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Gespräche mit meinem Architekten

6. Juni 2022

Das erste Gespräch mit meinem Architekten fand vor einigen Monaten statt, als ich fast ein dreistöckiges Haus in einer Häuserzeile in einem kleinen Dorf in der Nähe von Nidfurn, einem noch kleineren Weiler im südlichen Glarnerland, gekauft hätte.

Nidfurn wird von den wenigen Leuten, denen die Ortschaft überhaupt geläufig ist, obwohl sie weder aus der Gegend stammen noch dort wohnen, höchstens wegen seinem Bahnhof erwähnt, wo die Züge der S6 und der S25 Halt machen (nicht nur auf Verlangen), mit denen man bequem und ohne umzusteigen nach Rapperswil oder Zürich fahren kann. Schon Leute, die in der entgegengesetzten Richtung unterwegs sind, zum Beispiel nach Braunwald, merken sich Nidfurn nicht und können sich, wenn man sie später fragt, ob sie an Nidfurn vorbeigefahren seien, meist nicht daran erinnern.  

Eine S25 gibt es übrigens auch in Berlin, mit einer Haltestelle in Tegel, wo es, als ich noch in Charlottenburg wohnte (in einem Haus an der Nussbaumallee, das mir weder gehörte noch kannte ich seinen Architekten), noch einen praktischen kleinen Flughafen gab, wo jedes zweite Wochenende meine vier Kinder landeten. Aber das ist eine andere Geschichte, wie auch die Haltestellen Gesundbrunnen, Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik oder Heiligensee (kurz vor der Endstation) jede für sich Anlass für eine Berliner Geschichte wären. Wann soll ich das bloss noch alles schreiben?

Heute jedenfalls nicht mehr, denn der Pfingstnachmittag neigt sich schon bald seinem Ende zu, für das ein neues Gewitter ankündigt wurde, obwohl der Himmel wolkenlos ist, und ich will noch nach Nidfurn zurückkehren, bevor sich die Krähen im Schwarm vom Dach des Palais Schwarzenberg in den Wind stürzen und die ersten grossen Tropfen in den Botschaftsgarten fallen. Ich will zurück nach Nidfurn, wo ich noch nie war. Was beim ersten Lesen seltsam klingen mag, dass man zurückkehren könnte an einen Ort, an dem man noch nie war, wird hoffentlich etwas plausibler, wenn man bedenkt, dass es nicht möglich ist, an einen Ort zurückzukehren an dem man war.   

Wer Nidfurn als Zielort eingibt, fliegt mit Google Earth von einem imaginären Flugplatz irgendwo an der Grenze zwischen Kansas und Missouri in weniger als 11 Sekunden in den Kanton Glarus, und noch während man sich sanft dem Boden nähert, wird einem klar, dass man in der Natur gelandet ist.

Bevor ich hier weiterschreibe, muss ich mir unbedingt eine mentale Notiz machen: Wo genau liegt dieser Flugplatz an der Grenze zwischen Kansas und Missouri, von dem aus die Google Earth Flüge starten? Wie heisst er, wie schaffen die so viele Abflüge pro Tag und warum gibt es keine Rückflüge? Und wenn ich schon dort bin: Warum gibt es im Bundesstaat Kansas ein kleines Kansas City, aber die Hauptstadt des Bundesstaats ist Topeka, während das grosse Kansas City die grösste Stadt im Bundesstaat Missouri ist, dessen Hauptstadt aber Jefferson City heisst?  Ist das Leben nicht sonst schon kompliziert genug?

Wer sich mit dem Gedanken einer zukünftigen Niederlassung in Nidfurn (oder Haslen) beschäftigt und sich den kleinen Dörfern als Stadtmensch lieber schrittweise annähert, indem er zuerst in der Kantonshauptstadt Glarus einen Zwischenhalt einlegt, ist gut beraten, sein Reise nicht mit Google Earth zu planen, denn er könnte sich unverhofft in New Glarus, Wisconsin wiederfinden, nach einem noch kürzeren Flug zwar (er dauert keine 10 Sekunden) aber von da nach Nidfurn wäre es dann eine halbe Weltreise und man müsste sich wirklich fragen, ob man nicht vielleicht besser gleich dort bleibt.

Die 1845 aus Glarus eingewanderten Schweizer Gründer von New Glarus sind jedenfalls geblieben.  Die Stadt mit heute knapp zweieinhalbtausend Einwohnern liegt auf 274m über Meer, was mit ein Grund gewesen sein mag, dass die Glarner gerade hier gesiedelt haben, denn das von ihnen verlassene Glarus liegt auf 472 Meter über Meer und so war hier nicht alles völlig fremd. „Früher lagen wir vorne höher und hinten tiefer,“ erzählten sie Zuwanderern aus anderen Orten, „aber die Zahlen sind dieselben geblieben.“ Was nicht alle verstanden, aber sie blieben trotzdem.

Es gibt noch immer viel Schweiz in New Glarus, nicht nur das Swiss Historical Village Museum an der 7th Avenue, auch die Glarner Stube. Wer genug Schweiz gesehen hat, isst bei Casey’s eine Pizza oder geniesst bei Fat Cat Coffee Works einen feinen Kaffee mit hausgemachtem Kuchen, bevor er den Tag in Puempel’s Old Tavern ausklingen lässt und sich dabei fragt, ob Pümpel der Nachfahre eines Braunwalder Zwerges sein könnte. Auf die Frage, wo Bartli den Most holt, weiss der Kellner dann aber keine Antwort.  

Nidfurn ist, wie bereits angedeutet, keine wirkliche Tourismusdestination. Es dürfte bei aller Beschleunigung der Ereignisse, wie wir sie zuletzt erlebt haben, noch ein paar Jahrzehnte dauern, bis der Ort von chinesischen Touristen überrannt wird, und niemand aus dem Grossraum Zürich oder aus Rapperswil, der am Montag seinen Arbeitskollegen von seinem Wochenendausflug nach Braunwald erzählt, würde auf die Idee kommen, Nidfurn zu erwähnen, oder vom Restaurant Bahnhöfli zu schwärmen, obwohl man dort vorzüglich essen soll.

Man kommt zwar in Nidfurn vorbei, wenn man mit dem ÖV von Zürich nach Braunwald reist um dort Ski zu fahren, am Grotzenbüel zu schlitteln oder zum Oberglegisee zu wandern, aber man steigt nicht aus, obwohl der Zug anhält, sondern man fährt weiter bis Linthal, um dort auf die Linthal-Braunwaldbahn umzusteigen, eine Bahn, die aus dem Stand (deshalb nennt man sie wohl Standseilbahn) in sieben Minuten auf 1300 Metern im autofreien Braunwald ist.

Leute, die in Nidfurn aus dem Zug steigen, wohnen entweder in Nidfurn (oder Haslen), oder sie kommen jemanden in Nidfurn (oder Haslen) besuchen. Alle anderen fahren weiter. Ausser jemand hätte vor, von Nidfurn gute zehn Minuten bis nach Haslen oder Oberhaslen zu spazieren, um sich dort ein Haus anzuschauen.  Bei mir ist es allerdings nicht so weit gekommen, obwohl mich das dreistöckige Haus an der Dorfstrasse wirklich interessiert hätte. Es ist ein schönes, sorgfältig renoviertes Haus mit wunderschönen Parkettböden, drei Terrassen und einem kleinen Garten, der für unsere Hunde gereicht hätte.

Zum ersten Gespräch mit meinem Architekten kam es, als ich versuchte, aus der Wiener Ferne herauszufinden, ob sich im ersten Stockwerk, wo unser Schlafzimmer gewesen wäre, ein Badezimmer einbauen liesse (ja) und ob sich auch ein Personenlift vom Keller bis ins dritte Stockwerk einbauen liesse (nein). Der Makler, der das Haus noch immer zu verkaufen versucht (lustigerweise für einen anderen Bundesangestellten), war so nett, mir die Handwerker und den Architekten zu nennen, die das Haus renoviert hatten. Ich rief also den Architekten in Glarus an, und hatte ein langes und gutes Gespräch mit ihm über das Haus, welches darin mündete, dass ich es nicht gekauft habe.

Er schlug mit aber vor, da er ab und zu Häuser renoviere im Glarnerland, die dann zum Verkauf stünden, mich wissen zu lassen, wenn er auf etwas stosse in der Art, wie ich es suche. Ich fand das sehr nett von ihm, und war dann doch überrascht, als er sich tatsächlich ein paar Monate später meldete.

Diesmal geht es um ein ehemaliges Herrschaftshaus aus dem Jahr 1900 im Sernftal. Ein Haus von einer Pracht und Ausstrahlung, die schwer zu beschreiben ist, und mit einem traumhaften, grossen Garten. Nur werde ich es mir wahrscheinlich nicht leisten können, wenn ich alle Renovationsarbeiten, die vorzunehmen sind, einbeziehe.  

Morgen werde ich, wenn ich dazu komme, meinen Architekten anrufen, und ein zweites Gespräch mit ihm führen, um danach zu entscheiden, ob ich ein Angebot für das Haus machen soll oder nicht. Wenn nicht, werde ich warten, bis er mich auf ein nächstes Haus aufmerksam macht. Vielleicht klappt es dann. Vielleicht wird er am Ende aber auch mein Architekt, der nie etwas für mich gebaut oder renoviert hat, und alles, was wir je zusammen gemacht haben, ist gute Gespräche über alte Häuser führen.   

Vielleicht erzähle ich ihm morgen, dass ich in den Kehren zum Klausenpass in einem Wiederholungskurs mit einen Jeep der Schweizer Armee einen Getriebeschaden hatte, als wir auf der grössten Alp der Schweiz, dem Urnerboden, in der Schiessverlegung waren und ich als Postfahrer hin und her fuhr während die anderen wie die Wilden um sich schossen. Ich glaube, ich holte die Post jeweils in Glarus ab. Ich muss also in Nidfurn und Haslen mehrmals vorbeigekommen sein und vielleicht habe ich im Garten des Bahnhöfli in Nidfurn sogar an einem sonnigen Nachmittag einen Kaffee getrunken.  

Vielleicht frage ich ihn auch, ob er sich vorstellen könnte, im Garten meines von ihm renovierten Hauses einen kleinen chinesischen Pavillon zu bauen, wie ich ihn an der Nussbaumallee in Charlottenburg hatte. Fragen kostet ja nichts. Eine Null habe ich schon in der Tasche, sagt meine Frau immer, und vielleicht, wenn ich frage, wird ja eine Eins draus.

Die Pyrenäen erscheinen im 3. Bezirk

5. Juni 2022

(ob irgendjemand irgendetwas wisse)

Am Ende meiner beruflichen Karriere hatte ich in acht Ländern gelebt und – wenn ich die diversen Umzüge in der Schweiz dazurechnete – mehr als zwanzigmal den Wohnort gewechselt. Ich führte das gerne auf meine Zigeunerwurzeln zurück, denn die Familienlegende wollte es, dass meine Ururgrosseltern mütterlicherseits Zigeuner aus den französischen Pyrenäen gewesen wären. Erst die Urgrosseltern seien in der Region von Albertville sesshaft geworden.

Neben meinem Schreibtisch hängt in einem alten, bemalten Holzrähmchen eine Fotografie an der Wand, die alle meine Umzüge – bis auf einen Sprung im Glas – unbeschadet überstanden hat, und auf der meine Grossmutter als kleines Mädchen mit ihren Eltern abgebildet ist.

Meine Urgrossmutter ein Ebenbild meiner Grossmutter, wie ich sie kannte, eine schöne Frau mit hochgesteckten Haaren, stolz und aufrecht sitzend, den rechten Arm auf der Hochlehne ihres Stuhles und die Hand ihres linken Armes auf dem Arm ihrer Tochter, die zwischen ihren Eltern steht und ihre kleine Hand auf das Bein ihrer Mutter gelegt hat. Mein Urgrossvater ein Mann mit gezwirbeltem Schnurrbart mit Anzug, Gilet und Fliege, den rechten Arm an der Seite herunterhängend – er hätte die linke Hand auch auf die Schulter seiner Tochter legen können – und den linken angewinkelt hinter dem Rücken.   

Es ist ein typisches Familienfoto, wie es damals unzählige Male gemacht wurde, als die Fotografie endlich auch jenen ein Portrait ermöglichte, die sich ein gemaltes nicht leisten konnten.  Man kann in ein beliebiges Antiquariat gehen, in Zürich, in Berlin, in Wien, und man wird unzählige solche Fotos finden, mit genau dieser Komposition. Ich musste sogar schon ein paar Mal genauer hinschauen, um sicher zu sein, dass es sich nicht um das Bild meiner Urgrosseltern mit meiner kleinen Grossmutter handelte.

Bei der Fotografie, die neben meinem Schreibtisch hängt, bin ich mir ziemlich sicher, dass es sich um meine Urgrosseltern mit meiner Grossmutter handelt. Zu ähnlich sieht meine Grossmutter auf den Fotos aus den Jahren vor ihrem frühen Tod ihrer Mutter, die hier so stolz in die Kamera des Fotografen schaut, der die Kleinfamilie vorher so sorgsam und jedes Detail bestimmend aufgestellt, man möchte sagen drapiert hatte, dass es der kleinen Linette zu viel geworden ist. In die Kamera schauen mochte sie, als das Bild endlich gemacht wurde, nicht mehr – ihr Blick geht aus dem Bild.

Es sind also meine Urgrosseltern und es ist meine Grossmutter. Aber waren sie wirklich die ersten sesshaften Berthés? Waren ihre Eltern, oder zumindest seine oder ihre, wirklich Zigeuner?

Mein Onkel Hans-Peter (nennen wir ihn hier getrost so, denn so hiess er, obwohl ich ihm unter einem anderen Namen und mit seinem Spitznamen „Hämpel“ als Titel eine kleine Geschichte gewidmet habe), der jüngste Bruder meiner Mutter, ist einmal nach Albertville gefahren, um herauszufinden, was es damit an sich hatte. Irgendwo muss ich noch einen Brief von ihm haben, in dem er mir alles, was er damals gefunden und nicht gefunden hatte, beschreibt. Sein Brief war die Reaktion auf meine Anfrage, als ich vierzehn war, ob irgendjemand irgendetwas wisse über unsere Familiengeschichte.        

Hämpel erzählte mir also das eine und das andere und vielleicht stammt das mit den Zigeunern aus den französischen Pyrenäen ja sogar aus seinem Brief. Ich werde das verifizieren, falls ich ihn beim bevorstehenden Umzug wiederfinde. Ob die Wahrscheinlichkeit, dass es zutrifft, damit steigen oder fallen würde, ist fraglich. Hämpel war ein Fernsehjournalist, also jemand, der weiss, wie man recherchiert, aber eben auch ein Journalist, der eine möglichst interessante Geschichte erzählen will, und ein Nachfahre der Berthés, der eine möglichst spannende Familiengeschichte haben wollte.

Er könnte den Teil mit den Zigeunern auch erfunden haben, denn es war heiss in jenem Sommer in Albertville und die Archive gaben wenig her, weshalb er mehr Zeit auf dem Platz vor dem Rathaus im Bistro verbrachte und unter den Linden ein Glas oder zwei trank.

Ich könnte ihn, würde er noch leben, zur Rede stellen: „Hast Du das alles bloss erfunden, Hämpel?“

„Was hast Du Dir dabei gedacht, einem Vierzehnjährigen solche Sachen zu erzählen? Ich habe Dir geglaubt. Meine Kinder, denen ich es später erzählte, haben es geglaubt (sie haben mir auch geglaubt, dass bei Schafen, die lange an einem Abhang grasen, die talseitigen Beine länger sind als die hangseitigen). Ihre Kinder, denen sie es vielleicht erzählen werden, wenn sie etwas grösser sind, werden es glauben. Unzählige Menschen, die damals die Tagesschau schauten, haben Dir geglaubt.“

Und wenn meine Ururgrosseltern keine Zigeuner aus den französischen Pyrenäen waren, woher stammten sie dann? Und was wird dann aus den Pyrenäen?

