Archive for the ‘Texte’ Category

Die Schönheit der Berge zu verschiedenen Jahreszeiten

17. April 2023

(Der Titel ist aus Wolfgang Hildesheimers «Bildnis eines Dichters» ausgeliehen. Ich habe vor, ihn ihm bei der nächsten Begegnung zurückzugeben.)

Irgendwann zwischen 1994 und 1998 habe ich einen Schriftsteller und Theaterautor von Washington D.C. zu einer Universität in Virginia gefahren, wo er für eine Lesung erwartet wurde. Ich gehe davon aus, dass wir auch dort angekommen sind und er seine Lesung gehalten hat, aber ich mag mich weder an die Universität, noch an die Lesung oder die Rückfahrt erinnern. Es kann sein, dass ich nicht für die Lesung geblieben und am selben Tag noch nach Washington zurückgefahren bin. Die Fahrt dauert ungefähr 4 Stunden, es wäre also möglich gewesen. Etwas ungewöhnlich zwar für einen Kulturattaché, einen Autor so weit zu fahren und dann nicht für die Lesung zu bleiben, aber möglich. Ich traue mir das so, wie ich damals war, durchaus zu.   

Normalerweise hätte meine Mitarbeiterin in der Kultursektion der Botschaft den Autor auf seiner Lesetour begleitet, aber aus irgendeinem Grund, an den ich mich nicht mehr erinnere, habe ich seine Begleitung selber übernommen. Ich würde nun gerne schreiben, dass ich es tat, weil ich spürte oder zumindest hoffte, dass sich auf der langen Fahrt interessante Gespräche ergeben würden, über das Schreiben langer Texte zum Beispiel, aber das kann ich nicht.

Wahrscheinlicher ist, dass meine Mitarbeiterin, die sonst alles erledigte, wodurch sich meine Arbeit auf Begrüssungen und Verabschiedungen reduzierte, in den Ferien weilte oder andersweit verhindert war.  Jedenfalls hat die Fahrt genau das gebracht: eine sehr spannende Unterhaltung, von der mir vor allem seine Aussagen über das Schreiben langer Texte im Gedächtnis geblieben sind, denn ich war damals überzeugt, in mir stecke ein Schriftsteller, den das Schicksal mit seiner ganzen Hinterhältigkeit  in die Rolle eines Kulturvermittlers gezwängt hatte.    

Unterdessen ist ein Vierteljahrhundert vergangen. Als ich mich vor etwa zwei Jahren ohne erkennbaren Anlass an unsere Unterhaltung auf der langen Fahrt durch herbstliche Wälder erinnerte, fiel mir ausser seinem Vornamen (Peter?) zunächst gar nichts mehr zu seiner Person ein, weder der Familienname (etwas mit einem «o»?) noch der genaue Titel eines seiner Theaterstücke oder seines ersten Buches, das ich vor einigen Jahren schon einmal gesucht und als vergriffen gefunden hatte.  Das ist nicht viel, um jemanden zu finden, aber ich habe es schliesslich nach einigen (zum Teil unterhaltsamen) Umwegen geschafft, nur um traurig festzustellen, dass er vor fünf Jahren gestorben war. Aber fangen wir hinten an.

Wenn man altershalber aus dem Berufsleben ausscheidet, geht es darum, möglichst rasch etwas zu finden, was man tun könnte, wenn man nichts mehr tun muss. Die erste Schwierigkeit, die sich dabei ergibt, ist die, dass man altershalber nicht ausscheidet, sondern ausgeschieden wird – ein Vorgang, vor dessen passiver Natur man auf der Hut sein sollte. Allzu leicht prägt er sonst nicht nur den Übergang in ein Leben ohne Beruf, sondern dieses schlechthin, und ehe man es sich versieht, passiert einem eines nach dem anderen, und man stellt fest: Man hat das Heft, das man vorher vermeintlich festgehalten und fleissig beschrieben hatte, für den Rest seiner Zeit, wie kurz oder lang sie auch sei,  aus den Händen gegeben.  

Nun gehöre ich nicht zu den Leuten, die sich andauernd alles vergegenwärtigen müssen, denn meine Gegenwart ist schon dermassen mit allem Möglichen und Unmöglichen zugestellt, dass im kleinen Vorgarten zur Strasse hin, die aus der Vergangenheit an ihr vorbei in die Zukunft führt, permanent ein Schild mit der Aufschrift «Voll belegt!» stehen müsste. Trotzdem kann es hilfreich sein, wenn man sich das eine oder andere vorzustellen versucht, bevor es eintrifft. Was also werde ich tun, wenn ich eines nicht mehr fernen Tages aus dem Berufsleben ausgeschieden worden sein werde?

Die Vorstellung, dass man von seinem Beruf als Perle ausgeschieden wird, wäre natürlich nicht nur schmeichelhaft, sie würde auch die Beantwortung der Frage wesentlich erleichtern, was danach zu tun sei. Als Perle wäre auch nichts tun durchaus eine Option. Planloses vor sich hin glänzen und dafür auch noch bewundert werden.

Leider kann ich dieses schöne Bild für mich nicht in Anspruch nehmen. Perlen sollen bekanntlich in der Natur durch eine Abwehrreaktion einer Muschel entstehen, die zur Perlmuschel wird, indem sie einen Eindringling (zum Beispiel ein Sandkorn), den sie zuerst erfolglos wieder hinaus ins Meer zu befördern versuchte, mit Perlmutt umgibt und ihn dadurch isoliert und für sich unschädlich macht.

Ich bin, mag der Vergleich mit dem Sandkorn noch passend sein, in die Muschel, die mich (und meine Kinder) nun 35 Jahre ernährt hat, nicht eingedrungen, sondern von ihr mittels eines aufwendigen Concours rekrutiert worden, und sie hat mich auch nicht mit Perlmutt beschichtet, sondern mit Weisungen und administrativen Erlassen, Kontrollmechanismen und Zielvereinbarungen ein- und zugedeckt und damit unschädlich gemacht, denn wer weiss, was ich alles hätte anstellen können, wenn man mich und meine Arbeitskolleginnen und Kollegen nicht dazu angehalten hätte, uns konstant mit uns selber zu beschäftigen.

Das mit der Perle wird also nichts und ich muss mir etwas anderes einfallen lassen für die Zeit danach. Ich träume zum Beispiel immer noch davon, auch tagsüber, einen Roman zu schreiben. Ich habe mir vor einigen Jahren sogar ein Buch gekauft, in dem erklärt wird, Schritt für Schritt, wie man einen langen Text, im Gegensatz zu einem kurzen, schreibt.  Es hat mir aber nicht viel geholfen. Alles, was ich bis heute fertigbringe, sind kurze Texte.

