen Fiction».

Verfasser des Essays war der österreichische Kulturphilosoph und Literaturkritiker Ernst Kippenhofer, Gründungsmitglied, erster Präsident (bis 1864) und Kassenwart (1864-68) des Lesezirkels, dessen Bekanntheitsgrad, wenn man Salzburg verliess, rasch abnahm, der aber in Salzburg auch nach dem Erscheinen seines Essays noch höflich und mit einem gewissen Respekt gegrüsst worden sein soll.

Die These, die Ernst Kippenhofer (der mit vollem Namen Ernst Wolfgang Amadeus Karl Kippenhofer hiess, wobei Karl als Kollateralschaden aus dem Namen flog, als Kippenhofer sich Mozarts Vornamen entledigte, die ihn, so kann man es im Manuskript seiner unveröffentlichten Memoiren nachlesen, «fast seit (seiner) Geburt geärgert hatten») in seinem Essay aufstellte, lief darauf hinaus, dass es so etwas wie die reine Fiktion zumindest in der Literatur nicht geben kann und somit auch nicht gibt.

«Es kann in der Literatur», hob Kippenhofer, als er seine These zum ersten Mal im Lesezirkel vortrug,  mit seiner sonoren Stimme an, «die reine Fiktion, wenn man sich an die Gesetze der Logik hält, gar nicht geben» um dann mit der ihm eigenen Begabung für praktische und anschauliche Beispiele gleich den Beweis für seine Behauptung nachzuliefern, indem er fortfuhr: «Nehmen wir einmal an, ich schreibe eine Geschichte, und erfinde in der Mitte der dritten oder vierten Seite einen Zwerg.»

«Sieh an, er hat einen Zwerg erfunden» flüsterte ein Mitglied des Lesezirkels, ein pensionierter Oberschullehrer, der beim erstmaligen Vortragen von Kippenhofers Essay in der vordersten Pultreihe des kleinen Lesesaals der Bibliothek sass, wo sich der Lesezirkel einmal im Monat traf, seinem Nachbarn, einem Mähmaschinenhändler, ins Ohr. Jedenfalls hatte er gemeint, er hätte geflüstert, aber Kippenhofers umgehende Reaktion «Sehen Sie, geschätzter Oberschullehrer a.D., genau das habe ich gemeint!» belehrte ihn eines anderen.

«Wenn ich mich im Moment, gleich nachdem ich den besagten Zwerg in meinem Text habe erscheinen lassen, noch dem süssen, schöpferischen Wahn hingeben durfte, ich hätte gerade einen Zwerg erfunden, und befände mich also von diesem Moment an – und solange der Zwerg im Text herumspaziert – im für alles offenen Reich der reinen Fiktion, so kommt mir im selben Augenblick, wo jemand von «meinem» Zwerg Notiz nimmt, meine Schöpfung abhanden, indem sie von der vermeintlichen Fiktion in die Wirklichkeit abwandert.»

«Er hat einen Zwerg erfunden, haben Sie gerade gesagt, nichtwahr, und damit existiert der Zwerg nun auch ausserhalb meines Textes, in dem ich ihn abgesetzt hatte. Er ist durch Ihre Worte in diesen Saal spaziert und befindet sich jetzt entweder noch irgendwo unter den Lesepulten oder er turnt in den Bücherregalen herum, oder er hat die Bibliothek bereits verlassen und erkundet draussen neugierig seine neue Umgebung. Er kannte ja bisher nur die paar Seiten meines Textes, auf denen noch nicht viel los oder zu sehen war, vor allem, weil ich sie gar nicht geschrieben habe.