Ich schaue aus dem Fenster an diesem heissen Sonntagmorgen im Juni, wo der Sommer gestern Nacht mit einem Gewitter begonnen hat, und ich sehe vor dem Ostflügel des Palais Schwarzenberg diesen Erdhügel, vielleicht hundert Meter lang und fünf Meter hoch, mit mehreren kleinen Kuppen, den die Natur bereits mit Unkraut und kleinen Büschen übernommen hat. Es handelt sich angeblich um den Aushub für ein Nebengebäude des Hotels, zu dem das Palais wieder werden soll.

Vielleicht stimmt es ja doch, dass meine Ururgrosseltern mütterlicherseits Zigeuner aus den französischen Pyrenäen waren, und dass ich wegen dem stark verdünnten Zigeunerblut in meinen Adern so oft in meinem Leben umgezogen bin.

Und wenn es nicht stimmt, bin ich einfach nur oft umgezogen und es war gar nicht Hämpel, der diesen Teil der Familienlegende erfunden hat, sondern jemand vor ihm, der gar nicht mit uns verwandt war (eine schöne Zigeunerin vielleicht), oder jemand nach ihm, am Ende sogar ich selber, weil mir das, was mir die Verwandten zutrugen, als ich vierzehn war, nicht reichte.

Vielleicht sind es auch nur Details, die nicht stimmen, und es waren die spanischen Pyrenäen, nicht die französischen. Oder ich war 16 anstatt 14.

Vielleicht ist das da drüben auch nicht der Aushub für ein Hotelnebengebäude, sondern der Anfang eines Jahrhundertprojektes der EU, die die Pyrenäen (die französischen und die spanischen) nach Österreich bringen will, damit in Frankreich und Spanien die Anbaufläche für Getreide vergrössert werden kann, während es in Österreich heute schon reichlich Berge hat und sich mit ein wenig Pyrenäen kaum etwas verändern würde.

Das Palais Schwarzenberg würde dann nicht zum Hotel, zurückgebaut, sondern zum Tourismus- und Informationszentrum im neuen Herzen der Pyrenäen.

Hätte ich den Nummernschildern der Lastwagen glauben sollen, die den Aushub gebracht haben? Soll ich Hämpel glauben, auch wenn nicht er es war, der die Zigeuner in unsere Familie erfunden hat?  

Ich weiss nicht, was ich glauben soll, aber ich weiss, was ich glauben möchte. Ich möchte daran glauben, dass man meinen Urgrosskindern erzählt, wenn sie 14 Jahre alt sind, denn dann, und nur dann, sind sie aufnahmefähig dafür, dass ihr Urgrossvater in acht Ländern gelebt hat, von denen er mindestens die Hälfte erfunden hat, und dass er sich nichts mehr wünschte, als dass es ein Bild von ihnen und ihm gäbe, am besten vor einem überwachsenen Erdhügel, der zum Symbol für irgendetwas geworden ist, niemand weiss mehr, wofür.

Hitchcock schreitet unbemerkt von dannen

23. April 2022

Als sein erster Roman auf dem Buchmarkt erschien, war Hubert Loosli 83 Jahre alt, und niemand, kein einziger und keine einzige unter den wenigen Lesern und Leserinnen, ahnte auch nur, dass es nicht nur der Abschluss einer vor 9 Jahren begonnenen Trilogie war, sondern der Höhepunkt eines umfassenden literarischen Werkes von sage und schreibe – denn geschrieben hatte sie Loosli alle, und es wäre an der Zeit gewesen, davon zu reden – nicht weniger als 24 Romanen und dreizehn Novellen.

Dabei sollte es dann auch bleiben, womit Looslis Romanerstling, von der Kritik weder gelobt noch verrissen, sondern weitgehend unbeachtet, auch gleich sein letztes Buch wurde, aber auch das wusste an jenem regnerischen Spätnachmittag im Frühling, als der Autor in einer kleinen Buchhandlung in Zürich nach der kurzen Lesung und zwei Gläsern Wasser ein paar Exemplare seines Début-Romans signierte, niemand, nicht einmal Loosli selber. Ganz im Gegenteil sollte er die Buchhandlung kurz darauf mit einer – wie er meinte guten und tragfähigen – Idee für einen weiteren Roman verlassen.   

In der einzigen Buchbesprechung, die ein dem Zürcher Kleinverlag, in dem Looslis Buch in einer auf 1000 Exemplare beschränkten Auflage erschienen war, wohlgesinnter Freelancer für die Zürichsee-Zeitung verfasst hatte (es soll sich dem Vernehmen nach um den Bruder der Verlegerin gehandelt haben, dem wiederum gute Kontakte in die Redaktion der Zürichsee-Zeitung nachgesagt wurden), war von einem Spätberufenen die Rede – eine Bezeichnung, deren Ironie der beschränkten Leserschaft der Zeitung verborgen blieb.

Verborgen blieben den Leserinnen und Lesern auch, weil man etwas, was man gerade kennenlernt, schlecht mit etwas verbinden kann, was man nie kannte, die zahlreichen Querbezüge, Verweise und Reminiszenzen zu Looslis anderen Werken, auch ausserhalb der Trilogie, angefangen beim Umstand, dass sich im Roman von Loosli mehr Protagonisten aus seinen früheren Werken tummelten als Spione in Wien. Die meisten waren mit Loosli alt geworden und würden sich, wenn man sie fragen könnte, an vieles, was sie in den ersten Romanen trieben, damals noch mit langen Haaren, nur noch bruchstückhaft erinnern. 

Loosli hatte an der Universität Zürich Politologie und Anglistik studiert und 1977 seine viel zu lange geratene Dissertation über die Familie Glass im Werk von Jerome D. Salinger geschrieben. «Setzen Sie endlich einen Punkt, Loosli!» hatte ihn sein Doktorvater nach vierhundert Seiten gemahnt. «Ihre Dissertation wird sonst länger als das Gesamtwerk von Salinger»

Aber Loosli konnte nicht aufhören. Es faszinierte ihn, wie am Rande der einen Kurzgeschichte Salingers ein Mitglied der Glass-Familie wie beiläufig erwähnt wird, dem dieses oder jenes widerfahren sei, was dann zum Thema einer späteren Geschichte wurde, womit man erst, und auch dann nur unvollständig und einigermassen, verstehen und nachvollziehen konnte, wie es zum Ereignis hatte kommen können, zum Beispiel zu einem Selbstmord.    

Dass man von einer Person immer nur eine Momentaufnahme sieht, eine im Zusammenhang ihres Lebens stehende Handlung (oder ein Nichtstun) mit einer Vorgeschichte, die im Auge des momentanen Betrachters aus diesem Zusammenhang herausgelöst ist, hatte Loosli schon früh beschäftigt und trieb ihn noch im hohen Alter um. Jede Nebenfigur war in ihrem eigenen Leben, in ihrer eigenen Geschichte, die Hauptfigur, und kam dennoch im Leben anderer stets nur als Nebenfigur oder Komparse vor. Musste das nicht zwangsläufig zu Missverständnissen führen?

Loosli hätte seine Dissertation auch über die Figuren schreiben können, die sich in den von verschiedenen Autoren geschriebenen Kurzgeschichten des Erzählbands «Finbar’s Hotel» über den Weg, beziehungsweise die Korridore eines heruntergekommenen Hotels in Dublin laufen. Jedem der sieben Erzähler, von denen, was durchaus bemerkenswert ist, lediglich einer nicht in Dublin geboren wurde, dort aber längere Zeit gelebt haben soll, waren die Hotelgäste aus den anderen Kurzgeschichten (nicht aber deren Geschichten) bekannt, als sie ihre eigenen Beiträge schrieben.  

Der Auftrag des Herausgebers an die Autoren hatte gelautet, Personen aus den anderen Geschichten irgendwo in der eigenen Geschichte auftreten zu lassen, und sei es nur, dass man eine Hauptperson aus einer anderen Geschichte am Ende eines schlecht ausgeleuchteten Korridors vorbeihuschen oder durch die Hotelhalle schreiten sieht, wie Hitchcock einst durch einen seiner Filme. Loosli hätte darüber sicher wunderbar und bestimmt auch ausführlich dissertiert, aber dafür hätte er 20 Jahre länger studieren müssen, denn das Buch erschien erst 1997.

Am Ende der kurzen Schlange, die sich vor dem Tisch gebildet hatte, an dem Loosli seine Bücher signierte, stand ein dicker – man kann es nicht anders sagen – Mann in Anzug und Krawatte, der ganz hinten beim Eingang gesessen hatte. Loosli nahm das nächste Buch vom kleinen Stapel, aber der Mann sagte: «Nein Danke, sie müssen das Buch nicht signieren». «Kein Problem» antwortete Loosli, und reichte ihm das unsignierte Buch, worauf die Buchhändlerin, die auf dem Signiertisch eine Handkasse aufgestellt hatte, sagte: «Das macht 23 Franken 80, bitte. Brauchen Sie eine Quittung?»

«Nein», sagte der Mann. «Ich kaufe den ganzen Stapel». Und das tat er dann auch wirklich. Er kaufte nicht nur dir restlichen zwölf Bücher, er meldete sich am kommenden Morgen beim Verlag und kaufte die gesamte Erstauflage. Er soll ausserdem hartnäckig versucht haben, von der Buchhändlerin die Einladungsliste zur Vernissage zu erhalten, vermutlich, um den Gästen die signierten Exemplare abzukaufen, aber sie gab nicht nach.  

Heute, gut vier Jahre nach der Präsentation von Looslis Début, präsentiert sich die Situation wie folgt. Der Kleinverlag hat auf eine Neuauflage verzichtet. Warum ist unklar. Immerhin war die erste Auflage ja im Nu vergriffen. Vielleich hatte es mit den finanziellen Problemen des Verlags zu tun, der kurz nach dem Erscheinen von Looslis Buch mit einem anderen Kleinverlag fusionierte, nur um zwei Jahre später trotzdem unterzugehen. Looslis Roman ist auch antiquarisch nicht auffindbar. Es ist fast so, als hätte es ihn nie gegeben.

Was den mysteriösen Käufer der Erstauflage angeht, so lässt es sich mittlerweile nicht mehr mit Bestimmtheit sagen, ob es ihn tatsächlich gegeben hat, oder ob er nicht eine Erfindung von Loosli ist, von diesem vorgeschickt, um die Erstauflage seines ersten Buches aus dem Verkehr zu ziehen, dessen Erscheinen er ein Leben lang herbeigesehnt hatte, nun aber, als es vor ihm auf dem Tisch lag, zu tiefst bereute.

Vielleicht empfand er es als Verrat an seinen nicht publizierten Werken, an all den Figuren, die er darin über Jahrzehnte entwickelt und wachsen lassen hatte, um erst jetzt, wo sie alt waren, den Blick auf sie frei zu geben.

Vielleicht schien ihm auch die Idee für einen weiteren Roman (es wäre sein 25. geworden), in dem ein dicker, gut gekleideter Herr die Erstauflagen von in Kleinverlagen publizierten Romanen gleich nach ihrem Erscheinen aufkauft, als nicht wirklich tragfähig, obwohl ihm der Titel, der ihm dafür in den Sinn gekommen war (Flucht vor Lesern) eigentlich recht gut gefiel. Der dicke Mann wäre darin so etwas wie ein Fluchthelfer gewesen und er selber der Textverdächtige.

Loosli verbrachte die letzten zwei Jahre in einem Altersheim in Zürich-Fluntern. Ich habe ihn ein paar Wochen vor seinem Tod besucht, aber er hat mich nicht mehr erkannt.  «Wien…, so so.» hat er geantwortet, als ich ihm von meinem letzten Posten erzählte. «Reinhard Lettau ist doch nach Wien zurückgekehrt, nichtwahr? Woher schon wieder?»

«Berlin, lieber Hubi, er ist nach Berlin zurückgekehrt. Aus Amerika.»

«Dann geh ich nach Berlin. Ich muss ihn fragen, ob ich Flucht vor Gästen verwenden darf.… Was hatte er in Amerika zu suchen?»

«Er ist gestorben, Hubi. Du könntest höchsten seine dritte Frau fragen. Dawn Telowski oder so. Keine Ahnung, ob sie noch lebt und wo sie sich aufhält.»

«Hubi…?»  

Loosli sass aufgerichtet in seinem Bett, in seinem Rücken mehrere Kissen, und schaute mich abwesend an. Hatte er verstanden, was ich sagte?

«Was hast Du mit seinem Titel vor, Hubert?»

«Flucht vor Lesern», antwortete er. «Mein letztes Buch.»  

«Ich freue mich darauf, Hubi.»

«Ich mich auch», sagte Loosli, «Ich mich auch». Und nach einer kurzen Pause: «Du musst jetzt gehen. Ich habe Deinen Namen vergessen.»

Goofy zurückgeben

16. Januar 2022

Wenn mir ein Name nicht mehr einfällt, wende ich bei der Suche eine einfache Methode an, die in den meisten Fällen rasch zum Erfolg führt. Ich gehe in meinem Kopf die Buchstaben des Alphabets durch und denke dabei an die Person, deren Name mir entfallen ist. Manchmal kommt mir schon beim ersten Durchlauf der Name in den Sinn. Zum Beispiel beim Buchstaben C – ja, natürlich: Carver! Raymond Carver.

Wenn der Name sich beim ersten Aufruf seines Anfangsbuchstabens nicht direkt meldet, ist es oft so, dass beim Aufrufen einzelner Buchstaben ein kleines Lämpchen zu blinken beginnt. Das bedeutet dann, dass diese Buchstaben mit grosser Wahrscheinlichkeit im Namen, den ich suche, vorkommen. Nicht notwendigerweise als Anfangsbuchstaben, und es ist unklar, ob im Nachnamen oder im Vornamen, aber sie kommen irgendwo im Namen vor.

Ich arbeite dann mit diesen paar Buchstaben weiter, die mein Gedächtnis markiert hat (zum Beispiel ein A und ein O), indem ich Namen durchgehe, die entweder mit ihnen beginnen oder die markierten Buchstaben enthalten. Sehr oft gelange ich so rasch zum gesuchten Namen (zum Beispiel Joe Montana, als ich den Namen des legendären Quarterbacks der San Francisco 49ers in den 80er-Jahren suchte).

Natürlich hätte ich seinen Namen auch mit einer Suchmaschine finden können, aber auf viele Namen, die mir entfallen, hören oder hörten keine berühmten Menschen, die man im Internet findet. Wenn ich zum Beispiel nach dem Namen von einer meiner beiden Lehrerinnen in der ersten bis dritten Primarklasse suchen müsste, wäre das mit Google (Schulhaus, Jahr, Lehrkörper) vielleicht nicht völlig unmöglich, aber die Suche in meiner eigenen Ablage würde mehr Erfolg versprechen und ginge schneller. Ich muss übrigens beiden Namen nicht suchen. Sie heissen (oder hiessen?) Felicitas Suter und Frau Moor. Sie waren gut zu mir.

Wenn ich beim ersten Alphabet-Durchlauf keinen Erfolg habe, gehe ich das Alphabet noch einmal durch, auf der Suche nach einer Markierung – einer nur schwach und kurz flimmernden Signallampe – die ich beim ersten Durchlauf übersehen haben könnte.  Oft geben sich der Name oder einzelne seiner Buchstaben dann beim zweiten oder dritten Durchlauf zu erkennen. Ein Buchstabe oder der ganze Name kommt sozusagen aus seinem Versteck hervor. Eine zusätzliche Hilfe ist es (sozusagen eine verfeinerte Suche), wenn ich mich an die Silbenzahl des Vor- oder Nachnamens zu erinnern glaube. Ich suche dann Dä Dä-dä-dä und setze die markierten Buchstaben ein (Joe Montana).

Es ist verblüffend, wie oft es mir gelingt, mit dieser simplen Methode innerhalb kürzester Zeit einen mir entfallenen Namen zu finden. Es scheint so, dass die Namen der Personen im Gedächtnis alphabetisch abgelegt sind und wenn man die in ihnen vorkommenden Buchstaben erwähnt, meldet das Hirn wie beim Schiffleinversenken einen Treffer.