Kurze Texte sind, ausser dass sie kurz und damit schnell vorüber sind, keine schlechte Sache. Vor allem sind sie einfach zu schreiben. Man beginnt am Anfang, schreibt etwas in die Mitte und ehe man es sich versieht, ist man am Ende angelangt und der Abspann läuft bei guter Musik. Manchmal werden noch die Zeilen nachgeliefert, die man geschrieben aber nicht verwendet hat, und man kann daraus mit etwas Geschick ein hübsches Gedicht machen.

Wolfgang Hildesheimer hat mit kurzen Texten begonnen. Wir teilen uns die Initialen, und ich frage mich, ob sie ihm seine Mutter auch auf die Unterhemden gestickt hat, damit er nach dem Schulturnen das richtige Unterhemd anzog, weil damals alle dieselben weissen Unterhemden trugen.  Auch Richard Brautigan hat mit Kurzprosa begonnen, und wenn ich jetzt sämtliche Schriftsteller aufzählen würde, die, bevor ihnen endlich ein Roman gelang, kurze Texte geschrieben und veröffentlicht haben, würde dieser Text vom Umfang her ein ziemlich langer Roman werden.

Der Theaterautor, den ich damals durch den Indian Summer von Washington nach Richmond chauffierte, es fiel mir später wieder ein, hiess Peter Adrian Cohen. Er war mir sehr sympathisch und erzählte mir, während wir durch den Shenandoah National Park nach Süden fuhren, dass er einst als gut bezahlter Mitarbeiter einer PR-Firma um die halbe Welt gereist und dabei immer in den besten Hotels abgestiegen war, bevor er und seine Frau beschlossen, als sie um die vierzig waren, bescheiden zu leben, um ihm seinen Traum zu ermöglichen: Theaterstücke schreiben.

Er erzählte mir auch, dass er fast verzweifelt sei, weil es ihm nicht gelang, ein Theaterstück oder einen Roman, kurz: einen längeren Text zu schreiben. Bis ihm jemand erklärt habe, dass das Vorgehen, die Schreibtechnik, eine völlig andere sei. Man könne nicht Sprint trainieren und dann meinen, man könne einen Marathon rennen.

Ich weiss nicht mehr, ob er mir die Technik erklärt hat, die für ihn zum Erfolg führte. Das Einzige, woran ich mich erinnere, ist, dass er Beispiele erwähnt hat. Ein berühmter Schweizer Autor soll sich jeweils kleine Figuren auf einer Bühne auf seinen Schreibtisch gestellt haben. Ein anderer soll für jede seiner Figuren einen Eigenschaftskatalog angelegt haben.

Ich habe während meiner Zeit in Washington keinen Roman geschrieben, auch danach bis heute nicht. Aber einen Marathon habe ich 1996 beendet, obwohl ich nie ein Sprinter war und am Ende mehr ging als rannte.     

Ich denke die wenigsten von denen, die schliesslich einen Roman geschrieben haben, wussten, bevor sie damit begannen, wie man einen Roman schreibt. Die meisten begannen einfach und wussten es auch während dem Schreiben nicht. Merkten erst gegen Ende, dass der Text viel zu lange geworden ist für einen Kurzgeschichte.

Die Ehrlichen unter ihnen würden vielleicht zugeben, wenn man sie fragten würde, dass sie, nachdem sie ihren Roman beendet hatten, noch immer nicht wussten, wie man einen Roman schreibt. Für solche, die mehrere Romane vorlegen können, ist es möglicherweise wie mit dem Treppensteigen: der Vorgang ist für den Körper so komplex, dass man während dem Steigen besser nicht darüber nachdenkt und danach nicht beschreiben kann, wie man es gemacht hat.    

Die Appalachen, durch die ich Peter Adrian Cohen damals zu seiner Lesung fuhr, gelten hinsichtlich ihrer Höhe als Mittelgebirge. Sie waren für die Einwanderer das erste Hindernis, das sie auf ihrem Weg nach Westen zu überqueren hatten.  Ausser sie blieben im Osten und nahmen sich vor, Romane zu schreiben.  

All das Reden

1. April 2023

“Wie geht es dem Pferd?”

Es waren seine ersten Worte, als er nach einem halben Jahr aus dem Koma erwachte, und lange Zeit sah es so aus, als ob es auch seine letzten sein würden, was sie am Ende auch sein sollten, aber das konnte man nicht wissen, denn gleich danach war er wieder weg und es würde drei lange Jahre dauern, bis er zum zweiten Mal aufwachen sollte.

Michal weinte. Sie war in seinem Krankenzimmer, als er für einen kurzen Augenblick aufwachte und sich nach dem Pferd erkundigte. Es war kein Zufall, dass sie da war. Sie war seit seinem Unfall jeden Tag nach der Arbeit direkt ins Spital gekommen und an sein Bett gesessen, stundenlang, und hatte mit ihm geredet. Nicht mit ihm, natürlich, denn er antwortete ja nicht, aber zu ihm. Sie sass an seinem Bett, hielt seine Hand und redete. Sie hatte Hable con ella von Pedro Almodóvar gesehen. Benigno spricht da auch andauernd mit Alicia. Nur Sex wollte sie nicht mit ihm haben. Das ging zu weit. Dafür müsste er zuerst einmal aufwachen.

Der junge Assistenzarzt, den sie gefragt hatte, meinte, es sei nicht völlig auszuschliessen, dass er sie hören könne. Nicht völlig auszuschliessen – sie sah ihm an, dass er vom Gegenteil überzeugt war, und dass er sie für eine Vollidiotin hielt, so etwas überhaupt zu fragen. Egal, dachte Michal. Er konnte denken, was er wollte, dieser geschniegelte Geck. Sie würde weiter zu ihm sprechen, bis er aufwachte. Dann würde man ja sehen, ob er sie gehört hatte, oder ob all das Reden umsonst war. Wobei reden nie umsonst war. Davon war sie überzeugt.  