Es war ja nur eine Annahme, um die ich Sie gebeten hatte, dass ich eine Geschichte geschrieben hätte, an deren Anfang ein Zwerg auftaucht, und nun sitzen wir hier, und fragen uns, wohin der Zwerg verschwunden sein könnte und ob es uns je gelingen wird, ihn wieder einzufangen. Das ist alles andere als Fiktion, meine Herren. Der Zwerg ist, auch wenn er nur als Beispiel zur Illustration meiner These hätte dienen sollen, spätestens jetzt, wo wir über ihn reden, ein selbständiger Teil unserer Wirklichkeit geworden, Ihrer und meiner, ob wir wollen oder nicht, und er wird, auch wenn er von nun an unauffindbar und unsichtbar bleiben sollte, was bei Zwergen eher wahrscheinlich als unwahrscheinlich ist, von nun an existieren.»

«Er wird nicht nur unter uns, sondern uns mit Sicherheit auch überleben, denn Zwerge altern nur äusserst langsam. Wir werden, meine Herren, längst tot und begraben sein, wenn sich dieser Zwerg noch in der Stadt und im Salzburger Hinterland herumtreibt und Seinesgleichen sucht.»  

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Auf dem Heimweg von diesem denkwürdigen Abend wurden die Mitglieder des Salzburger Lesezirkels alle von Kippenhofers Zwerg begleitet. Die einen, weil sie Kippenhofers These nicht folgen konnten oder wollten und den beispielhaften Zwerg als Fiktion mit zu sich nachhause nahmen, die anderen, weil sie ein Stück weit den gleichen Heimweg hatten, auf dem sie über den nun offenbar noch ganz durchgedrehten Kippenhofer und seinen erfundenen Zwerg lachten, und dabei nicht bemerkten, wie sich in ihr Lachen, das von den engen Gassen widerhallte, ein anderes, kleines Lachen mischte.  

Ein paar wenige waren auch darunter, die, obwohl sie Kippenhofers Argumentation nicht bis ans Ende folgen konnten, den Zwerg oder die Vorstellung von ihm ein wenig liebgewonnen hatten und es tat ihnen Leid, dass er jetzt so alleine und womöglich für Jahrhunderte in einer fremden Umgebung herumwandern müsse.   

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Vor zwei Jahren, also über 150 Jahre nach dem Erscheinen von Kippenhofers Essay und dem damit verbundenen Auftauchen des Zwerges, hat ein Germanist, dessen Name ich hier nicht nennen möchte, weil er es nicht verdient hat, dass man seinen Namen nennt, und weil man mir sonst vorwerfen könnte, ich hätte ihn erfunden (als ob ich so jemanden erfinden möchte), allen Ernstes behauptet, und zwar in einer literarischen Revue, der ich den raschen Untergang wünsche, es hätten sich trotz intensiver Forschung keinerlei Belege dafür finden lassen, dass es den Salzburger Lesezirkel, dessen Hauszeitung, das weiter zahlende Passivmitglied Franz-Albert Schwegler oder Ernst Kippenhofer und sein Essay je gegeben habe.

Es ist mir völlig schleierhaft, wie jemand dazu kommen kann, sich mit einem für die Literatur und die Literatururgeschichte fast bedeutungslosen Objekt zu befassen, nur um am Ende zum Schluss zu kommen, das alles habe es überhaupt nie gegeben.

Wenn sich dieser überaus bornierte Germanist – wie Kippenhofer es formuliert hätte – «an die Gesetze der Logik gehalten» und seine absurden Folgerungen wenigstens konsequent zu Ende gedacht hätte, hätte er zum Schluss kommen müssen, dass es weder Mozart, Salzburg, noch das Jahr 1867 je gegeben hat und der Kalender vom 31. Dezember 1866 direkt auf den 1. Januar 1868 gesprungen sein muss.

Bezeichnenderweise erwähnt dieser Germanistentrottel, dieser überaus bemitleidenswerte literaturhistorische Vollbanause den Zwerg mit keinem Wort. Ganz einfach deshalb nicht, weil er ihm entwischt ist, und entwischen kann nur etwas, was existiert. Quod erat demonstrandum, wie mein Mathematiklehrer am Schuss einer Aufgabe jeweils mit Kreide an die Wandtafel zu schreiben pflegte, und der feine Kreidestaub rieselte, ja schwebte zu Boden.