Natürlich klappt die Methode nicht immer, aber sie führt in wesentlich mehr Fällen zum Erfolg, als sie kein Ergebnis hervorbringt. Allerdings gibt es interessanterweise auch Namen, die sich dieser Suchmethode strikte verweigern. Jimmy Durante ist so ein Fall. Aus Gründen, die ich nicht kenne, entfällt mir sein Name immer wieder, und jedes Mal, wenn mir seine Musik in den Sinn kommt, die ich sehr mag und die mit schönen Erinnerungen verknüpft ist, muss ich seinen Namen suchen. Auch bei ihm: ich könnte die Songs googeln oder in youtube eingeben, aber diese Suche würde dauern, denn viele der Songs, die ich von ihm kenne, stammen nicht von ihm („You must remember this, a kiss is just a kiss…“ / „As Time Goes by“).

Ich weiss, wenn mir ein Song von ihm in den Sinn kommt, jeweils nur noch, dass der Vor- oder Nachname aus dem Italienischen kommt und dass sein Nachname drei Silben hat, aber ich kann das Alphabet durchgehen, so oft ich will: ausser einem sehr schwachen und kurzen Flimmern der Signallampe beim Buchstaben A passiert gar nichts und dieses A führt mich auf rasch als falsch erkannte Fährten (Adriano, Alfredo, Antonio…).

Meistens kommt mir dann sein Name etwas später in den Sinn, oft innerhalb von einer oder zwei Stunden nachdem ich das Alphabet erfolglos nach ihm durchforstet hatte. „Jimmy Durante“ meldet er sich bei mir, mit einem Mix aus Beleidigung, weil ich die Suche nach ihm aufgegeben hatte, und Triumph, weil er die Buchstaben seines Namens wie kleine Hunde so gut dressiert und unter Kontrolle hatte, dass sie keinen Laut von sich gaben, als ich im Dunkeln ganz nahe an ihnen vorbeiging und ihre Namen rief. 

Wenn sein Name (Jimmy Durante) mir dann also wieder präsent ist, frage ich mich, wie ich es anstellen könnte, dass er das nächste Mal leichter zu finden wäre. Eselsbrücken sind immer eine gute Möglichkeit. Ich habe die Musik von Jimmy Durante vor einem Vierteljahrhundert beim Tennisspielen im Garten eines Freundes in den USA kennengelernt. Wir spielten ein gemütliches Doppel und über die Aussenlautsprecher seines Hauses konnte man „Make Someone Happy“ hören. Vielleicht könnte Jimmy Connors die Eselsbrücke zu Jimmy Durante sein?    

Vielleicht ist es aber auch gut so. Jimmy Durante hat offensichtlich den Dreh raus, wie er sich meiner Suche entziehen kann, und ich sollte ihm nicht mit neuen Methoden zu Leibe rücken, schon gar nicht mit Jimmy Connors, den ich nie besonders mochte. Jimmy Durante hat mich bisher jedes Mal aufgesucht, kurz, nachdem ich ihn erfolglos gesucht hatte, und wenn ich es mir überlege, ist das viel schöner als der kleine Triumpf einer erfolgreichen Suche.    

Manchmal muss man nicht nach Namen suchen. Sie kommen ganz von selbst und man weiss nicht, woher, geschweige denn warum sie einen so unverhofft aufsuchen. In der Nacht vom 28. auf den 29. November 2015 wachte ich in meinem Bett in Ankara auf und der Name eines kleinen Jungen mit schwarzen Haaren und fröhlichen Augen  kam mir in den Sinn, mit dem ich in den Kindergarten gegangen war. Heinz Ramildi.

Ich war eines schönen Nachmittags bei ihm zuhause zum Spielen und als ich nachhause ging, liess ich eine kleine Goofy-Figur mitgehen. Nach ein paar Tagen plagte mich mein Gewissen, und ich erzählte es meiner Mutter. „Du musst ihm die Figur zurückgeben“, sagte meine Mutter, und als ich ein nächstes Mal bei Heinz zu Besuch war, mischte sich Goofy wieder unter die anderen Spielsachen von Heinz, die am Boden verstreut waren. Wo immer Du bist, Heinz: es tut mir Leid.

Aber nicht genug mit Heinz und Goofy. Gleich nach Heinz kam Celal, ein türkischer Junge mit schwarzem Kraushaar, der mit Heinz und mir im Kindergarten war. Hatte Heinz ihn gerufen? „Hey, Celal, komm schnell, ich habe Walter gefunden!“

Mit Celal hatte ich eine Auseinandersetzung und er hat mich einmal auf dem Kiesplatz des Kindergartens zu Boden geworfen. Wurde das eine nächtliche Klassenzusammenkunft? Aber anstatt weitere Kindergärtner kamen als Nächstes Primarschüler. Regula, Roger und Maja, mit denen ich die 1.-3. Klasse besucht hatte.

Dann (wahrscheinlich war Maja das Verbindungsglied, da wir die gesamte Primarschule zusammen verbrachten) kam ein ganzer Schub von Namen aus der 4. bis 6. Primarklasse, es war ein lautes Gedränge und alle wollten gleichzeitig eintreten. „Langsam, langsam,“ sagte ich, „sonst sticht sich wieder einer ein Auge aus“ (was im Veloständer dieses nicht mehr existierenden Schulhauses tatsächlich passiert ist).

Ich stand aus meinem Bett auf, ging in mein Arbeitszimmer und begann an meinem Schreibtisch eine Liste der ankommenden Namen zu erstellen. Insgesamt waren es 21. Mit dem Lehrer (Otto Buchschacher) 22. Darunter Mitschüler, mit denen ich fast keinen Kontakt hatte, aber Maja hatte offenbar alle eingeladen. Ein Charterflug?

Dass danach auch noch die meisten meiner Klassenkameradinnen und Kameraden aus der Sekundarschule auftauchten, verwunderte mich bereits nicht mehr (Lehrer Pfaff und Gräser). Nur war es diesmal so, dass offenbar ein Name dem nächsten rief, bis dem letzten nichts mehr einfiel.

Die Liste der Namen meiner Mitschüler/innen aus dem Gymnasium stellte ich dann aktiv zusammen. Es schien mir angebracht, sie auch noch einzuladen, wenn das hier offensichtlich eine spontane Klassenzusammenkunft wurde mit mir als gemeinsamem Nenner. Wenn ich aktiv sage (im Gegensatz zu passiv bei den anderen Klassen, die mir erschienen, ohne dass ich etwas zu ihrem Erscheinen Beigetragen hätte), stimmt das auch nicht ganz. Ich habe lediglich die neue Kette ausgelöst. Philipp Grendelmeier, rief ich, und Philipp rief Thomas, Thomas rief Bruno, Bruno den anderen Thomas, dieser rief Rolf, und so weiter und so fort.

Irgendwann in dieser Nacht, in der ich nicht mehr zum Schlafen kam, trafen dann noch Kinder aus meiner Wohnstrasse am Hönggerberg ein, mit denen ich nicht zur Schule gegangen war. Einer meiner Primarschulkollegen war ziemlich ungehalten, als sie eintraten. «Was habt ihr hier zu suchen?», aber meine Frau, die vom ganzen Lärm der Veranstaltung längst aufgewacht war und die ganze Gesellschaft bewirtete (keine Ahnung, wie sie das wieder alleine hinkriegte), beruhigte die Situation. «Es hat noch mehr Flammenkuchen auf dem Esstisch. Bedient euch doch, bitte!»

Eine Handvoll Erwachsene begleitete die Kinder aus meiner Strasse. Zum Teil waren es Eltern der Kinder, mit denen ich nie zur Schule ging, zum Teil Paare ohne Kinder. «Frau Knupp,» sagte ich, «bin ich nicht gross geworden»? Sie hatte jedes Mal Freude am kleinen Walter, wenn sie mit einer Tragtasche voll Alkohol auf dem Heimweg war. «Und wussten Sie, dass ich vor vielen Jahren eine Geschichte über sie geschrieben habe? Keine Angst, man erkennt sie nicht sofort. Die Geschichte heisst Why do you drive so fast? und sie heissen Cynthia Knapp.»  

Sie kneift mich in die Backe und sagt etwas zu mir, was ich nicht mehr weiss, aber ich freue mich, dass sie nicht nach Alkohol riecht. Sie ist die erste, die ich in dieser Nacht umarme.  

Wovon ich schreibe, wenn ich vom Schreiben schreibe

15. Januar 2022

Im Jahr 2007, in dem ich zwei neue Hüftgelenke eingesetzt erhielt (neben meinen nach einem Sportunfall früh ersetzten beiden Schaufelzähnen die Ersatzteile 3 und 4 in meinem Körper) und von meiner ersten Frau geschieden wurde, erschien Haruki Murakamis Roman „Hashirukoto ni tsuite katarutoki ni boku no katarukoto“, was so viel heisst wie „Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede“.

Es ist ein Buch, von dem Murakami sagt, es sei «einfach ein Buch, in dem ich über verschiedenes nachdenke». Im Nachwort nennt er es dann später noch «Lebenserinnerungen», wobei ich vermute, dass das eine ungenaue Übersetzung sein könnte, und es im Japanischen wohl eher «Erinnerungen aus dem Leben» hiess, denn obwohl das Buch hauptsächlich aus  Erinnerungen aus dem Leben von Haruki Murakami besteht und insofern ein sehr persönliches Buch ist, vielleicht sein persönlichstes überhaupt, jedenfalls von denen, die ich gelesen habe, kann man es schlecht als Murakamis Lebenserinnerungen bezeichnen, denn er hat in seinem Leben viel mehr gemacht als geschrieben und gelaufen.  

Ich spreche kein Japanisch. Ich schreibe, aber ich laufe nicht. Mit einer Ausnahme: 1996 (ich lebte damals in Potomac, Maryland, und arbeitete in Washington, D.C.) habe ich etwa ein halbes Jahr lang für einen Marathon trainiert und dann – ich glaube, es war im Oktober – auch wirklich einen absolviert, den Marine Corps Marathon, der durch Washington führt. Er gilt allgemein als ein Marathon, der sich für Einsteiger eignet, für Menschen wie mich damals, die zum ersten (und, wie es sich bei mir herausstellen sollte, auch einzigen) Mal einen Marathon laufen, weil es ein flacher Marathon ist, ohne besondere Schwierigkeiten, ausser der Distanz natürlich, die es zu überwinden gilt.

Es war ein bewölkter Tag und irgendwann während des endlos scheinenden Laufens hat ein leichter Nieselregen eingesetzt. Ich war sehr zufrieden, als ich es endlich geschafft hatte, den Marathon zu absolvieren. Ich erhielt eine Medaille und eine Art Urkunde, die bestätigte, dass ich ein «Finisher» war. Aber am stärksten in Erinnerung geblieben ist mir nicht der Marathon selber, sondern einer der Trainingsläufe dem Potomac entlang, bei dem ich an einem frühen Samstagmorgen beinahe über einen Biber gestolpert wäre, der aus dem Potomac kommend unvermittelt meinen Laufweg kreuzte und im parallel zum Fluss verlaufenden Kanal verschwand.

Murakami hat die Werke von Raymond Carver ins Japanische übersetzt. Von dessen 1981 erschienenem «What we Talk About When We Talk About Love hat er sich das Strickmuster seines Titels „Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede“ ausgeliehen. Im Nachwort bedankt er sich bei Carvers Witwe Tess Gallagher für deren Freundlichkeit, ihm zu gestatten, den Titel auf seine Weise zu verwenden.

Tess Gallagher…? Tess Gallagher? Der Name läutet eine ferne Glocke… Natürlich! Ich stehe von meinem Schreibtisch auf und drehe mich zum Büchergestell hinter mir, wo meine zwei Laufmeter Gedichtbücher stehen. Nach weniger als einer Minute finde ich zwei Gedichtbände von Tess Gallagher. Instructions to the Double und Willingly. Ich meine mich zu erinnern, beide in einem Secondhand Buchladen in Vancouver gekauft zu haben.

Ich habe zuvor und danach in keiner anderen Stadt auch nur annähernd so viele Buchantiquariate gesehen wie in Vancouver. Wenn ich Gallaghers Gedichtbücher nicht in Vancouver gekauft habe, dann in einer der unzähligen Buchhandlungen, die ich 1983 auf einem halbjährigen Roadtrip durch die Vereinigten Staaten durchstöbert habe. Ich habe auf dieser Reise so viele Poetry Books gekauft, dass ich zwei oder dreimal einen Postsack, prall gefüllt mit (meist gebrauchten) Gedichtbüchern, in die Schweiz senden musste.

Die meisten dieser second hand poetry books haben meine über zwanzig Wohnortwechsel mitgemacht und ich nehme viele von ihnen immer wieder einmal mit der zweiten Hand aus dem Regal, weil mir ein Gedicht in den Sinn kommt. Aber es gibt auch einige unter ihnen, die ich, nachdem ich sie damals in der Buchhandlung durchgeblättert und dann in die Schweiz verschifft hatte, nie mehr geöffnet habe. Die beiden Bände von Tess Gallagher gehören zur zweiten Kategorie, obwohl mich „Instructions to the Double“ noch heute als wunderbarer Titel anspricht.

Als ich Willingly öffne, fällt ein Buchzeichen aus dem Buch. The Book Mantel, 2551 Alma Street, Vancouver, B.C. und auf der Rückseite: Frank’s Records (Vancouver’s largest selection of used records). Also hatte ich das Buch tatsächlich in Vancouver gekauft. Ich bin neugierig zu erfahren, ob es den Buchladen noch gibt, und die Suchmaschine führt mich auf einen Blog mit dem Titel: Vancouver As It Was: A Photo-Historical Journey.

Der Blog enthält einen Eintrag vom 3. Mai 2021 mit dem Titel: Gone . . . But Not Forgotten: Used/Antiquarian Bookshops (1970-2020). Im Beitrag sind alle antiquarischen Buchhandlungen aufgeführt, die zwischen 1970 und 2020 in Vancouver existiert haben und die es heute nicht mehr gibt. Es ist eine lange Liste. Bei einigen der verschwundenen Second Hand Bookstores hat es eine Fotografie der Besitzerin oder des Besitzers oder ein Bild der Fassade. Aber nur bei einem einzigen Eintrag ist ein Buchzeichen abgebildet: bei The Book Mantel, und es sieht fast genauso aus wie das, das ich in der Hand halte.  

Im Eintrag kann man lesen, The Book Mantel habe in den 80er-Jahren existiert und einer der Besitzer sei Frank Davis gewesen, dem auch Frank’s Records gleich nebenan gehörte. Davis sei 2017 gestorben und heute befände sich im Gebäude eine Versicherungsgesellschaft. Vielleicht sind die Versicherungspolicen ja die Gedichte des 21. Jahrhunderts. Gibt es Antiquariate dafür?

Von Raymond Carver habe ich vor vielen Jahren fünf Bücher gelesen. Obwohl vieles von dem, was er erzählt, mir als eher düster und trostlos in Erinnerung geblieben ist, habe ich seine Bücher sehr gerne gelesen und seine Art zu schreiben, gefällt mir. Bewundert habe ich auch immer wieder die ungewöhnlichen und oft genialen Titel seiner Kurzgeschichten. „Will you please be quiet, please?“ / “Call if you need me” / “What would you like to see?” / “Nobody said anything” / “What’s in Alaska?” / “Where I’m calling from” und eben “What we Talk About When We Talk About Love”. Die grösste Qualität dieser Titel ist, dass man (jedenfalls geht es mir so), wenn man sie liest, sich gleich hinsetzen möchte und eine Geschichte dazu schreiben.  

Murakami hätte seinem Buch aber auch den Titel «Die Einsamkeit des Romanautors» oder «Die Einsamkeit des Langtextschreibers» geben können, in Anlehnung an Alan Sillitoes «The Loneliness oft he Longdistance Runner». Es hätte den Vorteil gehabt, dass er Alan Sillitoe, der erst 2010 starb, noch direkt hätte fragen können, ob er seinen genialen Titel abwandeln dürfe. Aber nicht nur das: es hätte ihm erspart, sich umsonst oder am falschen Ort bedankt zu haben.  

Raymond Carver starb 1988 mit 50 an Lungenkrebs. Sechs Monate vor seinem Tod haben Tess Gallagher und er geheiratet, was in seinem Wikipedia Artikel im traurigen Eintrag resultierte: Verheiratet mit Tess Gallagher (1988-1988). Tess Gallagher ist über 90 und lebt heute in Irland. Ich frage mich, ob Haruki Murakami sie dort besucht hat, um sie zu fragen, ob er den Titel des Buches ihres Mannes abwandeln darf, oder ob er ihr lediglich geschrieben oder sie angerufen hat. Ich tendiere zur Annahme, dass er sie persönlich besucht hat. und wenn meine Vermutung zutrifft, bin ich mir fast sicher, dass er irgendwann darüber schreiben wird. Vielleicht sogar einen ganzen Roman. Was wäre wohl der Titel?