“Gestern war ich bei Gal”, hatte sie ihm am Tag, bevor er kurz erwachte, erzählt. Ihre Schwester Gal wohnte mit ihrem Mann Yalon, ihrem Sohn Gadi, der gerade seinen Militärdienst bei einer Spezialeinheit leistete, und ihrem Wisla in Even Yehuda. Das wusste er natürlich, aber sie erklärte es ihm noch einmal, denn vielleicht hatte er durch den Sturz auf den Kopf ja das eine oder andere vergessen. “Du weisst doch, sie gehen einmal pro Monat mit den fünf Schwestern ihres Wisla und deren Besitzern ans Meer. Was für ein Schauspiel, die Hunde in den Uferwellen springen zu sehen. Sie springen unheimlich hoch.“

Der Wisla ihrer Schwester hatte vor einem Jahr einen Preis gewonnen. Irgendeine Dressur oder so. Agility hiess das, oder ähnlich. Jedenfalls hatte der Wisla ihrer Schwester gewonnen. Er war nun israelischer Meister. „Ach ja, und der Hund ihres Bruders ist gestorben. Hast Du den überhaupt je gesehen? Doch, natürlich, Du hast ihn gesehen. Der mit dem weissen Auge.“ Und falls Du jetzt gefragt hättest, wie alt er war: er war zwölf. Zwölf ist ein hohes Alter für grosse Hunde. Während kleine 15, 18 oder auch mal 20 Jahre leben können. Falls wir uns einen Hund nehmen, wenn Du wieder wach bist, meine ich, will ich einen kleinen. Es ist ganz schlimm, wenn einem der Hund stirbt. Man muss das so lange wie möglich hinauszögern. Findest Du nicht auch? Willst Du einen Hund?“

Natürlich war ihr klar, dass ihn wahrscheinlich höchstens die Hälfte von dem, was sie ihm erzählte, wirklich interessierte. Wenn überhaupt. Der Hund vielleicht. Aber sonst? Männer waren ja auch wenn sie wach waren nicht wirklich an vielem interessiert. Wenigstens nicht an den Dingen des Alltags. Der Sohn der Nachbarin ist von der Schule geflogen? – Was geht mich das an? Männer wollten auch nicht dauernd reden, informiert oder in ein Gespräch verwickelt werden. Sie wollten lieber ihre Ruhe und sie liebten es, wenn es einfach still war. Was war schön daran, wenn es still war? Und warum hatte man eine Partnerin, wenn man nicht mit ihr reden wollte? Einmal hatte sie gehört, wie ein Pfleger unter der offenen Tür zum anderen sagte: „Der arme Kerl. Er kann nicht einmal davonlaufen. Er ist ihr völlig ausgeliefert.“ Sie wünschte ihnen nichts Böses, aber vielleicht würden sie anders denken, wenn sie selber im Koma lägen.

In den ersten Tagen seines Komas hatte sie ihm viel von zuhause erzählt. „Ich musste die Orchideen wegwerfen. Alle sechs. Sie sind vertrocknet. Obwohl ich ihnen regelmässig Wasser gegeben habe. Hast Du gesehen, wie sie ihre Luftwurzeln nach allen Seiten ausstrecken?“ Natürlich hatte er es nicht gesehen. Die Orchideen standen auf dem Glastisch hinter dem Sofa, direkt am Fenster, und wenn er auf dem Sofa sass, schaute er in die andere Richtung, wo im Fernsehen irgendein Sportanlass übertragen wurde.  Langlauf, Biathlon, Eishockey, Fussball, Baseball, American Football – was auch immer, bloss keine Dokumentarfilme und schon gar keine Nachrichtensendungen, höchstens einmal ein Spielfilm, den er dann bei der dritten Werbeunterbrechung abbrach.  

Sie hätte jetzt gemein sein können zu ihm, und ihm einen Fernseher ins Zimmer stellen lassen, auf dem den ganzen Tag Nachrichten aus aller Welt liefen. Die 126. Schiesserei an einer amerikanischen Schule. Ein israelischer Schulabwart, der 15 Jahre im Gefängnis verbrachte für einen Mord an einem kleinen Mädchen, den er nicht begangen hatte. Und zwischen den Nachrichten Dokumentarfilme, bei denen – ganz egal, worum es ging – die stets gleiche, sonore Stimme den Raum füllte. Dieser weise, ältere Mann, der alles allen erklärte. Kurz vor seinem Unfall hatte sie sich eine Dokumentation über Hitlers Sexleben angeschaut. „Das Mädchen war gerade 18 Jahre alt, als Hitler sie zum ersten Mal sah*, sagte die sonore Stimme. „Sie stand auf einer Leiter, als Hitler die Buchhandlung betrat.“  

Er hatte es auf dem Weg zur Küche gehört und sich darüber lustig gemacht. „Woher will er das wissen, verflucht nochmal? Und findest Du es nicht auch verdächtig, dass er uns gerade erst erklärt hat, es ist keine Stunde her, warum die Berglöwin Zita mit ihrem letzten Wurf in ihr angestammtes Revier zurückgekehrt ist, obwohl dort unterdessen eine Rivalin mit ihren Kindern lebte?“  Sie sagte nichts. „Die haben offensichtlich bei der deutschen Synchronisierungsfirma nur einen einzigen Typen, der Dokus macht. Er geht mir fürchterlich auf den Sack. Ich hoffe, er steht nie an der Kasse im Billa vor mir und erzählt seinem Grosskind die Geschichte des Einkaufswagens. Ich müsste mich schwer beherrschen, ihm keine reinzuhauen.“ Michal hatte nur gelacht. Er und jemandem eine reinhauen. Gerade er. Sie liebte Dokumentarfilme, vor allem über den 2. Weltkrieg. Und es störte sie nicht, dass die Stimme des Erzählers stets dieselbe war. Dier Sportreporter tönten auch alle gleich.

 „Es tut mir leid, dass ich gestern Abend nicht gekommen bin“, sagte sie an einem Abend im Februar zu ihm. „Ich bin gleich nach der Arbeit ins Warenhaus und habe uns einen Luftbefeuchter gekauft. Vielleicht nehmen Orchideen ja die Feuchtigkeit mit ihren Luftwurzeln auf und sie sind wegen der trockenen Luft abgestorben. Wegen der Heizung, Du weisst schon. Er steht in der Mitte des Wohnzimmers, damit er die Luft in alle Richtungen befeuchten kann, und da wird er bleiben, bis Du nachhause kommst und darüber stolperst. Nein, keine Angst, natürlich stelle ich ihn an die Wand, bevor Du nachhause kommst.“  

„Vielleicht ist er dann aber auch schon wieder weg. Ich bin mir nicht sicher, ob er richtig funktioniert. Als ich ihn einschaltete, gab er die Luftfeuchtigkeit mit 36% an. Wie kann ein Gerät in einer Sekunde die Luftfeuchtigkeit so genau bestimmen? Und nach einer Viertelstunde, weisst Du, was er da behauptet hat? Die Luftfeuchtigkeit betrage jetzt 34%. Ist es zu glauben? Ist das Gerät bereits defekt oder habe ich vielleicht aus Versehen einen Trockner gekauft? Ich geb ihm jetzt ein paar Tage, und sonst bring ich ihn dann zurück. Es ist eine zweijährige Garantie drauf und ich habe die Rechnung behalten.“

Ernesto war im März 2023 bei einer Demokratie-Demonstration beim Hashalom Bahnhof in Tel Aviv von einem berittenen Polizisten überrannt worden. Überrannt ist zuviel gesagt, aber so nannten sie es in den Nachrichten, weil es brutaler klingt. Das Pferd kippte, von der aufgewühlten Menge bedrängt, mit seinem Reiter langsam, fast in Zeitlupe, zur Seite und fiel auf Ernesto, der mit dem Kopf auf dem Randstein aufschlug.

Michal hatte ein schlechtes Gewissen. Sie hatte ihn überredet, mit ihm an die Demonstration zu gehen. „Was soll ich da?“ hatte er geantwortet. „Mein ganzes Leben habe ich nicht an einer einzigen Demonstration teilgenommen. Warum sollte ich jetzt noch damit anfangen?“ „Komm, sei kein Spielverderber, nur dieses eine Mal!“ hatte sie ihn gedrängt. „Du kannst nicht immer alles verpassen.“ Obwohl sie wusste, dass er das ohne weiteres konnte.

Schliesslich hatte er nachgegeben, und als sie auf dem Weg zum Bahnhof auf der Brücke standen und unten auf dem Highway zum ersten mal eine Staffle berittener Polizei sahen, war er beeindruckt.

„Was für kraftvolle, elegante Tiere“ sagte er zu ihr. „Mir tun sie nur immer leid, wenn sie so eingesetzt werden.“  Und dann dies.

Und damit nicht genug. Den ganzen Abend zeigten sie auf allen Nachrichtenkanälen die gleiche Sequenz, von einem Demonstranten auf seinem Handy gefilmt, wie ein älterer Mann unter einem umstürzenden Polizeipferd begraben wird, in einer Endlosschlaufe. Er, der Nachrichten hasste, war nun landesweit die Nachricht des Abends. Das Einzige, was fehlte, war, dass eine sonore Stimme das Ereignis kommentiert hätte.  

Als Ernesto Torrini am 28. August 2026 das zweite Mal erwachte, war Michal nicht im Krankenzimmer. Netanyahu stand gerade vor Gericht, der Likud hatte sich gespalten, Iran bestritt auf’s Heftigste, einen unterirdischen Atombombentest durchgeführt zu haben, die Schweiz diskutierte die Auslegung ihrer Neutralität und die Russen versuchten gerade, die 2024 verlorene Krim zurückzuerobern.

Ernestos Kinder aus erster Ehe, Toni und Arlette, sassen  an seinem Bett, überglücklich, ihren Vater, der dreieinhalb Jahre als vermisst gegolten hatte, zurückzuerhalten. Sie waren unverzüglich aus der Schweiz angereist, nachdem das Spital sie benachrichtigt hatte. Es hatte sich durch eine Verkettung von für Michal unglücklichen administrativen Abläufen herausgestellt, wer Ernesto war und dass sie ihn gar nicht kannte, jedenfalls hatte sie nie mit ihm zusammengewohnt. Sie hatte sich spontan als seine Frau ausgegeben und war nach dem Unfall mit in die Ambulanz gestiegen. Nachdem alles herausgekommen war, durfte sie ihn nicht mehr besuchen.

Ernesto erholte sich nie mehr richtig. Er sass im Rollstuhl und das Sprechvermögen erlangte er nicht mehr. Jedenfalls sprach er nicht. Es war unklar, was er noch wusste, und was nicht, woran er sich erinnerte und woran nicht. Schriftlich kommunizierte er sehr knapp, meist einsilbig, auf einem kleinen Block, den er stets auf seinem Schoss hatte.

„Durst“

„Toilette“

*Rücken kratzen“

Auf Fragen, mündlich oder schriftlich, reagierte er nicht. Nur ein einziges Mal, als die Frau von der Spitex, die sich tagsüber um ihn kümmerte, ihn eines Abends, bevor sie ging, fragte, ob er noch etwas brauche, schrieb er auf seinen Block das Wort „Orchideen“.

Enenen

18. Juni 2022

(der Fall Paul K.)

Wer für einen Moment vergessen hat, wann die Berliner Mauer gefallen ist, oder lediglich nicht mehr ganz sicher ist, ob es wirklich im Jahre 1989 war (Oktober oder Herbst?), und nichts Falsches behaupten möchte, dem macht es Google leicht. Er muss nur «Fall der» ins Suchfeld eintippen, und schon erscheint ohne Knopfdruck die «Berliner Mauer». Gibt man hingegen «Der Fall» ein, kommt von Collini über Jesus ein ganzer Rattenschwanz von Fällen, nur auf den Fall der Evelyne B. wartet man vergeblich, denn es ist nur der zweite Teil des Titels eines Romans von Ernst Augustin (Raumlicht), wo in den Träumen des Ich-Erzählers, der in München nicht auffallen möchte, Afghanistan immer im Regen liegt. 

Raumlicht war nicht das erste Buch von Ernst Agustin, das ich gelesen habe (das erste war Der Amerikanische Traum), es war auch nicht das zweite, aber ich habe es gelesen, weil ich noch heute  lieber nach dem ersten noch ein zweites oder drittes Buch eines Autoren lese, als neben dem ersten seine Biografie. Ich bin bei meiner gegenüber meinen Deutschlehrern verteidigten Ansicht geblieben, dass ein Buch les- und geniessbar sein muss, ohne dass man etwas über das Autorenkollektiv weiss, das damals in einer Wohngemeinschaft in Ostberlin lebte, bis Paul K. (den alle nur Roddy nannten) die Flucht in den Westen gelang, womit das Kollektiv zu existieren aufhörte und die anderen Mitglieder bald darauf die Räume der WG verlassen mussten, weil sie ohne Roddys Beitrag die Miete nicht mehr bezahlen konnten. 

Muss ich wirklich wissen, wer im Ostberliner Autorenkollektiv gerade mit wem geschlafen und sich (deswegen, wirklich deswegen, Leute?) mit wem überworfen hat, während einer der fünf Romane entstand, die sie gemeinsam geschrieben haben? Muss ich die Geschichte des getrennten Berlins kennen, die Geschichte des Kalten Krieges und wie er im November 1989 endete, bis man im Februar 2022 überrascht feststellen musste, dass er damals gar nicht zu Ende gegangen war, sondern im Verborgenen fast 33 Jahre lang fortgedauert hatte, um danach wieder ungehemmt und wild lodernd auszubrechen, als wäre es gar kein kalter Krieg gewesen, sondern ein Brand, der unbemerkt vor sich hin gemottet hat?  