Beim Recherchieren über Raymond Carver bin ich heute über einen FAZ-Artikel gestolpert, und nachdem ich ihn zu Ende gelesen hatte, hätte ich es vorgezogen, ich wäre damals über den Biber gestolpert. Der Artikel beschreibt ausführlich, wie gross der Einfluss des Lektors Gordon Lish auf das Werk von Raymond Carver war.

Lish hat offenbar bei manchen Geschichten von Carver fast die Hälfte rausgestrichen, die Handlung abgeändert, die Sprache vereinfacht und die Dialoge gekürzt. Drei Viertel aller Carver Stories sollen von Lish ein neues Ende erhalten haben. Der Titel der Kurzgeschichtensammlung „Will You Please Be Quiet, Please?“, die Carvers Aufstieg zum gefeierten Autoren begründete, stammte ebenso von Lish wie fast alle anderen starken Titel von Carvers Geschichten.

Auch der geniale Titel „Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden“, stammt von Lish, der die Geschichte zudem um die Hälfte gekürzt haben soll. Carver hatte dafür den Titel „Anfänger“ vorgesehen. Als Carver die Druckfahnen seines zweiten Buchs sah, soll er Lish angefleht haben, den Druck zu stoppen. Dieser soll ihn aber überredet haben. Das Buch erschien 1981 in der von Lish lektorierten Form und wurde zu einem grossen Erfolg.  

Erst nachdem Carver mit der Dichterin Tess Gallagher zusammengezogen war und mit dem Trinken aufgehört hatte, emanzipierte er sich von Lish und beendete schliesslich die Zusammenarbeit mit ihm.

Es ist mir nicht bekannt, ob Haruki Murakami unterdessen weiss, dass er an der falschen Stelle um Erlaubnis bat, den Titel «What we talk about …» abwandeln zu dürfen. Ich habe meinerseits darauf verzichtet, bei Gordon Lish nachzufragen, ob er etwas gegen den Titel dieses Blog Eintrags einzuwenden habe. Ich habe ihm wie viele andere Leserinnen und Leser viel zu verdanken, aber danke sagen mag ich ihm dafür nicht.

Meine Frau und ich werden Wien Ende Jahr verlassen. Wenn wir nach dem Auszug wieder irgendwo einziehen, wäre es schön, wenn mich jemand (irgendjemand) daran erinnern könnte, dass ich die beiden Gedichtbände von Tess Gallagher im Büchergestell direkt neben die fünf Romane von Raymond Carver stelle, damit die beiden noch etwas länger zusammen sein können.  

Als der Esel über die Brücke kam

15. Januar 2022

Die Arztvisite folgte unmittelbar auf meine Rückkehr von meiner Expedition und natürlich hatte ich Schmerzen, die hauptsächlich vom assistierten Aufstehen und wieder ins Bett Kriechen herrührten, aber auf die Frage des Oberarztes, wie ich mich fühle, sagte ich ohne zu zögern: „Gut!“. Er war ziemlich jung und hatte eine einseitige Punkfrisur, und vielleicht war er mit seinem weissen Kittel gar kein Oberarzt, sondern lediglich der diensthabende Stationsarzt, denn es war Sonntag und das Spital lief nicht auf allen Zylindern.

Aber vielleicht war ich ja auch kein richtiger Patient und wir befanden uns alle in einem postum veröffentlichten Roman von Stanislaw Lem, in dem nicht nur die Dame am Empfang sondern auch der Autor längst nicht mehr wussten, wo die Realitätsebene gerade lag. Mit Bettenfahrstühlen war sie jedenfalls nach drei Tagen Schmerztherapie mit hin und wieder ein paar Substanzen aus dem Milchsaft des Schlafmohns nicht mehr zu erreichen.

Mit seinen zwei noch jüngeren Assistenzärzten, die hinter ihm stehend alles in ihre iPads tippten, was der Stationsarzt von sich gab (“Drei … auf jeden Fall, und 5 Tage ist eine gute Dauer”), hätten sie gut als das Leibarzttrio des gescheiterten Bundeskanzlers durchgehen können.

Ich fragte noch, ob die Bülow-Drainage noch lange meinen Brustkorb leerpumpen müsse, weil es mir schien, als würde sie mir mehr Schmerzen bereiten als alle sechs gebrochenen Rippen zusammen, aber er reagierte nicht auf meine Frage (ausser die 5 Tage wären seine vorweggenommene Antwort gewesen – haben Sie den Kopf angeschlagen?) und teilte mir stattdessen – bereits unter der Türe stehend – mit, das gestrige Röntgenbild hätte nichts Auffälliges zu Tage gefördert. Mich hätte auch das Unauffällige interessiert, denn schliesslich ging es um meine lädierte Lunge, aber die Arztvisite war beendet und ich senkte das Kopfteil per Knopfdruck wieder ab.

Die Visite hatte keine drei Minuten gedauert. Wenigstens blieb mir diesmal die Frage nach meinen Schmerzen auf einer Skala von 1-10 erspart. Moment, ich schau gleich nach!

Ich musste mich nun zuerst ein wenig erholen. Nicht von der Visite, aber von meiner Morgen-Expedition zur Toilette. Mich aufrichten (lassen), auf der Bettkante sitzen, aufstehen und mit dem Rollator den langen Marsch zur Toilette (ich schätze ihn auf 6, maximal 7 Meter) in Angriff nehmen, mich vor der Toilette stehend sammeln (alles natürlich unter Aufsicht eines Pflegers oder einer Pflegerin), nach geraumer Weile pinkeln, gottseidank, dann unter Stöhnen umdrehen, hinsetzen und 10 Minuten ergebnislos sitzen.

Dann gerade noch rechtzeitig (nicht einschlafen!) die rote Reissleine ziehen und den Bremsfallschirm öffnen, der mich kurz vor dem Aufprall auf dem Boden am Fuss der gewundenen Treppe mit einem Ruck hochhebt und mich und die Hunde sanft landen lässt. “Schwein gehabt”, lache ich zu meinem Kulturteam, das auf mich und die Hunde gewartet hatte, um ein Weihnachtsvideo zu drehen, das von Botschaft zu Botschaft um die Welt gegangen wäre. Wahrscheinlich auch ist, einfach ohne mich. So eine blödsinnige Idee aber auch (Haben Sie den Kopf angeschlagen?).

Es zahlt sich eben doch aus, dass ich diese geschwungene Holztreppe nie ohne Fallschirm hinuntergehe, auch wenn mich der eine oder andere Gast oder Mitarbeiter deswegen hinter meinem Rücken sicher schon belächelt hat.

Vor mir hätten zwei ruhige Wochen gelegen, mit einer durch die Covid-Massnahmen leergefegten Agenda und viel Zeit zum Schreiben und American Football schauen, bis dann nach Weihnachten zwei meiner Kinder nach Wien gekommen wären und Anfang Jahr auch meine Frau, die gerade in Israel weilte, um zum zweiten Mal Grossmutter zu werden. Viva la doppia nonna! (Grossmutter mag sie nicht).

Nun liege ich also im Allgemeinen Kranken Haus im 9. Distrikt in Wien und erkläre der ebenfalls weiss gekleideten Frau, die sich alle erdenkliche Mühe gibt, mir ein paniertes Etwas, diesmal mit Reis, schmackhaft zu machen, dass ich es wie gestern und vorgestern und übrigens auch morgen nicht essen werde, danke, aber nein danke.

„Die zwei Semmel vom Frühstück reichen völlig, um meinen Kalorienbedarf zu decken, gute Frau. Ich kann mich ja kaum bewegen“. Ich esse eine Hälfte um 9, eine um 11, eine um 15 Uhr zum Tee und eine am Abend, um mich zu stärken für die zweite Expedition des Tages, die mir jeweils etwas leichter fällt als die Morgenexpedition, nach all den Schmerzmitteln die tagsüber in mich getropft sind oder die ich geschluckt und unter der Zunge habe vergehen lassen.

Es geht mir gut. Es geht mir wirklich gut, auch wenn die rasche Antwort an den Oberarzt eher einem Reflex entsprang, den ich – nicht nur gegenüber Ärzten mit Punkfrisur – in meinem nun schon recht langen Leben entwickelt habe, vor allem in Spitälern. Man landet sonst unvermittelt in der Röhre und die Krankenkasse weigert sich später, die Rechnung zu bezahlen (“Embolien und Sturzgeburten werden bei uns ambulant abgehandelt”).

„Haben Sie den Kopf angeschlagen? Ich muss Sie das fragen.“ Ich öffne die Augen und sehe eine junge Frau in einem blauen Kittel. „Nein“ sage ich. Ich wiederhole mich gerne, denn ich habe wirklich kein Kopfweh. Dann schliessen sich meine Augen wieder. Erst ein paar Tage später stelle ich fest, dass ich doch eine kleine Beule habe, hinten links, und denke, dass es eigentlich unverständlich ist, dass nach einem solchen Sturz niemand meinen Kopf abgetastet hat. Wie hätte ich meinen Kopf spüren sollen, wenn die Schmerzsignale von den sechs gebrochenen Rippen wie eine Blechkapelle alles andere übertönten? Aber vielleicht haben sie meinen Kopf ja abgetastet, mehrmals und sorgfältig. Man kriegt nicht alles mit.  

Nach weiterem Überlegen komme ich rasch zum Schluss, obwohl ich momentan mehr Zeit hätte, nachzudenken, dass es mir nicht nur gut, sondern ausgezeichnet geht. Wer ganz oben auf einer geschwungen Holztreppe mit 36 Stufen ins Wanken kommt und mit zwei Zwergpudeln unter den Armen die ganze Treppe hinunterstürzt, weil er einen Fehltritt mit dem nächsten ausbalancieren will und schliesslich in horrendem Tempo unten ankommt, kurz vor dem fürchterlichen Aufprall auf dem Boden die Pudel in die Höhe werfend, damit sie sich nicht verletzen (man denkt tatsächlich im Fallen), der hat unfassbares Glück gehabt, wenn alles, was er davonträgt, sechs gebrochene Rippen und ein Pneumothorax sind. Obwohl man – und ich erwähne das hier nur deshalb, weil es mir in den Sinn kommt, nicht weil ich einen Hang zum Dramatischen hätte – mit gebrochenen Rippen noch nicht ganz aus der Herberge ist, wie die Franzosen so schön sagen. Aus dem Spital übrigens auch nicht, und das ist wohl gut so.

Vor vielen Jahren, ich war damals um die Vierzig und hatte mich gerade von meiner ersten Frau getrennt, fuhr ich einmal mit meinem gelben Motorrad von Bern nach Zürich zu einer Frau, die ich ein paar Wochen zuvor auf einer Dating-Plattform kennengelernt hatte. Ihr Name fällt mir gerade nicht ein, aber ich wüsste ein paar Eselsbrücken, über die ich ihn wahrscheinlich schnell finden würde. Es scheint mir jedoch besser und irgendwie anständiger, respektvoller, ihn nicht zu nennen, auch wenn wir nichts Unanständiges miteinander angefangen haben, damals.  

Sie wohnte in einem Aussenquartier von Zürich und ihr Wohnort hatte mich zusammen mit ihrem Namen, sofern es denn ihr richtiger Name war, und nicht lediglich ihr Plattformname, vermuten lassen, dass sie vielleicht einen meiner Freunde kenne könnte, der hier aufgewachsen war.

Es war dann aber nicht der Fall. Das heisst, ich habe sie gar nicht danach gefragt, weil ich im Augenblick, als sie die Türe öffnete, wusste, dass sie meinen Freund nicht kannte. Ebenso rasch wusste ich bei ihrem Anblick und noch mehr beim Anblick ihrer Wohnung, dass es ihretwegen keine zweite Fahrt von Bern nach Zürich geben würde. Nicht am Feierabend und schon gar nicht an einem Wochenende.

Es war nicht, dass sie nicht hübsch gewesen wäre. sie war durchaus hübsch, aber sie machte auf mich von der ersten Sekunde weg einen ganz und gar biederen Eindruck. Wobei ich mich gleich bei ihr entschuldigen möchte, für den sehr unwahrscheinlichen Fall, dass sie diese Zeilen irgendwann einmal lesen und sich darin wiedererkennen sollte.

Was heisst bieder und was meine ich damit (meist nicht das gleiche)? Ich kann bieder schlecht erklären, aber vielleicht ist das bereits die Erklärung. Am besten erzähle ich, wie es weiterging. Vor dem Nachtessen sassen wir nebeneinander auf ihrem Sofa und tranken Tee. Es war so, als würde ich mit einer Nachbarin meiner Mutter, die mich freundlicherweise eingelassen hatte, warten, bis meine Mutter, die meinen angekündigten Besuch vergessen haben musste, nachhause kommt.

Irgendwann ergriff ich ihre Hand, aber nach einer Weile liess ich sie wieder los. Als meine Mutter noch immer nicht kam, gingen wir zu Tisch und sie erzählte mir, dass sie sich diese Wohnung vor vier Jahren (oder waren es sechs?) gekauft hatte. Bald nach der Scheidung. Diese Wohnung sei das Allerwichtigste für sie. Ja, ich glaube, das hat sie so gesagt: das Allerwichtigste.

Obwohl die Frau etwa in meinem Alter war, (“Frau, in Deinem Alter, mit Sofa, sucht Kontakt”) war sie gekleidet wie eine Nachbarin meiner Mutter und ihre Einrichtung sah aus wie ich mir die Einrichtung der Nachbarin meiner Mutter vorgestellt hätte, wenn ich darüber nachgedacht hätte. Sie habe ihre Wohnung sehr sorgfältig (womit sie geschmackvoll gemeint haben muss) eingerichtet und sie lasse nicht viele Leute in ihre Wohnung, sagte sie. Der Zusammenhang offenbarte sich mir nicht sofort, aber ja, ich nahm gerne noch drei Bratkartoffeln.

Wir tranken je ein Glas gekühlten Weisswein und ein Glas wohltemperierten Rotwein und ich überlegte mir angesichts der bereits ziemlich missglückten Begegnung, ob ich ihr von meinen richtigen Kindern oder von erfundenen erzählen sollte, falls sie mich nach ihnen fragen würde. Aber sie fragte mich nicht. Stattdessen erzählte sie mir von ihrem Grossvater, den sie sehr geliebt habe.

Er sei vor einem halben Jahr in seinem geliebten Garten beim Kirschenlesen von der Leiter gefallen (eine Sprosse sei gebrochen) und habe sich zwei Rippen gebrochen. Nach zwei Tagen im Spital habe man ihn entlassen und in der ersten Nacht zuhause sei er gestorben, weil eine der gebrochenen Rippen seine Lunge durchstochen habe. Tränen kamen ihr hoch. Ich legte meine Serviette gefaltet neben meine Teller und ging um den Tisch herum, um sie zu trösten.

Daraus ergab sich unser erster Kuss und bald darauf waren wir in ihrem Bett, das aussah wie das Bett, das in meiner Erinnerung im Schlafzimmer meiner Grosseltern stand. Sogar ein Kreuz hing über dem Kopfteil, ich konnte es kaum glauben, und ich kam mir vor, als würde ich ihr gerade dabei helfen, ihren betagten Mann zu betrügen und meine Mutter schwer zu enttäuschen.

Als wir fertig waren und ich zu ihr sagen wollte, es sei schon spät und es daure eine ganze Weile, bis ich mit dem Motorrad zurück in Bern sei, sagte sie überraschenderweise, ich könne bei ihr übernachten. “Oh…” sagte ich.

“Nimm Dein Kissen mit” sagte sie, und ging mir voran „Die sind besser als die im Gästezimmer.“ Ich schluckte leer, nahm das Kissen unter den Arm und folgte ihr ins Gästezimmer. Sie hatte sogar eine frische Zahnbürste und Zahnpasta für mich. Ich küsste sie auf die Stirne, wie man das nach 20 Jahren Ehebruch macht, merkte mir die Möbel im Flur, damit ich in der Dunkelheit nicht darüber stolpern würde, und legte mich in ihr Gästebett.