Paul K. ist nach seiner Flucht in den Westen nicht mehr viel gelungen. Durch seine Flucht interessanter geworden, als er zuvor war, tingelte er noch ein paar Jahre durch die literarischen Talk-Shows und es gibt ein undatiertes Bild von ihm, wie er neben Wolf Biermann in einem Salon im Berliner Ortsteil Moabit auf dem Friseurstuhl sitzt und sich den Backenbart stutzen lässt, aber geschrieben hat er nach seiner Flucht nichts mehr, jedenfalls nichts, was veröffentlicht worden wäre, oder wenn, dann von einem Kleinverlag, dessen Restbestände noch ein paar Jahre in einem Berliner Antiquariat zu besichtigen waren, in welchem die «Furie des Verschwindens» in einem Gedichtband von Enzensberger auf dem Regal wartete, bis ihr, der am Ende alles zufällt,  auch das Antiquariat zufiel.  

Ganz bestimmt wird einmal jemand der Frage nachgehen, ob Paul K. nicht mehr schrieb (jedenfalls nichts mehr, was veröffentlicht wurde), weil er zum Schreiben zwingendermassen das in Ostberlin zurückgelassene Kollektiv gebraucht hätte, oder ob es vielleicht damit zu tun haben könnte, dass ihn in Westberlin niemand mehr Roddy nannte. Wie dem auch sei: Er hat nach seiner Flucht nichts mehr geschrieben und soll – Ironie des Schicksals – zuletzt von der Sozialhilfe gelebt haben, nachdem er seinen Job als Ausläufer verloren hatte und die Miete für seine Zweizimmerwohnung in Berlin Lichtenberg, die er alleine bewohnte, nicht mehr bezahlen konnte.

Zwei Monate bevor er im Alter von 73 Jahren im Bundeswehr Krankenhaus an einer verschleppten Lungenentzündung starb, soll er verzweifelt versucht haben, nach Ostberlin zurückzukehren. Er konnte ohne die Mauer nicht glauben, dass er bereits in Ostberlin war.  

Soviel zum Fall Paul K.  An den Fall Jesus wage ich mich hier nicht. Die Recherchen würden zu lange dauern, ausser man beschränkt sich auf den gleichnamigen Film aus dem Jahr 2017, der wesentlich weniger lange zurückliegt. Beim Fall Collini geht es um einen deutschen Politthriller aus dem Jahr 2019, eine Verfilmung des 2011 erschienenen Romans Der Fall Collini von Ferdinand von Schirach, der vor seiner Karriere als Schriftsteller in Berlin als Strafverteidiger wirkte, und dessen Grossvater, Baldur von Schirach, zwischen 1940 und 1945 Hitlers Gauleiter und Reichsstatthalter in Wien war und als solcher verantwortlich für die Deportation von 185’000 österreichischen Juden.

Die gelb unterlegte Bemerkung «Dieser Artikel ist älter als ein Jahr», die einem beim Lesen des Artikels über Ferdinand von Schirachs Verhältnis zu seinem Grossvater auf der orf.AT Webpage ins Auge springt, mutet etwas seltsam an. Was ist damit gemeint? Dass der Artikel verjährt ist? Dass die im Artikel gemachten Aussagen vielleicht unterdessen nicht mehr stimmen? Oder ist es eine Warnung, dass der Artikel nur noch kurze Zeit auf der Webpage sein wird, weil er bereits ein Jahr lang aufgeschaltet war, und alles, was nach anderthalb Jahren nicht mehr genügend Hits pro Monat erhält, wird automatisch gelöscht? 

Das wäre schade. Ferdinand von Schirachs Distanzierung von seinem Grossvater Baldur, auf die der Artikel verweist, ist überzeugend und sollte nicht verjähren. Der Artikel zeigt aber letzten Endes auch, wie alles zusammenhängt: der Fall der Mauer mit dem Fall Collini, die von Schirachs mit Berlin, wo Paul K. zuerst im Ost- und dann im Westteil der Stadt gelebt hat, um am Ende in Ostberlin zu sterben, ohne es zu merken, und Berlin mit Wien, wo ich sitze und schreibe.  

PS: Enenen ist kein Name. Es ist auch kein Wort, sondern eine Endung, die man in Worten wie erschienenen finden kann. Beim Durchlesen dieses Textes bin ich über die Endung gestolpert und habe zunächst gemeint, da wäre ein «en» zu viel, bis ich – kurz davor, es aus dem Wort zu streichen – begriff, dass sich das erste «en» in einem «ien» versteckt, und da fand ich, doch, das ist einen Titel wert.

Die Überquerung des Pazifiks in einem Zug aus Balsaholz  

16. Juni 2022

(über die Schwierigkeit, ausgeliehene Bücher zurückzugeben)  

Ich wurde in der Vergangenheit ab und zu von Leuten, die ich kaum oder gar nicht kannte, auf Bücher angesprochen, die ich ihnen ausgeliehen hätte, meist im Zug, und während ich in einem Buch las, das ich gerade niemandem ausgeliehen hatte.  

„Sie haben mir vor vielen Jahren“, richtete zum Beispiel einmal ein älterer Herr irgendwo zwischen Aarau und Olten unvermittelt sein heiseres Wort an mich, nachdem er mir seit Zürich schweigend gegenübergesessen hatte, „Als wär’s ein Stück von mir von Carl Zuckmayer ausgeliehen. Ich habe es nun endlich fertiggelesen und möchte es Ihnen zurückgeben, habe es aber nicht bei mir.“

„Kennen wir uns?“ fragte ich.  Aber anstatt zu antworten, fuhr er fort: „Wenn Sie morgen wieder denselben Zug nehmen, kann ich Ihnen das Buch mitbringen.“

„Ich weiss nicht, ob ich morgen wieder Zug fahren werde,“ sagte ich, obwohl ich wusste, dass ich am nächsten Tag wieder im selben Zug unterwegs sein würde, „und ich glaube, hier liegt eine Verwechslung vor. Ich kenne Sie nicht und ich habe niemandem ein Buch von Carl Zuckmayer ausgeliehen.“

Der alte Mann reagierte nicht.

„Das von Ihnen erwähnte Buch stand zwar in der Bibliothek meines Vaters“, fuhr ich fort, „aber ich habe es nie gelesen, obwohl mich der Titel als Jüngling beeindruckt hat. Es stand, wenn ich mich richtig erinnere, zwischen Stefan Zweigs Die Welt von gestern und Heinrich Manns Ein Zeitalter wird besichtigt, aber ich weiss nicht einmal, wo das Buch jetzt ist. Vielleicht in meiner Bibliothek in Wien, vielleicht aber auch in meinem Lager in Bülach. Ich hoffe, ich habe es nicht bei einem meiner zahlreichen Umzüge weggegeben. Ausgeliehen habe ich es auf jeden Fall nicht.“

„Vielleicht war es auch Die Welt von gestern, die Sie mir ausgeliehen haben“, sagte der alte Mann.  „Ich kann Ihnen morgen gerne beide Bücher zurückbringen, wenn Sie wollen, aber ich müsste wissen, in welchem Zug ich Sie antreffen kann.“

„Auch die Welt von gestern habe ich Ihnen nicht ausgeliehen,“ antwortete ich mit einem Seitenblick auf die Sitznachbarin des alten Manns, eine jüngere Frau mit wallenden Locken und Hornbrille, die unserer Unterhaltung ganz offensichtlich folgte. „und Sie müssen mir keines der Bücher zurückgeben, denn sie gehören mir nicht. Wie gesagt, es liegt eine Verwechslung vor. Stellen Sie sich vor, Sie treffen später auf den Mann, der Ihnen die Bücher ausgeliehen hat, und Sie können sie ihm nicht zurückgeben, weil Sie sie bereits mir gegeben haben. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich möchte weiterlesen.“  

Der alte Mann schwieg eine Weile, dann sagte er „Oder war es vielleicht Kon-Tiki von Thor Heyerdahl?“, wobei er sich vorbeugte und mir mit dem Zeigfinger auf das Knie tippte.

„Das reicht jetzt!“ sagte ich, irritiert durch seine Berührung vielleicht etwas zu energisch und zu laut, und er schreckte zurück, als hätte ich ihn angeschrien.

„Was herrschen Sie den alten Mann so an!“ schaltete sich seine Sitznachbarin ein. „Er hat Ihnen doch nichts getan. Er will Ihnen nur ihre Bücher zurückgeben, und Sie schreien hier herum, als würde er Sie bedrängen.“

„Es sind aber nicht meine Bücher“ sagte ich zu ihr, „Ich kenne den Mann überhaupt nicht, und was mischen Sie sich überhaupt ein?“, um dann an meinen Sitznachbarn gewendet fortzufahren: „Wollen Sie sich vielleicht auch noch dazu äussern?“

Dass ich wegen des alten Mannes so die Fassung verlor, hatte mit seiner Berührung zu tun (ich werde nicht gerne von fremden Menschen angefasst) und mit seinem Insistieren, aber am meisten irritiert hatte mich, dass er nach Als wär’s ein Stück von mir und Die Welt von gestern nun auch noch Kon-Tiki erwähnt hatte – ein weiteres Buch, das sehr nahe bei den anderen beiden Büchern in der Bibliothek meines Vaters gestanden hatte. Ich habe kein fotografisches Gedächtnis (eher ein Tonband im Ohr, das alles, was ich höre, aufnimmt und in meinem Gedächtnis speichert), aber an einzelne Bereiche der Bibliothek meines Vaters erinnere ich mich noch sehr genau.

Ich kann heute noch die Rücken der Bücher beschreiben, ihre Umschläge und Einbände, und ich weiss natürlich ihre Titel noch. Im Falle von Kon-Tiki kann ich mich auch an die Bilder des Schiffs aus Balsaholz erinnern, und wie ich mich damals gewundert hatte, wie man aus einem so leichten, zerbrechlichen Holz, aus dem wir kleine Segelflieger mit Gummimotoren bastelten, ein Schiff bauen könne, das den Pazifik zu überqueren vermag.

Wie konnte der alte Mann gleich drei Titel von Büchern nennen, die in der längst aufgelösten, umfangreichen Bibliothek meines Vaters praktisch nebeneinander standen? War er zu Lebzeiten meines Vaters bei uns in Zürich zuhause gewesen? Hatte er meinen Vater gekannt?

„Entschuldigen Sie,“ wandte ich mich dem alten Mann wieder zu „dass ich Sie angeschrien habe.“ (denn offenbar hatte ich ihn wirklich angeschrien) „Es tut mir leid, und ich wollte das nicht.“

„Jetzt bin ich sicher“ sagte er. „Es war Kon-Tiki, das sie mir ausgeliehen hatten.“

„Könnte es sein,“ fragte ich ihn, „dass Sie mich mit meinem Vater verwechseln? Er hiess ebenfalls Walter und je älter ich werde, sagen mir Leute, die ihn kannten, desto ähnlicher sehe ich ihm. Er war natürlich grösser als ich, aber das sieht man ja nicht sofort, wenn ich sitze. Und vielleicht ist die Ähnlichkeit jetzt, wo ich älter bin als er, ja noch frappanter geworden.“ Aber der alte Mann wiederholte nur „Es war Kon-Tiki!“, dann stand er auf und ging in Fahrtrichtung des Zuges, der in diesem Augenblick gerade in den Bahnhof Solothurn einrollte, auf den Ausgang zu.

Den Rest der Fahrt bis Bern hielt ich mein Buch in den Händen, aber ich las keine Zeile mehr. Es diente mir mehr dazu, den missbilligenden Blicken der jungen Dame auszuweichen. Ich dachte an den alten Mann, der vielleicht wirklich meinen Vater gekannt hatte, und ich bereute, dass ich ihm, als er in Solothurn den Zug verliess, nicht nachgegangen war. Vielleicht war es aber auch einfach ein grosser Zufall, dass er drei Bücher erwähnte, die in meines Vaters Büchergestell nebeneinander gestanden hatten, und dass er gerade mir eines zurückgeben wollte.  Vielleicht war es auch ein nicht ganz so grosser Zufall, weil belesene Menschen seiner Generation die gleichen Bücher lasen.  

Ich könnte diese Geschichte nun leicht so beenden, dass ich behaupten würde, ich hätte den alten Mann ein paar Tage später wieder getroffen, im selben Zug von Zürich nach Bern. Er sei im Viererabteil schräg vis-à-vis gesessen und ich hätte mitgehört, wie er seinem Gegenüber, einer älteren Dame, ein Buch von Alberto Moravia (Il disprezzo) zurückgeben wollte, welches ich in der englischen Übersetzung gelesen hatte (A Ghost At Noon), und welches sie, so beteuerte sie ohne laut zu werden, ihm nie ausgeliehen hatte.  Aber wer würde das glauben?

Lächerliche Passanten

11. Juni 2022

Als ich gestern, es war Freitagnachmittag, mit meiner Frau im Café am Hof gegenüber vom Schwarzen Kamel sass, kamen mir auf einmal alle Leute, die vor unseren Augen vorübergingen, völlig lächerlich vor.

Der Unterschied zwischen dem Café am Hof und dem gegenüber liegenden Schwarzen Kamel sind weniger die leckeren Canapés, die es im Café am Hof nicht gibt, sondern der Umstand, dass man im Café am Hof sitzt, Kaffee trinkt und die Menschen vorbeiziehen sieht, während man im Schwarzen Kamel sitzt, damit die vorbeigehenden Menschen sehen können, dass man im Schwarzen Kamel sitzt.