Mein Plan war, zu warten, bis Maggie (sobald ich die Augen schloss, kam der Esel über die Brücke) schlafen würde, und dann leise zu verschwinden. Der Schlüssel, dessen hatte ich mich versichert, steckte. Aber wie lange würde ich warten müssen, bis Maggie sicher schlief? So adrett wie sie war, durfte ich nicht darauf hoffen, dass sie schnarchte.

Als ich mich gerade mit dem Gedanken anzufreunden begann, die Nacht im Gästebett zu verbringen und frühmorgens mit dem glaubhaften Hinweis auf eine frühe Sitzung die Flucht zu ergreifen, öffnete sich die Türe und Maggie kroch unter meine Decke.

Ich sah aufziehende Schmach. Wie sollte ich nur 10 Minuten nach einem durchschnittlichen Vergnügen bereits wieder meinen Mann stellen? Aber meine Befürchtung war völlig umsonst. Sie küsste mich mit einer Innigkeit, die mich im Nu wieder weckte und am Ende erhob sich ihr Grossvater inmitten eines Spatzenschwarms (oder waren es Amseln?) aus dem Kirschbaum und drehte fröhlich zwitschernd über dem Milchbuck in Richtung Bern ab. Maggie und ich schliefen zufrieden ein (jedenfalls glaubte ich, dass sie das auch war), eng umschlungen und unsere Köpfe nebeneinander auf einem ihrer Qualitätskissen.

Auf der Fahrt nach Bern am kommenden Morgen hielt ich bei der Tankstelle in Würenlos und sah, dass eine stattliche Heuschrecke es sich auf meinem Lenker bequem gemacht hatte. Sie sass direkt neben der Kupplung und machte keine Anstalten, abzuhauen, als ich sie berührte. Sie wollte offensichtlich mitfahren, und das tat sie dann auch. Erst in Ausserholligen, an der Freiburgstrasse, als ich mein Motorrad die kleine Rampe hoch in den Keller rollte, hüpfte sie in die Wiese.

Ich hatte es nicht eilig, denn anstelle einer erfundenen frühen Sitzung erwartete mich ein freier Tag. Ich suchte und fand die CD von Rod Stewart, machte mir einen Kaffee und rauchte auf dem Balkon eine Zigarette. „Oh Maggie I Shouldn’t have tried…. anymore“.

Maggie wäre in der kurzen Reihe von Frauen, die ich damals auf Plattformen kennenlernte, irgendwo in der Mitte der Skala von 1-10 gelandet, wenn ich damals eine Skala gehabt hätte. Eine 10 hätte ich nie vergeben können. Aber ich war ja selber auch weit davon entfernt, eine 10 zu sein, hätten die Frauen eine Skala benutzt. Maggie war eine überraschende 5, die als 2 angefangen hatte.

Die schlechteste Bewertung hätte ich einer Frau aus Solothurn geben müssen. Ich besuchte sie mit dem Zug, da die Wettervorhersage für die Nacht Regen angesagt hatte. Wir sassen auf ihrem Sofa (alle meine Dates hatten ein Sofa) und haben geredet, während der Fernseher lief. Ich kann es nicht haben, wenn der Fernseher läuft, ohne dass man sich eine Sendung wirklich anschauen will, aber ich sagte nichts.

Ich weiss nicht mehr, worüber wir geredet haben, und noch viel weniger könnte ich sagen, was am Fernseher lief. Nach einer ganzen Weile auf dem Sofa haben wir uns geküsst, glaube ich, obwohl kein einziger Grossvater gestorben war, und dann sind wir irgendwann in ihrem Bett gelandet. Dort hat sich ausser ein paar weiteren Küssen nichts Nennenswertes ergeben und irgendwann, kurz vor Mitternacht, sagte sie wie aus dem Nichts: „Du kannst übrigens nicht hier übernachten“.

„Und das sagst Du mir erst jetzt?“ antwortete ich, sprang auf und zog mich so schnell es ging an. „Der letzte Zug fährt in 8 Minuten…“ Ich stürzte aus der Wohnung und rannte durch den strömenden Regen in Richtung Bahnhof. Ich hatte Glück und erreichte den Zug gerade noch – zusammen mit dem Schaffner sprang ich völlig durchnässt und nach Atem ringend in den letzten Wagen, der sich, so schien es mir, bereits in Bewegung gesetzt hatte.

Was für eine saublöde Kuh, dachte ich. Es war völlig OK, dass nichts lief, und ebenso OK, dass sie nicht wollte, dass ich die Nacht bei ihr verbrachte. Aber sie wusste, dass ich mit dem Zug gekommen war, sie kannte die Distanz zum Bahnhof und sie muss gewusst haben, dass es nach Mitternacht keine Züge mehr gab.

Am nächsten Abend schrieb sie mir eine Mail und teilte mir mit, sie möchte mich wiedersehen, was mich einigermassen verblüffte. Ich hatte offenbar ihren „Rennt durch den Regen nach Hause“ Test bestanden, aber ich verspürte keinerlei Lust, sie wiederzusehen. Wer weiss, was sie noch für Tests auf Lager hatte.

Ich änderte noch am selben Abend mein Profil auf der Dating Website. „Mann um die Vierzig sucht Frau ohne Sofa. Mietwohnung in unmittelbarer Nähe des Bahnhofs angenehm.“ Aber es sollte mein letztes Date gewesen sein. Wenige Tage später stellte mir ein Freund, der im selben Quartier wie Maggie aufgewachsen war, seine Exfreundin vor, die dann meine Freundin wurde und 7 Jahre lang blieb. Sie hat den Hüftwechsel noch miterlebt.

Ich blieb nach meinem Treppensturz 8 Tage lang im Spital. Im Patientenbrief, den ich bei der Entlassung aus dem Allgemeinen Krankenhaus erhielt, stand neben anderen Dingen auch der Satz: „Der Patient gibt an, den Kopf nicht angeschlagen zu haben, obwohl er mehrmals danach gefragt wurde.“ Die Sache mit dem Kopf scheint wichtig zu sein. Während man bei sechs gebrochenen Rippen (immerhin die Hälfte des linken Brustkorbes) nur warten kann, bis sie von selbst verwachsen. Gestern ist die harte Kruste des Eingangs der Drainage abgefallen. Ich hielt sie in der Hand und sie erinnerte mich an die unzähligen Krusten, die ich als Kind so gerne von meinen Knien gekratzt hatte. Verrückt, was seither alles passiert ist.    

Sonntag, den 21. November 2021

21. November 2021
  • aus dem Tagebuch eines Schreibenden

Gestern bin ich nach einem Unterbruch von mehreren Wochen wieder zu meinem Roman-Manuskript zurückgekehrt. Die Schreibpause war offenbar zu lange. Meine Hauptfigur, ein sechzehnjähriger Klempnerlehrling, fand ich mies gelaunt und unwillig, weiterhin als Ich-Erzähler zu fungieren, auf Seite 24, wo er gerade damit beschäftigt war, die Seitenzahl abzumontieren (auf den vorherigen Seiten fehlte sie bereits).

„Such Dir einen anderen“, waren seine Worte, ohne aufzublicken. „Ich bin raus hier.“ Es hat mich einiges gebraucht, ihn umzustimmen. Er willigte erst ein, zu bleiben, als ich ihm zugestand, dass er die weitere Handlung mitbestimmen darf. Das schränkt mich zwar ein, und ich mag Einschränkungen nicht, aber Mitbestimmung ist ein vager Begriff. Ich werde mir von einem 16-Jährigen die Handlung meines ersten Romans nicht vorschreiben lassen. Er ist der Erzähler, aber ich schreibe. Er wollte noch als Co-Autor auf dem Buchdeckel aufgeführt werden, aber das habe ich kategorisch abgelehnt. Eher, sagte ich zu ihm, suche ich mir eine andere Hauptfigur. Seinen Namen durfte er ändern und die Seitenzahlen muss ich selber wieder einfügen.

Eine weibliche Nebenfigur will gegen mich Klage einreichen wegen Vernachlässigung, oder hat das bereits getan, sie war so wütend, dass ich sie kaum verstanden habe. Und dies, obwohl in meinem Manuskript noch kein Gericht und auch keine Anwälte vorkommen. Ist sie alleine vorausgegangen? Wie weit? Und woher weiss sie, wie es weitergeht? Und wenn es im Verlauf der Geschichte zu einer Sexszene kommen sollte (die Hauptfigur möchte das unbedingt): wird sie dann auch Klage einreichen? Auch gegen mich?  

Vier Randfiguren sind verschwunden und ich musste sie suchen gehen. Einen habe ich nach kurzem Überlegen in einer Kurzgeschichte von Mark Twain wieder gefunden (er hatte kein Geld mehr und schien erleichtert, als er mich sah), einen anderen vermute ich in einem Roman von Lars Gustafsson, den ich unlängst gelesen habe. Ich bin zuversichtlich, dass er wieder auftauchen wird, falls er die Hauptfigur, einen sterbenden Imker, nicht bis ans Ende begleitet.    

Den dritten, einen Zyniker, dem ein Bein fehlt, werde ich wohl abschreiben müssen, oder, besser gesagt, neu schreiben. Er hat mir eine Postkarte geschrieben, die – gemäss Poststempel – nur vier Tage, nachdem ich zum letzten Mal an meinem Manuskript gearbeitet habe, in Odessa abgesandt wurde. „Habe mich der Reiterarmee angeschlossen“, stand grusslos auf der Rückseite der Karte, auf deren Vorderseite der Primorskij-Boulevard abgebildet ist.

Abgesehen davon, dass ich mir schwer vorstellen kann, wie er mit nur einem Bein reiten kann, hätte ich nie gedacht, dass er Isaak Babel liest. Bin überhaupt erstaunt, dass er liest. Aber das zeigt nur wieder einmal, wie schlecht wir unsere Figuren kennen. Vielleicht müsste ich beginnen, mit einem Zettelkasten zu arbeiten, wie es Schriftsteller früher beim Verfassen längerer Werke getan haben. Vor drei Tagen war in der NZZ ein Artikel über solche Zettelkästen abgedruckt, die für Autoren wie Arno Schmidt, Niklas Luhmann und Hans Blumenberg offenbar das wichtigste Arbeitsinstrument waren. „Vielleicht wird das Wirkliche erst wirklich, wenn es auf eine Karteikarte gebannt ist“, stand in der Überschrift des Artikels. Vielleicht wird es auch erst wirklich, wenn die Gewerkschaft der Romanfiguren damit einverstanden ist.

Die vierte Verschwundene hat den Vogel abgeschossen. Wie sie es in wenigen Wochen geschafft hat, von einer eher unwichtigen Nebenfigur in einem Romanmanuskript, das wie meine früheren Manuskripte vielleicht nie zu Ende geschrieben wird, in einem Gedicht von Dylan Thomas die Hauptrolle zu übernehmen, ist mir schleierhaft. Ich kann ihr nur gratulieren und wünsche ihr alles Gute.

Habermanns Verfolgung

18. September 2021
  • eine Geschichte in 4 Etappen

Prolog, Silver Spring, Maryland, USA, an einem sonnigen Herbstmorgen im Jahr 1998

Ein Mann im dunkelgrauen Anzug und mit Sonnenbrille betritt den Eingangsbereich eines Ford Händlers, durchquert die Halle und tritt an den Schalter. Die Empfangsdame begrüsst ihn mit den Worten:
«Guten Morgen, mein Herr, was kann ich für Sie tun?»
«Frederik Johnson, FBI» (er zeigt seinen Ausweis) «Ich brauche die Akten eines Ihrer Kunden: George Habermann. Ein roter Ford SHO.»
Die Empfangsdame lacht. «Da müssen Sie mir aber sagen, welcher der beiden Sie interessiert. Es gibt nämlich zwei George Habermann, die einen roten Ford SHO fahren! Unglaublich, nichtwahr?»
«Ich weiss, aber einer ist verschwunden. Ich brauche den anderen.»

Erste Etappe: Die Tochter der Wahrsagerin (Obersaxen – Washington, D.C.)
vier Jahre vorher, im August 1994

Es ging gar nicht. Es war völlig unmöglich. Wie sollte er sein zweites Ich einholen, das drei Jahre vor ihm gestartet war und somit eigentlich sein erstes Ich war? Es war völlig undenkbar, dass ein Mensch zweimal geboren wurde, im Abstand von wenigen Jahren, und doch hatte die junge Frau genau das behauptet, und zwar nicht von irgendjemandem in einer erfundenen Geschichte, sondern von ihm, George Habermann.

„Du bist nie ganz bei Dir, weil Du Dir vorausgeeilt bist. Wenn Du zu Dir finden willst, wenn Du ganz werden willst, musst Du Dich auf Deine Fersen machen. Und zwar schnell. Je länger Du wartest, desto schwieriger wird es für Dich, dich noch vor dem Ziel einzuholen.“

Und für diesen Unsinn hatte er auch noch 50 Dollar bezahlt, in einer Seitengasse des Dupont Circle in Washington, D.C. Der Schwiegersohn eines längst verstorbenen Schweizer Kinderbuchautors, dessen im Engadin spielende Werke jedes Kind seiner Generation kannte, hatte ihm eine Wahrsagerin empfohlen. Er halte sonst nichts von Wahrsagerinnen, hatte er ihm versichert, aber jedes Mal, wenn er in Washington sei, besuche er sie, und sie enttäusche ihn nie. Es sei einfach unglaublich, was sie über sein Leben wisse, ohne dass er ihr je auch nur das Geringste über sich erzählt habe, und ebenso verblüffend sei, wie oft das, was sie ihm voraussage, dann auch tatsächlich so oder ähnlich eintreffe. Und das alles für 25 Dollar.

Habermann hielt noch weniger als nichts von Wahrsagerinnen und spätestens als er an der Türe klingelte und eine jüngere Frau öffnete und ihm erklärte, ihre Mutter sei krank, aber sie würde sie vertreten, hätte er es sein lassen sollen. Stattdessen folgte er ihr die Treppe hoch in ein nur schwach ausgeleuchtetes Zimmer und setzte sich ihr gegenüber an den kleinen Tisch, auf dem keine Kristallkugel stand – wenigstens das nicht, dachte er.

Wie die Vertretung der Wahrsagerin (wer sagte, dass es sich wirklich um ihre Tochter handelte, und nicht um die Reinigungskraft, die ihre Chance auf ein paar leicht verdiente Dollar gekommen sah?) wissen konnte, dass er in der Schweiz eine ältere Schwester und einen jüngeren Bruder hatte, und dass seine Eltern einige Jahre zuvor kurz nacheinander ums Leben gekommen waren, konnte er sich dann allerdings nicht erklären.

Er hatte sich vorgenommen, der Wahrsagerin keinerlei Informationen über sich zu geben, die sie ihm später auftischen konnte, und hatte das auch mit ihrer Tochter so gehalten. Ja und Nein waren seine einzigen Antworten auf ihre Fragen. Wie es schon in der Bibel geschrieben stand: „Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein; was darüber ist, das ist vom Übel.“ Als hätten die Autoren das digitale Zeitalter vorausgeahnt und ganz nebenbei einen Leitfaden für den Umgang mit Wahrsagerinnen und ihren Töchtern verfasst.

Hatte der Schwiegersohn des Kinderbuchautors vielleicht Informationen über ihn hinterlassen? Wusste er, den er nur zweimal getroffen hatte, im Zusammenhang mit einem Ausstellungsprojekt, das nie zustande kommen sollte, diese Dinge überhaupt? Hatte er sie ihm womöglich erzählt? Es war praktisch ausgeschlossen, obwohl er manchmal zu viel redete, wie ihm seine Frau ab und zu vorhielt. Also beschloss er, anstatt aufzustehen und diesen totalen Blödsinn abzubrechen, sitzenzubleiben und der jungen Frau zuzuhören. Er hatte noch etwas Zeit, bevor seine Mittagspause zu Ende war.

Hatte sie tatsächlich die Gabe Ihrer Mutter geerbt? Oder hatte auch ihre Mutter keine Gabe und ihrer Tochter lediglich das raffinierte Geschäftsmodell beigebracht, während ihr für Prophezeiungen weniger begabter Sohn im Hinterhof den Kilometerstand von Gebrauchtwagen manipulierte?

Nach ein paar weiteren erstaunlichen Aussagen über Habermanns Vergangenheit und seine Gegenwart kam die junge Frau ins Stocken. Sie stützte ihren Kopf in beide Hände, schloss die Augen und begann leise zu stöhnen.
„Ist Ihnen nicht gut?“ fragte Habermann? „Kann ich Ihnen ein Glas Wasser bringen?“ Er hatte zwar keine Ahnung, ob und wo es hier Wasser gab, aber es gab hier bestimmt eine Astgabel, mit der er nach Wasser suchen konnte. Oder ein Pendel.

„Du bist nicht ganz“, sagte sie, ohne die Augen zu öffnen.
„Nicht ganz was?“ fragte Habermann, und dachte: Nicht ganz bei der Sache? Nicht ganz gebacken?
„Du bist nicht ganz. Du bist nicht Dein ganzes Ich.“
„Will heissen…?“
„Ein Teil von Dir ist bereits unterwegs, ist Dir voraus. Vielleicht zwei, drei Jahre, vielleicht auch mehr, schwer zu sagen.“
„I see…“ sagte Habermann, obwohl er in diesem Augenblick weder etwas sehen noch etwas verstehen konnte.
„Du wurdest schon einmal geboren und wenn es Dir nicht gelingt, Dich einzuholen, wirst Du nie ganz sein.“ Mit diesen Worten öffnete sie die Augen.
„Das macht 50 Dollar“
„50?“ fragte Habermann, „Man hatte mir 25 gesagt…“
„Davon weiss ich nichts“ sagte die Tochter der Wahrsagerin, ohne mit den künstlichen Wimpern zu zucken.

Was konnte man tun, wenn sie nichts davon wusste? Wahrscheinlich hatte sie beim Frühstück in ihrem Kaffee gesehen, dass heute ein Europäer kommen würde, der das Doppelte des üblichen Preises bezahlt.

„Möchten Sie eine Verlängerung?“
„Nein, danke“ sagte Habermann, und gab ihr die 50 Dollar. Wer wusste, was bei einer Verlängerung noch alles zum Vorschein kommen würde. Vielleicht war er mit einem vorausgeeilten Teil seines Ichs, das er nun würde einholen müssen, noch gut bedient. Vielleicht gab es noch andere Ichs, die schon wesentlich mehr Vorsprung hatten, oder er würde von einem halben Dutzend später geborenen Ichs erfahren, die ihm wie eine Meute hechelnder Hunde auf den Fersen waren.

Als er ihr die Treppe hinunter zum Eingang folgte, fragte er sie: „Und wie macht man das, wie holt man sich selber ein?“
„Wie beim Velorennen“ sagte sie mit einem Lächeln, während sie ihm die Türe aufhielt, die hinter ihm ins Schloss fiel.

Habermann überquerte die Strasse und nahm die Rolltreppe hinunter zur Metro. Wie man so tief unter einer Stadt ein ganzes U-Bahnnetz bauen konnte, konnte er sich nicht wirklich vorstellen. Die Pyramiden von Gizeh? Gut, das war auch kein kleines Wunder, aber Stein auf Stein und mit unendlich viel Zeit und Sklaven konnte er es sich vorstellen. Ein U-Bahnnetz tief unter eine bereits existierende Stadt zu legen, überstieg hingegen seine Vorstellungskraft. Und trotzdem hatten sie genau das getan.

Was hatte sie gemeint mit Wie beim Velorennen? Er war kein grosser Radsport-Fan und wusste entsprechend wenig über Velorennen. Das einzige Rennen, das er sich hin und wieder im Fernsehen anschaute, war die Tour de France. Was er dabei neben den schönen Landschaften am meisten mochte, war, wie die Mannschaften funktionierten. Wie sie eine Taktik hatten, um ihre Sprinter in Position zu bringen für Zwischenwertungen und Etappensiege oder wie sie ihre Leader zum Gesamtsieg führten, wie die einen für die anderen arbeiteten und alles einem Plan folgte, einer Strategie, die manchmal sogar aufging.

Aber was hatte das mit seiner Situation zu tun? Er hatte kein Team, das ihn an sein ausgerissenes Ich hätte heranführen können. Hatte sie ein Einzel-Zeitfahren gemeint? Sein Ich war vor ihm auf die Strecke gegangen und es ging nun lediglich darum, die von ihm vorgelegte Zeit zu schlagen, um am Ziel ins goldene Trikot des Vereinigten Habermann eingekleidet zu werden?

Oder meinte sie den Windschatten? Riet sie ihm, seinem sich auf der Soloflucht befindlichen Ich im Verlauf des Rennens (was für ein Rennen?) so nahe zu kommen, dass er sich kurz vor der Ziellinie aus seinem Windschatten lösen und sich selber überholen konnte? Wäre das dann ein Doppelsieg oder würde er alleine jubeln?

Zurück im Büro blätterte er noch einen Moment in den Papieren, die ihm der Schwiegersohn des Buchautors hinterlassen hatte, und eigentlich hätte er nun ein paar Museen oder Galerien anrufen sollen, um die Möglichkeit einer Ausstellung auszuloten, aber es fehlte ihm an Energie, um zu versuchen, das Engadin seiner Kindheit nach Washington zu holen, und er fragte sich stattdessen, wieviel Vorsprung sein Ich bereits hatte, in welcher Situation es sich gerade befand und was es gerade tat. Hatte es eine Frau und Kinder wie er? Und was würde geschehen, falls es ihm tatsächlich gelingen würde, sich einzuholen

Zweite Etappe: Über die Brücke rennen (Virginia Beach – Delmarva-Halbinsel)
im Oktober 1996

„Lars Henriksen, Armando da Silva jr., Brandon Barnea, Steven Schenker, John Reilly, James Quigley, Garry Landsman, Tony Marino, Kenneth Anderson…”
„Reich mir doch bitte die Milch rüber…“
„Was…?“
„Die Milch…“
Habermann gab seiner Frau die Milch.
„Dieser Dallas Harrison – was für ein Name – der Junge ist ganze 31 Jahre alt. Fünf Sekunden habe ich ihm abgenommen.“
„Toll…“
Linda goss Milch in ihren Kaffee und beugte sich wieder über ihre Zeitung.
„Andererseits ist da dieser Bill Osburn. 72 Jahre alt. Das wäre dann, warte mal, Jahrgang 1924. Lief locker 16 Sekunden schneller als ich. Kannst Du dir das vorstellen? Ich renne über die Brücke, ich gebe alles, was ich habe, meine Füsse tun mir weh in den teuren Airmax, und auf dem letzten Kilometer, als es mir fast die Lunge zerreisst und ich mich am liebsten auf die Strasse legen würde, zieht dieser Greis locker an mir vorbei, wehendes weisses Haar, ausgelatschte Turnschuhe aus dem K-Mart, „Just do it“ auf dem T-Shirt.
Ist als Zwanzigjähriger in der Normandie gelandet, hat die Nazis eigenhändig besiegt und überholt mich fünfzig Jahre später kurz vor Sandy Point, am Ziel des Bay Bridge Runs. Atmet nicht einmal besonders schwer, während ich nach Luft schnappe. Himmelarschundzwirn!“
„Nicht am Tisch bitte, unterbrach ihn Linda, nicht vor den Kindern.“
„Ist aber so. Der Kerl verdrückt im Zielgelände rasch eine Gratisbanane, trinkt zwei Bier des Sponsors und fährt dann nachhause zu seiner fünfundzwanzigjährigen Frau. Seine dritte, versteht sich. Die zweite hat er nach zwanzig belanglosen Jahren grosszügig abgefunden. Sie telefoniert ihm jedes Jahr zu Weihnachten und hinterlässt jedes Mal dieselbe Nachricht auf seinem Beantworter: „Happy Christmas, Bill, I hate you!“. Dann hängt sie wieder auf. Die dritte Frau hat er im Health Club kennengelernt. Blondes, schulterlanges Haar und ein Gesicht wie ein Filmstar, nur nicht so steril. Stets guter Laune. Und natürlich schwer intelligent, sensibel, sinnlich. Sie bumsen nächtelang und spielen vor dem Frühstück zusammen zwei Stunden Squash.“
„George, Du bist widerlich.“
„Ich weiss…“

Er legte die Runner’s Gazette zur Seite und schenkte sich noch einen Kaffee ein. Dann stand er vom Tisch auf und ging mit der Tasse in der Hand in die Küche. Wieso konnte er sich nicht einfach freuen? Vor sechs Wochen hatte er sein erstes Rennen bestritten. Er würde bald vierzig werden und war tatsächlich noch einmal fit geworden, wie er sich das immer vorgenommen hatte, fit vor 40 und dann weiterrennen bis 85.

Von 1738 männlichen Teilnehmern hatte er die 759ste Zeit erreicht, also fast 1000 Läufer hinter sich gelassen auf den zehn Kilometern über die Chesapeake Bay Bridge. Und das alles bei beträchtlichem Gegenwind. Das war doch eigentlich ein schöner Erfolg, für jemanden, der noch vor ein paar Monaten beim Treppensteigen ins Keuchen gekommen war.

Aus dem Küchenfenster sah er seine Kinder im Garten spielen. Norris und Paul prügelten sich unter der Schaukel und Livia und Cindy füllten im Schatten der Bäume Wasserkessel mit Gras und Blüten. Er riss die Schiebtüre zur Veranda auf und schrie in den Garten hinaus:
„Herrgottnochmal, Norris! Willst Du ihn eigentlich umbringen?“
Aber Paul hatte sich bereits aus dem Griff des älteren Bruders befreit und rannte lachend ans andere Ende des Gartens, im Vorbeiweg gezielt den Kessel von Livia umtretend, worauf diese ihm unter grauenhaften Verwünschungen nachsetzte. Nie wieder würde sie mit ihm spielen. Nie! Und wenn er jetzt nicht augenblicklich…

Habermann schloss die Schiebetüre wieder. Nicht einmal seine eigenen Kinder ertrug er. Er war wirklich ein Prunkstück von Arschloch. Er spülte seine Tasse aus und ging mit der Sonntagszeitung nach oben. Die verdammte Zeitung war so dick, dass keiner sie ganz lesen konnte, auch wenn man früh aufstehen würde und den ganzen Sonntag lang nichts anderes vorhatte.

Dritte Etappe: Die Entdeckung des Schläfers (Potomac – Silver Spring – Potomac)
im September 1997

Drei Jahre waren seit dem Besuch bei der Tochter der Wahrsagerin vergangen. Drei Jahre, in denen die Washington Redskins jedes Mal die Playoffs verpasst hatten, sein Tennispartner Harry an Leberkrebs gestorben war und in denen Habermann kaum je an die unglaubliche Geschichte gedacht hatte, die sie ihm für ebenso unglaubliche 50 Dollar aufgetischt hatte.

Eines schönen Tages, die Bäume hatten gerade damit begonnen, ihr farbiges Laub fallen zu lassen, fuhr Habermann mit dem Garagenauto, das er erhalten hatte, bis sein Wagen aus der Werkstatt kommen würde, von seinem Haus in Potomac zur Ford Garage in Silver Spring, um seinen SHO abzuholen.

Er hatte sich diesen besonderen Wagen kurz nach seiner Ankunft in den USA gekauft. Eigentlich hatte er es ja auf einen Ford Mustang abgesehen gehabt, aber der Verkäufer hatte ihm davon abgeraten. Die Winter in Washington, meinte er, hätten zwar selten viel Schnee, aber die Strassen seien oft vereist, und wenn er auch im Winter zur Arbeit fahren wolle, sei ein Hinterradantrieb nicht ratsam. Stattdessen empfahl er ihm einen Ford SHO.

Ein SHO sei ein auf dem Mittelklassewagen Ford Taurus aufgebautes Sondermodell mit stärkerem Motor (Super High Output), erklärte er, das nur zwei PS weniger habe als der Ford Mustang, aber Vorderradantrieb. Weil man ihm seine Kraft nicht ansehe (er sah tatsächlich fast genauso aus wie ein normaler Ford Taurus, das meist verkaufte Auto in den USA), nenne man das Fahrzeug, von dem jährlich nur 10‘000 Stück hergestellt würden, Sleeper.

Habermann parkierte den Garagenwagen auf dem grossen Parkplatz vor der Werkstatt und trat ins Büro. Er überreichte der Dame am Empfang den Autoschlüssel und sagte:
„Der Name ist Habermann. George Habermann. Ich komme meinen Ford SHO abholen.“
„Hi, Mr. Habermann. Sure. Let me get the paperwork ready for you.”

Sie produzierte eine Rechnung, und Habermann wunderte sich über den für einen normalen Service viel zu hohen Betrag. Er schaute sich an, woraus sich dieser zusammensetzte, und sah rasch, dass es sich nicht um seinen Wagen handeln konnte.

„Das ist nicht mein Auto“ sagte er, „Es war nur ein regulärer Service, und auf dieser Rechnung stehen neue Bremsen, eine neue Kupplung, ein neuer Auspuff…“

Die Dame nahm die Rechnung wieder an sich, schaute sie an und sagte: „Sie haben doch einen roten Ford SHO, Jahrgang 94, richtig?“
„Ja, habe ich, aber…“
„Und ihre Adresse ist George Habermann, 29 Abott Road, Silver Spring, nichtwahr?“
„Nein, meine Adresse ist 25 Wimsley Court, Potomac.“
Die Dame schaute ihn ungläubig an, ging zurück zur Registratur und kam mit einer zweiten Rechnung zurück.

„Das ist absolut unglaublich, Mister Habermann! (absolutely incredible!) Es gibt tatsächlich zwei George Habermanns, beide wohnen in Maryland, beide fahren einen roten Ford SHO und beide haben ihren Wagen zur gleichen Zeit bei uns in der Garage. So etwas habe ich noch nie erlebt…“

So etwas hatte sie bestimmt noch nie erlebt, und nicht nur sie, auch die meisten anderen Einwohner von Maryland, Virginia, Washington D.C. und wahrscheinlich der ganzen Ostküste dürften so etwas kaum je erlebt haben, aber rein statistisch betrachtet war es wohl möglich, dass zwei Personen mit demselben Namen denselben Wagen kauften, in der gleichen Farbe, und ihn dann zur selben Zeit in dieselbe Garage brachten. Die Wahrscheinlichkeit liesse sich wahrscheinlich berechnen, und sie musste ziemlich klein gewesen sein bis zum Eintreffen des Ereignisses.

Zuhause angekommen erzählte Habermann seiner Frau von diesem unglaublichen Zufall und nach dem Abendessen suchte er im Telefonbuch nach der Adresse von George Habermann in Silver Spring. Er fand sie samt Telefonnummer und Beruf: Salesman.

Ruhetag: Doppel an der Partridge Lane, Potomac, Maryland
im September 1998

Habermann wachte gut gelaunt auf an diesem Samstagmorgen. Als er die kurze Hose seines Pyjamas abgestreift hatte, nahm er sie mit dem Fuss vom Boden auf, indem er sie durch die Luft schleuderte und mit dem Ausruf „Didier Cuche!“ mit der Hand auffing, wie es der Schweizer Abfahrer jahrelang nach jedem Skirennen mit seinem linken Ski gemacht hatte.

Seit zwei Jahren spielte Habermann fast jedes Wochenende am Vormittag Tennis mit einer Gruppe älterer Herren, von denen einer, Roemer, auf seinem Grundstück an der Partridge Lane einen Tennisplatz hatte, den sie im Herbst zuerst vom Laub befreiten und im Winter freischaufelten, falls es einmal geschneit hatte.

Der Potomac Tennis and Conversation Club bestand aus einem Dutzend Männern, die meisten unter ihnen zwischen 60 und 70 Jahre alt. Habermann war zusammen mit Arthur, der wie er um die Vierzig war, mit Abstand der Jüngste. Es wurde jeweils ein Satz Doppel gespielt und die Sieger blieben auf dem Platz, während die Verlierer im kleinen Pavillon neben dem Platz oder im Winter in der Küche Kaffee tranken, Zeitung lasen und diskutierten.