Man kann übrigens im Café am Hof draussen auch sitzen und sich etwas ausruhen, wenn man vom Flanieren oder Einkaufen müde geworden ist, ohne etwas zu konsumieren. Allerdings nur an einem einzigen Zweiertisch, der direkt vor der hohen Bar steht und dort in einer Art totem Winkel, in dem einen die Kellner, obwohl sie dauernd daran vorbeigehen, nicht wahrnehmen und deshalb erst bedienen, nachdem man sich bemerkbar gemacht hat. Auch auf das Zahlen kann man am Ende entsprechend lange warten und ich vermute, man könnte auch gehen, ohne zu bezahlen, und es würde erst am Feierabend bemerkt, dass auf dem Tisch gebrauchtes Geschirr steht und vermutlich Gäste da waren.    

Das Lächerliche begann mit zwei jüngeren Herren, die offensichtlich ihr Wochenpensum geleistet hatten und auf dem Weg in ihr Wochenende waren. Sie sahen, wenn auch jung, dynamisch und modern frisiert, mit ihren dunkelblauen Anzügen dennoch absolut lächerlich aus, als trügen sie das Kostüm einer fünftägigen Aufführung, die gerade zu Ende gegangen war und am Montag wieder neu beginnen würde.  

Dass sie mir lächerlich vorkamen, wäre an sich noch nichts Besonderes gewesen, und ich würde es für sich genommen kaum hier erzählen. Männer in Anzügen kommen mir oft lächerlich vor, eigentlich mehr als nicht. Vielleicht deshalb, weil ich nun 35 Jahren lang selber in einem solchen Kostüm aufgetreten bin und Männer in dieser uniformhaften Bekleidung einfach nicht ganz ernst nehmen kann (Frauen in Hosenanzügen übrigens auch nicht), weil sie in ihren Anzügen und mit ihren Krawatten ganz offensichtlich etwas spielen, eine Rolle, die Anzüge erfordert, und lustigerweise darin vor und mit anderen auftreten, die ausnahmslos auch solche Anzüge tragen.  Das Besondere an diesem Nachmittag war, dass mir auch alle anderen Passanten, die keine Anzüge trugen, plötzlich lächerlich vorkamen.

Eine kleine Gruppe chinesischer Touristen fand ich total ulkig mit ihren Einkaufstaschen. Bei einem Mann, der nahe an unserem Tisch vorbeiging, musste ich mich zurückhalten, dass ich nicht laut in sein grimmiges Gesicht lachte, und ein anderer Mann tat beim Gehen das, was man „rouler la mécanique“ nennt, so ausgeprägt, dass es wirklich zum Schiessen komisch war und ich meine Frau auf seinen Macho-Gang hinwies. Zum Glück tat ich das diskret, denn er machte kurz darauf kehrt und trat an den Tisch neben uns, um ein Paar zu begrüssen, das – es wird mittlerweile niemanden mehr wundern – absolut lächerlich aussah.  

Als nächstes kam eine Frau vorbei in einem enganliegenden, ihren übergewichtigen Körper unvorteilhaft betonenden Outfit, die offenbar mit ihren Tragtaschen nicht wusste, wo sie als Nächstes hinwollte, denn sie sollte etwas später in der anderen Richtung noch einmal vorbeikommen und wieder etwas später ein drittes Mal, diesmal wieder aus ihrer ursprünglichen Richtung.

Obwohl ich sie in ihrer an Verwirrung grenzenden Unentschlossenheit bedauerte, musste ich gleichzeitig lachen über ihren Anblick, wie mich auch ein sie beim ersten Mal kreuzender Jüngling in kurzen Hosen amüsierte, wahrscheinlich ein Student, der eine dieser Freitag-Taschen, die angeblich aus alten Lastwagenplanen gefertigt werden, über der Schulter trug und mit seinem zu langen Oberkörper so weit nach vorne gebeugt ging, dass man Angst um ihn haben musste, er würde gleich vornüber fallen.  

Dann kam ein älteres Ehepaar, das ganz und gar normal aussah, und auf mich trotzdem und vielleicht gerade deshalb völlig lächerlich wirkte. Meine Frau hatte, obwohl sie in einem Buch las, unterdessen mitbekommen, dass ich dauernd lachen musste, und sie fragte mich, was mich in aller Welt so amüsiere. „Die Menschen!“ antwortete ich lachend, und zeigte auf zwei junge Frauen, die sich eingehakt hatten und die eine sprach auf die andere ein. „Schau Dir nur diese beiden an – sind sie nicht drollig?“. „Oder diese drei Männer (in Freizeitkleidung) – schau Dir den wichtigen Gang an, wie jeder einzelne von ihnen geht. Was die wohl denken, wohin sie gerade unterwegs sind, diese Komiker.“

Schräg hinter uns erzählte ein Mann jemandem von einem Haus, das er im Tirol besitzt und gerade mit hochwertigen Materialien umgebaut habe, und etwas später, ohne dass der andere (oder die andere) dazwischen wirklich zu Wort gekommen wäre, von einem anderen seiner Häuser, das er nächstens im Salzkammergut umbauen werde.  „Es war wohl,“ sagte ich zu ihm, indem ich mich zu ihm umdrehte, “gegenüber kein Tisch mehr frei?“. Er schaute mich verständnislos an und der andere, ein weisshaariger Mann in einem verblichenen Polo Shirt, den ich mir auch mit einer Matrosenmütze hätte vorstellen können, schüttelte seinen Kopf und lehnte sich dann wieder erwartungsfroh in seinen Sessel zurück, um zu erfahren, wo sein Gegenüber wohl das nächste seiner Häuser umbauen würde.  

Ich versuchte auszublenden, was hinter mir renoviert wurde, und amüsierte mich noch eine ganze Weile über die Parade der Menschen, die in unterschiedlichen Graden der Lächerlichkeit an uns vorbeizogen, dann gelang es mir nach mehreren Versuchen, die Aufmerksamkeit eines Kellners zu erhaschen und die Rechnung zu bezahlen, bevor unser Tisch wieder unsichtbar wurde. Auch die Kellner wirkten übrigens in ihren Uniformen lächerlich, sowohl der Chefkellner, der, nachdem er uns endlich entdeckt hatte, die Bestellung aufnahm und am Ende auch die Rechnung brachte, als auch sein junger Kollege, der dazwischen die Getränke gebracht hatte.