Das Schöne daran war, neben dem Tennisspielen, dass man nicht planen und sich anmelden musste. Man ging einfach hin, wenn man konnte und Lust hatte, und es waren immer mindestens vier, manchmal sechs, sieben oder acht Spieler da.

Keiner verlor an der Partridge Lane absichtlich ein Spiel, aber es ging nicht wirklich ums Gewinnen, sondern um den Spass am Spielen und das Zusammensein mit Freunden. Nur Alvin, der zweitbeste Spieler der Gruppe, regte sich jedes Mal fürchterlich auf, wenn er einen Doppelfehler machte, während Harry, wie Habermann einer der schwächsten Spieler der Gruppe und sein Lieblingspartner, nach einem der seltenen gewonnenen Punkt zu sagen pflegte: „Nur etwas ist tödlicher als meine Vorhand: meine Rückhand.“

Auf dem Heimweg von seinem Tennismorgen kam Habermann die Tochter der Wahrsagerin in den Sinn, die ihm von seinem anderen ich erzählt hatte, und er musste an den Mann in Silver Spring mit demselben Namen und demselben Auto denken. Wenn dieser tatsächlich sein anderes Ich war, das vor ihm gestartet war, weshalb war er dann nicht weiter als bis Silver Spring gekommen? War das alles, was man mit zwei oder drei Jahren Vorsprung bis zur Einholung durch das Feld herausholen konnte? Ein paar Punkte für die Bergpreiswertung und einen Umzug von Potomac nach Silver Spring?

Wenn dieser Verkäufer (was verkaufte er wohl?) aus Silver Spring tatsächlich sein früher geborenes Ich sein sollte, war er lediglich sein Vorausgänger? Würde auch er selber in ein paar Jahren in Silver Spring wohnen und als Verkäufer für sagen wir, Kühlschränke, unterwegs sein? Wie würde er dazu kommen, seinen Beruf als Diplomat aufzugeben, um in Silver Spring sesshaft zu werden und Kühlschränke zu verkaufen?

Oder war dieser George Habermann in Silver Spring nicht sein Vorausgänger, sondern ein vor ihm geborenes Ich, das einen ganz anderen Weg gegangen war, eine andere Frau geheiratet hatte und vielleicht nicht vier, sondern zwei oder gar keine Kinder hatte? Lebte er gar alleine?
War nicht nur sein Wagen ein Sleeper, sondern er selber, und er wartete nur darauf, dass er ihn einholen würde?

In der Tour de France wurden Ausreisser, die nach einer langen Soloflucht von ihren Verfolgern gestellt wurden, meistens gleich nach der Einholung stehengelassen und kamen danach mit grossem Rückstand ins Ziel, weil sie sich auf ihrer langen Flucht alleine im Gegenwind zu stark verausgabt hatten. Oder sie schafften es gar nicht mehr ins Ziel und wurden vom Besenwagen eingesammelt, der am Schluss des Trosses all diejenigen Fahrer aufnahm, die aufgeben mussten.

Was würde passieren, wenn Habermann Habermann eingeholt haben würde? Würde sein Vorausgänger nach dem Ende seiner langen Flucht erschöpft in den Besenwagen steigen? Würden beide Existenzen weitergehen, mit vertauschten Rollen, oder nur eine? Und wenn nur eine – welches Leben würde weitergehen: seines oder seines?

Es gab nur einen Weg, um das herauszufinden, und Habermann fürchtete sich davor. Trotzdem bog er nicht von der River Road zu seinem Haus ab, sondern fuhr weiter bis zum Abzweig nach Silver Spring.

Vierte Etappe: Contre la montre (Potomac – Silver Spring)
immer noch im September 1998

Zuerst war es nur ein Punkt, der weit vor ihm auf der geraden Strasse fuhr und nur langsam grösser wurde, dann konnte er das Heck eines roten Personenwagens ausmachen, und schliesslich war er nahe genug, um den Wagen erkennen zu können.

Habermann wurde beim Anblick des vor ihm fahrenden roten Ford SHO von einem Gemisch aus Nervosität, Angst und Anspannung befallen. War er das?
Und was sollte er jetzt tun? Ihm bis nachhause folgen?

Die Wahrsagerin kam ihm in den Sinn. Wie beim Velorennen.
Hatte sie damit gemeint, er solle ihn aus dem Windschatten überholen? Brauchte man Windschatten zum Überholen, wenn man einen SHO mit 240 PS fuhr, weil der andere auch 240 PS hatte?

Was würde passieren, wenn er zum Überholen ansetzte? Würde sich die Zeit krümmen und er würde während des Überholvorgangs nicht nur das Gesicht des Fahrers von der Seite sehen, sondern auch die rechte Seite des Fahrzeugs und das Gesicht der Beifahrerin?
Oder würde gar nichts passieren und der SHO würde in seinem Rückspiegel kleiner werden und schliesslich verschwinden?

Habermann fürchtete sich davor, den SHO zu überholen. Aber er fand auch nicht den Mut, ihm bis nachhause zu folgen und zu sehen, was aus ihm werden würde. Da kein Gegenverkehr in Sichtweite war, drückte er das Gaspedal ganz nach unten und die rasante Beschleunigung des SHO trug ihn im Nu auf die Höhe des Fahrzeugs vor ihm und an ihm vorbei. Der Fahrer schaute ihn ungläubig an. Der Beifahrersitz war leer.

Siegerehrung (Silver Spring, Maryland)
ohne Zeitangabe

Auf der Schlussetappe der Tour de France wird der Leader nach einem ungeschriebenen Gesetz nicht mehr angegriffen. Die Fahrer nehmen es normalerweise gemütlich und auf der Avenue des Champs Élysées wird auf dem Fahrrad Champagner getrunken iund geplaudert.

Habermann mochte keinen Champagner. Er trank nur ein Glas mit, weil seine Frau sich ein Champagnerfrühstück gewünscht hatte.

«Ich hatte einen seltsamen Traum heute Nacht», sagte sie.
«Was hast Du denn geträumt?»
«Es war ein wirres Durcheinander. Ich weiss nicht mehr alles. Einmal waren wir an einem Strand in der Bretagne, dann in den Pyrenäen, dann wieder hier zuhause. Wir hatten mehrere Hunde dabei, kleine und grosse. Sogar Kinder hatten wir. Kurz bevor ich erwachte, standen wir in einer Menschenmenge vor einem leeren Siegerpodest.
Die Leute jubelten und klatschten, aber es stand niemand auf dem Podest. Es war wirklich bizarr.»

Nach dem Frühstück ging Habermann ins Badezimmer und zog sich aus, um zu duschen. Seine Frau kam gerade richtig, um zu sehen, wie er mit dem Fuss seine Unterhose durch die Luft wirbelte und dabei etwas sagte, was wie «Deede Kush» klang.
«Was machst Du da?»
«Lustig, nicht?» antwortete Habermann, und stieg in die Duschkabine.

Als Habermanns Frau wieder im Wohnzimmer war, hörte sie die Türglocke klingeln. Sie ging zur Türe und sah durch das Guckloch einen Mann im dunkelgrauen Anzug, der eine Sonnenbrille trug, obwohl es ein bedeckter, grauer Tag war.


Hämpel

23. Januar 2021

Eines Tages, es war an einem Abend im Herbst und wir waren gerade aus dem Ausland nach Oberkulm umgesiedelt, wo meine sieben Jahre jüngere Frau nach meiner Pensionierung ein kleines Café eröffnen wollte, erhielten wir ebenso unerwartet wie unangemeldet Besuch von meinem Onkel Hans-Ulrich. Er brachte mir eine Flasche Portwein und zwei Brüder vorbei, die er, wie er sagte, auf seinem Estrich gefunden hatte.

Es konnte sich nicht um meine Brüder handeln, nur schon wegen Ihres Alters, denn die beiden Burschen, die sich schüchtern in der Eingangshalle unseres neuen Hauses umschauten, ohne sich vom Fleck zu rühren, und dabei nicht viel mehr als Umzugs-Kartons sahen, die einen offen und bereits zur Hälfte ausgeräumt, die anderen noch verschlossen, waren um die zwanzig, während sowohl mein Vater als auch meine Mutter seit mehr als 30 Jahren tot waren. Und wenn sie es hätten sein können: Wie waren sie auf seinem Estrich gelandet?

Seine Brüder konnten es ebenso wenig sein, denn Hans-Ulrich, genannt Hämpel, hatte im zweiten Weltkrieg das Licht der Welt erblickt, am 18. Juni 1941, um genau zu sein, am selben Mittwoch, an dem Joe Louis in New York seinen Titel als Schwergewichtsweltmeister gegen Billy Conn verteidigte, indem er ihn in der 13. Runde mit einem fürchterlichen Faustschlag auf die Matte schickte. Er war der zehn Jahre jüngere Halbbruder meiner Mutter (Hämpel natürlich, nicht Joe Louis), das Kind meiner früh verstorbenen Grossmutter und ihres zweiten Ehemanns, des Muttikillers, aber das ist eine andere Geschichte.

„Meine Brüder?“ fragte ich völlig verblüfft, in der einen Hand die Flasche Portwein haltend und mit der anderen noch immer Hämpels Hand schüttelnd, die er mir zum Gruss hingehalten hatte.

„Ja, Deine Brüder“, antwortete Hämpel, „Ich gehe auf eine längere Reise und ich kann sie nicht mitnehmen.“ Dabei liess er meine Hand los und ging an mir vorbei durch den Flur ins Wohnzimmer. Die beiden jungen Männer folgten ihm.

„Rahel…“ rief ich die Treppe hoch, „Kannst Du mal runterkommen? Wir haben Besuch.“ Rahel…?“ Einer unserer Hunde bellte irgendwo im Obergeschoss.

Als ich ins Wohnzimmer kam, sass Hämpel auf dem Sofa, dem einzigen Möbelstück, das bereits ausgepackt und aufgestellt war, weil es nichts zu montieren gab, und meine neuen Brüder knieten auf dem Boden und waren daran, ein Büchergestell zusammenzuschrauben. Ich ging auf sie zu und wollte ihnen sagen, sie müssten doch nicht, aber Hämpel unterbrach mich. „Lass sie nur machen – dann sind sie beschäftigt“, und er fuhr gleich fort: „Ich habe nicht viel Zeit, aber wenn ihr sowieso etwas essen wolltet, sage ich nicht nein.“

„Ich weiss nicht“, antwortete ich, „wir hatten eigentlich vorgehabt, später etwas zu bestellen, aber vielleicht…“ In diesem Augenblick trat Rahel ins Wohnzimmer. „Mach es nicht kompliziert“ sagte sie zu mir (sie ist der Meinung, ich mache immer alles kompliziert). „Natürlich kann ich uns etwas kochen“.

„Ich bin Rahel, Walters zweite Frau“, sagte sie, und streckte Hämpel ihre Hand hin.

„Freut mich“, sagte Hämpel. „Das sind Walters Brüder und ich bin sein Onkel, Hans-Ulrich.“

„Mögt ihr Spaghetti?“ sagte Rahel zu den beiden Brüdern, die unterdessen bereits das erste Büchergestell verschraubt und aufgerichtet hatten. Sie schienen sehr geschickt zu sein. Und schnell. Sie nickten und machten sich ans zweite Büchergestell.

„Hast Du Wein?“ fragte Hämpel. „Ich glaube ja, im Keller. Ich muss nur die richtigen Kartons finden.“ Ich folgte Rahel in die Küche, die in diesem alten Haus noch nicht im Wohnzimmer integriert war. „Er sagt, es seien meine Brüder. Und er will sie hierlassen“, flüsterte ich, während sie einen Karton öffnete und ihm wie durch ein Wunder eine grosse Pfanne entnahm, die sich bestens dazu eignete, Spaghetti zu kochen. „Und woher sollen wir Spaghetti nehmen? Hast Du auf dem Weg hierher etwa noch eingekauft?“

„Sie können uns beim Einrichten helfen,“ antwortete Rahel, als ob nichts von dem, was ich gerade gesagt hatte, sie überrascht hätte, „und später können sie im Café servieren.“

„Aber es sind gar nicht meine Brüder“, sagte ich. „Es könnten seine Söhne sein. Er hat zwei Söhne….“ Dann fiel mir ein, dass das ebenso unmöglich war. Seine Söhne mussten mittlerweile um die 50 sein. „Oder seine Grosskinder…“. Einer seiner Söhne hatte, so glaubte ich mich zu erinnern, geheiratet und hatte Familie. Aber wie sollten seine Grosskinder auf seinem Estrich gelandet sein und wo waren deren Eltern, dass er sie nun bei mir deponieren wollte?  

„Hol den Wein aus dem Keller“ sagte Rahel. „Und vorher bittest Du Deine neuen Brüder, den Esszimmertisch und ein paar Stühle auszupacken, damit wir nicht zu fünft auf dem Sofa essen müssen. Die Kartons sind angeschrieben“. „Sie sind nicht meine Brüder“ erwiderte ich, aber Rahel lachte nur und drehte das Gas an.

Während ich im Keller nach den Kartons mit dem Rotwein suchte, und im Gegensatz zu meiner Frau öffnete ich, wie sollte es anders sein, zuerst alle anderen Kartons, nur nicht die mit dem Rotwein, versuchte ich mich zu erinnern, wann ich Hämpel zum letzten Mal gesehen hatte.

Ich meinte, dass er mich irgendwann einmal kontaktiert hatte, als ich in der Türkei stationiert war (oder war es im Iran?). Er war damals schon pensioniert (er hatte als Journalist bei der Tagesschau gearbeitet) und reiste offenbar viel. Also konnte es nicht im Iran gewesen sein, denn da wäre er noch nicht in Pension gewesen. Es musste also in der Türkei gewesen sein.

Ich erinnerte mich, dass er beabsichtigte, Orte zu besuchen, die man in der Türkei nicht ohne weiteres besuchen kann, und dass er vorhatte, sich mit kritischen Themen zu befassen, und zu beidem wollte er Informationen von mir, und ich machte mir damals ein wenig Sorgen deswegen, weil man als Diplomat leicht in Schwierigkeiten geraten kann, wenn man einem investigativen Journalisten Informationen gibt oder mit ihm in Verbindung gebracht wird. Heute schäme ich mich ein Bisschen dafür, dass ich ihm, wie ich es in Erinnerung habe, nicht wirklich weitergeholfen habe. Ich weiss nicht einmal mehr, ob er am Ende bei mir vorbeigekommen ist oder nicht.   

Woran ich mich hingegen noch klar und deutlich erinnere, als wäre es gestern gewesen (man sagt ja, dass das Langzeitgedächtnis besser wird im Alter, während sich das Kurzzeitgedächtnis permanent entrümpelt, als müsste es von Tag zu Tag in ein neues Bewusstsein umziehen, in dem immer weniger Platz vorhanden ist), sind seine regelmässigen Besuche, die er als Student an der Universität Zürich seiner Schwester (meiner Mutter) in Höngg abstattete.

Meist kam er wie zufällig kurz vor dem Mittagessen auf seiner Vespa angebraust und blieb gerne zum Essen. Vielleicht hatte ihn meine Mutter auch jedes Mal eingeladen, auf jeden Fall waren seine Besuche stets eine lustige Abwechslung für mich und meine Schwester, denn Hämpel war ein lebhafter, origineller und witziger Geist, und nicht zuletzt auch deshalb, weil wir nach dem Essen, bevor er zurück an die Uni fuhr, noch eine Runde auf dem Rücksitz seiner Vespa drehen durften.

Als ich endlich den Karton mit dem Rotwein gefunden hatte und mit zwei Flaschen die Treppe hoch und ins Wohnzimmer ging, hatten meine neuen Brüder bereits den Esstisch und vier Stühle aufgestellt und meine Frau rief aus der Küche, ich solle doch bitte die Spaghetti holen kommen.

Beim Abendessen entwickelte sich eine angeregte Unterhaltung, die vor allem von meiner Frau und Hämpel bestritten wurde. Wir sprachen über seine Reisen, meine Mutter und die anderen drei Geschwister (Hämpel war der Jüngste), von denen nur noch eine Schwester lebte, auch über seine Zeit beim Fernsehen und am Schluss noch kurz über seine beiden Söhne, aber obwohl meine Frau im Gegensatz zu mir sehr neugierig ist und sich auch nicht scheut, heikle Fragen zu stellen, gab es seltsamerweise auch von ihr keinen Versuch, die Identität der beiden wortlos ihre Spaghetti essenden Brüder (denn dass sie Brüder waren, sah man auf den ersten Blick) zu klären.

Irgendwann stand Hämpel dann vom Tisch auf und sagte: „Ich muss los“.

Bei der Türe umarmte er mich kurz und dann meine Frau ziemlich innig und lange. Danach hielt er sie an den Oberarmen fest, schaute ihr tief in die Augen und sagte zu ihr: „Pass gut auf Anton und Paul auf. Sie haben jetzt niemanden mehr ausser euch.“

Nach einer kurzen aber innigen Umarmung mit Anton und Paul öffnete er die Eingangstür und verschwand im Dunkel der Nacht. Ich weiss, dass das jetzt aufgesetzt wirkt und nicht wirklich glaubhaft klingt, aber ich wäre dumm, es deshalb nicht zu erwähnen. Bevor ich die Haustüre schloss, hörte ich, wie eine Vespa angeworfen wird.

Der Rest der Geschichte dauerte noch viele Jahre, aber er ist schnell erzählt. Wohin Hämpels Reise damals führte, haben wir nie erfahren. Das Einzige, was in Erfahrung zu bringen war, war, dass er sein Haus ein paar Tage vor seinem Besuch bei uns geräumt und verkauft hatte. Wo er die wenigen Jahre verbracht hat, bis eines Tages seine Todesanzeige in der Zeitung erschien, wissen wir nicht.

Meiner Frau gelang es, ihren Traum vom eigenen Café zu verwirklichen. Anton und Paul, die entweder Zwillinge oder kurz nacheinander geborene Brüder waren, spielten nicht nur beim Ausbau des Cafés eine zentrale Rolle, ja man kann sagen, sie haben das Café eigenhändig gebaut und nach den Wünschen meiner Frau eingerichtet, sie haben das Café auch zusammen mit meiner Frau geführt und es zu einem Ort gemacht, wo Menschen bis heute stets gerne einen Moment zur Ruhe kommen und bei einem guten Kaffee ein Stück der Quarktorte geniessen, die meine Frau wie niemand sonst backen kann.

Ich, der ich stets befürchtet hatte, das Café würde für mich bedeuten, dass ich weiterarbeiten müsste, sitze derweil an einem Ecktisch, von den Gästen völlig unbehelligt, und schreibe Geschichten wie diese.  

Unterwegs zum Ball

15. Januar 2021

(ein Beitrag zur Frage des Verhältnisses von Sprache und Realität)

Eine Frage, die mich gerade beschäftigt, ist, ob Hunde Geister sehen können, und wenn ja, ob sie den Unterschied zwischen lebenden Menschen und Geistern erkennen. Hunde haben eine Beobachtungsgabe, die der unsrigen in nichts nachsteht. Ich bin sogar überzeugt, dass sie die besseren Beobachter sind, mit feineren Sinnen, und dass sie mehr und genauer wahrnehmen als wir.

Eine andere Frage, die mir seit einiger Zeit immer wieder im Kopf herum geht, ist die, wo sich all das, was man in einem bestimmten Moment aufschreibt, vorher aufgehalten hat. Wo war das alles? Wo kommt es her? Wo waren die Gedanken und Sätze – wo waren sie bis zum Moment, wo man sie formuliert?  Und kann man sich auch ohne Sprache etwas fragen? Stellen sich Hunde Fragen?  

Ich gehe davon aus, dass ich weder die eine noch die andere Frage schlüssig beantworten kann, bevor es wieder dunkel wird (und vor allem über der ersten Frage sollte man nicht nachts brüten). Es wird mir nicht gelingen. Aber das soll mich nicht daran hindern, ihnen nachzugehen.  Auf viele Fragen, die uns beschäftigen, finden wir nie eine Antwort, vielleicht weil wir am falschen Ort suchen, vielleicht weil wir die Antwort, wenn wir sie vor uns haben, nicht erkennen, vielleicht aber auch weil es ganz einfach keine Antwort gibt.

Ich bin gerade aus dem Garten zurückgekommen. Aus dem Garten dieses herrschaftlichen Hauses im Westflügel des Palais Schwarzenberg, das die Botschaft und die Residenz des Schweizer Botschafters beherbergt. Nachdem die Hunde ihr Geschäft erledigt hatten, stand der eine plötzlich bockstill, wenn man das bei einem Hund so sagen kann, fixierte eines der grossen Fenster im Erdgeschoss, in dem sich die Repräsentationsräume befinden, hob eine Vorderpfote an und begann zu bellen. Der andere Hund reagierte nicht. Seine Augen sind nach einer Operation noch halb zugenäht, damit sie besser heilen können.

Ich versuchte, im Fenster, das der Hund fixierte, etwas zu erkennen, aber nichts regte sich. Jedenfalls konnte ich nichts erkennen. Ist da wieder einer unterwegs? fragte ich mich. Ein Geist natürlich, denn es wäre nicht das erste Mal.

Im vergangenen Sommer, als ich eines sonnigen Sonntagnachmittags mit den Hunden im Garten war und in Richtung Haus blickte, nahm ich einen Schatten wahr, der vom grossen Salon in Richtung Esszimmer schritt. Auch die Hunde schienen etwas zu sehen. Gebannt und regungslos schauten sie zum Fenster. Ich machte mir keine Gedanken. Es war meine Frau, die durch das Esszimmer in die grosse Küche ging.

Aber als ich sie fragte, was sie gerade in der grossen Küche gesucht habe (denn unsere private kleine Küche ist auf der ersten Etage), antwortete sie mir, sie sei weder in der grossen Küche noch im Grossen Salon noch im Esszimmer gewesen. Sie sei überhaupt nicht im Erdgeschoss gewesen. Sie hätte sich die ganze Zeit, in der ich mit den Hunden im Garten war, in ihrem Zimmer aufgehalten. Ihr Zimmer befindet sich in der ersten Etage und ist zur Prinz Eugen Strasse ausgerichtet, nicht zum Garten.  

Wenn ich das alles hier sehr genau und im Detail festhalte, so tue ich das deshalb, weil das Reich der Geister das Ungefähre und Ungenaue ist. Dort sind sie in ihrem Element, es IST ihr Element, und wenn man sie überhaupt je zu fassen kriegen will, wenigstens im übertragenen Sinn, muss man, davon bin ich überzeugt, sehr genau und detailgetreu sein, sowohl in der Beobachtung als auch in ihrer Beschreibung.   

Vielleicht ist das ein guter Moment, um ein erstes Mal auf die andere Frage zurückzukommen, die sich mir in letzter Zeit oft stellt. Es ist nicht so, dass sie mich plagt. Ich habe ihretwegen keine Probleme beim Einschlafen. Aber sie ist halt da und stellt sich mir. Sie ist nicht permanent vorhanden, sie wandert umher und ab und zu treffe ich auf sie und dann will sie, dass ich mich ein wenig mit ihr befasse. Wo sind alle Gedanken, bevor man sie äussert oder niederschreibt?

Dass sie erst dann entstehen, ist wohl eine zu einfache Erklärung, obwohl ich mich immer wieder daran erfreue, auch jetzt gerade, weil es mir Zuversicht gibt, dass ein Text während dem Schreiben entsteht. Es entbindet mich von der Bürde, schon wissen zu müssen, worauf ich hinauswill, wenn ich mit Schreiben beginne. Und es erhöht die Freude am Schreiben, weil man den Text selber zum ersten Mal liest. Ich wusste, als ich aus dem Garten ins Haus zurückkam, lediglich, dass ich einen Text schreiben wollte, der mit der Frage beginnen würde, ob Hunde Geister sehen können.

Als ich dann in der Küche am Herd stand (in der kleinen, auf der ersten Etage), und mir in einer Bratpfanne ein paar Teigwaren wärmte, kam mir der zweite Teil des Satzes in den Sinn: ob sie (die Hunde) den Unterschied zwischen lebenden Menschen und Geistern erkennen.  Das war alles, was ich wusste, bevor ich mich mit einem Teller gewärmter Teigwaren vor den Computer setzte und zu schreiben begann.   

Wo also kommt der ganze Rest her, den ich seit dem ersten Satz geschrieben habe? Assoziation? Führt das eine einfach zum anderen? Führt die Frage, ob Hunde Geister erkennen können, praktisch automatisch zur Frage, wer schärfere Sinne hat, der Hund oder der Mensch, und von da gelangt man dann ohne grosse Anstrengung zur Frage, ob alle Fragen beantwortbar sind, und ehe man es sich versieht steht man im Garten und es ist Sommer anstatt Winter und ich brauche jetzt einen Kaffee?

Begibt man sich mit einem ersten Satz auf eine schiefe Ebene, auf der man unweigerlich in eine Richtung gezogen wird? Gibt es so etwas wie eine Schwerkraft der Sprache, die unter Einbezug der spezifischen Erfahrungen und Erinnerungen des Schreibenden mitbestimmt, wohin ein Text geht? Ist somit im Moment, wo ich zu schreiben beginne, mehr oder weniger vorgegeben, wo ich landen und wie ich dort hinkommen werde? Kann die Richtung eines Textes bewusst verändert oder durch äussere Einflüsse verändert werden?

Wenn man einen Text begonnen hat, sollte man ihn jedenfalls nicht zur Seite legen, bevor man ihn zu Ende geschrieben hat. Das Gravitationsfeld, in das man geraten war, ändert sich oder es verschwindet ganz und man wird feststellen, dass man, wenn man sich dem Text wieder zuwendet, entweder nicht weiterweiss und auf das oder vergeblich wartet.

Einen Kaffee machen liegt als Unterbrechung gerade noch drin.  Als ich in der Küche stand und wartete, bis das Wasser kochte, kam mir die Schwerkraft in den Sinn und noch etwas anderes, was ich leider vergessen habe, seit ich weiterschreibe.  Denn ich bin es, der schreibt, wenn ich auch durch mein persönliches Gravitationsfeld, das mich assoziativ durch meine Erfahrungen und meine Erinnerungen führt, geleitet werde.

Ach ja, das war es, was mir in der Küche in den Sinn gekommen ist: Dass ich nach wie vor dafür bin, und zwar ohne Ausnahme, ohne Rücksicht auf Namen, dass Schreibende, die auf die Frage, woher ihr Schreiben komme, antworten, es schriebe mit ihnen, einen kräftigen Tritt in den Hintern verdienen.

Es gibt kein es, das mit jemandem schreibt. Es gibt nur ihr oder sein ich, das mit einem ersten Satz in eine Richtung aufbricht, die durch Erinnertes und Gespeichertes bestimmt wird, das am vorherigen Satz andockt. Welche Richtung das ist, denn es sind immer verschiedene Richtungen möglich, wird vom Gravitationsfeld bestimmt. Das Gravitationsfeld wiederum…

Gut, jetzt habe ich mich wahrscheinlich ein Bisschen verrannt und bin, anstatt der Gravitation zu folgen, die durch den ersten Satz entstanden ist, viel zu lange in eine Richtung gegangen, die vielleicht gar nicht so interessant ist und jedenfalls vom Punkt ablenkt, zu dem der Text führen will.

Finde ich den Weg zurück, bevor das Gravitationsfeld seine Kraft verliert? Sehen Hunde Geister? Sehen meine Hunde Geister? Um die Frage zu klären, oder um wenigstens ein wenig Licht darauf zu werfen (es wird bereits dunkel), müsste man zuerst wissen, ob es in diesem grossen Haus, in dem ich noch fast zwei Jahre leben darf, Geister gibt. Die Antwort scheint mir nach etwas mehr als drei Jahren einigermassen klar, und sie lautet ja.

Ich spreche nicht vom gelegentlichen Knarren und Knacken, wie es in jedem alten Haus zu vernehmen ist. Ich bin mir auch sehr bewusst, dass in diesem grossen Haus, wie in jeder Residenz eines Botschafters, viele Menschen unterwegs sind, von den Residenzangestellten über den Hauswart oder die Botschaftsmitglieder, die einen Empfang vorbereiten, bis hin zu Handwerkern, und oft ohne Voranmeldung. Es ist also nicht so, dass ich mich durch ganz normale Vorgänge dazu verleiten liesse, an die Existenz von Geistern zu glaube.

Es ist jedoch so, dass in den drei Jahren, in denen meine Frau und ich nun dieses Haus bewohnen, viele Dinge (zu viele) vorgefallen sind, die ich mir am besten durch die Existenz von Geistern erklären kann. Alles andere wäre unheimlich.

Bevor ich heute mit den Hunden in den Garten ging und einer von ihnen ganz offensichtlich etwas wahrgenommen hat im Haus (ich glaube, er hat es gesehen, denn gerochen hätte es der andere Hund auch), hörte ich meine Frau meinen Namen rufen. Aus der grossen Küche im Erdgeschoss, wie mir schien. Ich stand also von meinem Computer auf, wo ich seit dem Frühstück persönliche Post erledigt hatte, und ging zum Absatz, wo eine schmale Treppe zur Küche im Erdgeschoss führt. «Ja…?» rief ich hinunter. Keine Antwort. Ich ging ins Zimmer meiner Frau (offenbar hatte sie von da gerufen): «Hast Du mich gerufen?».

Die Antwort war nein. Jemand hatte mich aber gerufen. Ich habe die Stimme und meinen Namen deutlich gehört. Es war nicht das erste Mal, dass ich im Haus eine Stimme höre, aber das erste Mal, dass sie meinen Namen nannte. Bei anderen Gelegenheiten hörten meine Frau und ich, wie sich zwei Stimmen im Erdgeschoss unterhielten, aber als wir nachschauten, war niemand im Haus. Manchmal hört man durch die schlecht isolierte Aussentüre, die zur grossen Küche führt, Stimmen von Menschen, die draussen vorübergehen, aber das klingt anders, als was wir hin und wieder von innerhalb des Hauses hören.   

Es sind einerseits diese Stimmen und andererseits die Schatten, die man durch den grossen Salon schreiten sieht, wenn man vom Garten ins Haus schaut. Und da ist noch etwas. Schon zweimal bin ich mitten in der Nacht, in den kleinen Stunden, aufgewacht und hatte das Gefühl, einen Umriss zu erkennen, der sich von rechts nach links durch unser Schlafzimmer bewegte. Die Gestalt schien aus dem Schuhschrank meiner Frau zu kommen und das Zimmer durch die Wand in Richtung unseres Wohnzimmers zu verlassen.

Ich bin froh, dass ich sie sah, und nicht meine Frau. Sie fürchtet sich vor Geistern und dieses Haus ist ihr auch ihretwegen unheimlich. Vom anderen Grund werde ich ein andermal erzählen.     

Mir machen diese Geister keine Angst. Jedenfalls vorläufig nicht. Ich halte sie für ehemalige Bewohner oder Gäste dieses Hauses, und sie sind offensichtlich, wenn man sie zu Gesicht bekommt, unterwegs an einem bestimmten Punkt, denn sie bewegen sich alle in dieselbe Richtung.  Ich vermute, ohne sagen zu können, woher diese Vermutung stammt, dass dieser Punkt sich ausserhalb der Residenz befindet. Vielleicht im direkt anschliessenden Teil des Gebäudes, das heute als Kanzlei benutzt wird. Vielleicht gehen sie dort aber auch durch das bei der Renovation 2015 frisch erstellte Mauerwerk hindurch und ihr Ziel ist das Palais Schwarzenberg.

Sind sie tagsüber zu einer Partie Bridge und nachts zu einem Ball unterwegs? Leihen sich die weiblichen Geister Schuhe aus von meiner Frau und kommen deshalb aus ihrem Schrank? Wann bringen sie sie zurück?

Ich würde nur allzu gerne von meinen Hunden erfahren, was sie glauben, im Fenster gesehen zu haben. Vielleicht könnten sie dazu beitragen, die Frage nach der Existenz von Geistern und nach deren Vorhandensein in diesem Haus weiter zu erhellen. Vielleicht könnten sie auch die Frage beantworten, gerade weil sie sich für sie nicht stellt, weil sie nicht in unserer Sprache sprechen oder schreiben, wo das alles ist – die Küche, das Schlafzimmer, die Schuhe, die Geister – bevor wir es aussprechen oder niederschreiben.