Auch auf dem Weg zum Taxi (meine Frau ist nach einer Operation noch nicht allzu gut zu Fuss) trafen wir auf lächerliche Menschen, und der Taxifahrer gab eine durchaus lustige Figur ab, so dass ich mich auf der Heimfahrt fragte, was es heute mit all den lächerlichen Leuten an sich habe, und ob die Menschen je wieder aufhören würden, lächerlich auszusehen für mich, denn ich war mir sehr bewusst, dass sie nur mir lächerlich vorkamen. Nur ich konnte an allen, die ich heute sah, das Lächerliche erkennen, weil es mir unmittelbar in die Augen sprang.  Meine Frau lachte zwar auch, wenn ich sie auf  diese oder jene Lächerlichkeit hinwies, aber sie wären ihr wohl alleine nicht aufgefallen, und sicher nicht bei allen Vorübergehenden.

Zuhause angekommen vermied ich es, in einen Spiegel zu schauen, nicht in den grossen gleich nach der Eingangstüre, und auch nicht beim Zähneputzen vor dem ins Bett gehen. Ich putzte meine Zähne im Dunkeln, als meine Frau schon schlief, nachdem ich ihr die Verbände gewechselt hatte, immer wieder leise kichernd, weil mir einzelne Menschen in den Sinn kamen, die ich zum Lachen gefunden hatte. Ich hatte irgendwie Angst, mich selber der Lächerlichkeit preiszugeben, die mich heute ob allem Menschlichen ergriffen hatte.    

Zwerge erfinden

8. Juni 2022

Im Jahr 1867 erschien in der mit Ausnahme der Jubiläumsausgabe zum 10-Jährigen Erscheinen auf dreissig Exemplare beschränkten Hauszeitung des Salzburger Lesezirkels, dem damals rund zwei Dutzend mehr oder weniger aktive Mitglieder (alles Männer) und ein schon vor vielen Jahren aus Salzburg weggezogenes Passivmitglied Namens Franz-Albert Schwegler angehörten, das erstaunlicherweise seinen (für Passivmitglieder um die Hälfte reduzierten) Mitgliederbeitrag immer noch durch eine jährliche Postanweisung bezahlte, ein Essay mit dem Titel «Wider das Princip der rheinen Fiction».

Verfasser des Essays war der österreichische Kulturphilosoph und Literaturkritiker Ernst Kippenhofer, Gründungsmitglied, erster Präsident (bis 1864) und Kassenwart (1864-68) des Lesezirkels, dessen Bekanntheitsgrad, wenn man Salzburg verliess, rasch abnahm, der aber in Salzburg auch nach dem Erscheinen seines Essays noch höflich und mit einem gewissen Respekt gegrüsst worden sein soll.

Die These, die Ernst Kippenhofer (der mit vollem Namen Ernst Wolfgang Amadeus Karl Kippenhofer hiess, wobei Karl als Kollateralschaden aus dem Namen flog, als Kippenhofer sich Mozarts Vornamen entledigte, die ihn, so kann man es im Manuskript seiner unveröffentlichten Memoiren nachlesen, «fast seit (seiner) Geburt geärgert hatten») in seinem Essay aufstellte, lief darauf hinaus, dass es so etwas wie die reine Fiktion zumindest in der Literatur nicht geben kann und somit auch nicht gibt.

«Es kann in der Literatur», hob Kippenhofer, als er seine These zum ersten Mal im Lesezirkel vortrug,  mit seiner sonoren Stimme an, «die reine Fiktion, wenn man sich an die Gesetze der Logik hält, gar nicht geben» um dann mit der ihm eigenen Begabung für praktische und anschauliche Beispiele gleich den Beweis für seine Behauptung nachzuliefern, indem er fortfuhr: «Nehmen wir einmal an, ich schreibe eine Geschichte, und erfinde in der Mitte der dritten oder vierten Seite einen Zwerg.»

«Sieh an, er hat einen Zwerg erfunden» flüsterte ein Mitglied des Lesezirkels, ein pensionierter Oberschullehrer, der beim erstmaligen Vortragen von Kippenhofers Essay in der vordersten Pultreihe des kleinen Lesesaals der Bibliothek sass, wo sich der Lesezirkel einmal im Monat traf, seinem Nachbarn, einem Mähmaschinenhändler, ins Ohr. Jedenfalls hatte er gemeint, er hätte geflüstert, aber Kippenhofers umgehende Reaktion «Sehen Sie, geschätzter Oberschullehrer a.D., genau das habe ich gemeint!» belehrte ihn eines anderen.

«Wenn ich mich im Moment, gleich nachdem ich den besagten Zwerg in meinem Text habe erscheinen lassen, noch dem süssen, schöpferischen Wahn hingeben durfte, ich hätte gerade einen Zwerg erfunden, und befände mich also von diesem Moment an – und solange der Zwerg im Text herumspaziert – im für alles offenen Reich der reinen Fiktion, so kommt mir im selben Augenblick, wo jemand von «meinem» Zwerg Notiz nimmt, meine Schöpfung abhanden, indem sie von der vermeintlichen Fiktion in die Wirklichkeit abwandert.»

«Er hat einen Zwerg erfunden, haben Sie gerade gesagt, nichtwahr, und damit existiert der Zwerg nun auch ausserhalb meines Textes, in dem ich ihn abgesetzt hatte. Er ist durch Ihre Worte in diesen Saal spaziert und befindet sich jetzt entweder noch irgendwo unter den Lesepulten oder er turnt in den Bücherregalen herum, oder er hat die Bibliothek bereits verlassen und erkundet draussen neugierig seine neue Umgebung. Er kannte ja bisher nur die paar Seiten meines Textes, auf denen noch nicht viel los oder zu sehen war, vor allem, weil ich sie gar nicht geschrieben habe.

Es war ja nur eine Annahme, um die ich Sie gebeten hatte, dass ich eine Geschichte geschrieben hätte, an deren Anfang ein Zwerg auftaucht, und nun sitzen wir hier, und fragen uns, wohin der Zwerg verschwunden sein könnte und ob es uns je gelingen wird, ihn wieder einzufangen. Das ist alles andere als Fiktion, meine Herren. Der Zwerg ist, auch wenn er nur als Beispiel zur Illustration meiner These hätte dienen sollen, spätestens jetzt, wo wir über ihn reden, ein selbständiger Teil unserer Wirklichkeit geworden, Ihrer und meiner, ob wir wollen oder nicht, und er wird, auch wenn er von nun an unauffindbar und unsichtbar bleiben sollte, was bei Zwergen eher wahrscheinlich als unwahrscheinlich ist, von nun an existieren.»

«Er wird nicht nur unter uns, sondern uns mit Sicherheit auch überleben, denn Zwerge altern nur äusserst langsam. Wir werden, meine Herren, längst tot und begraben sein, wenn sich dieser Zwerg noch in der Stadt und im Salzburger Hinterland herumtreibt und Seinesgleichen sucht.»  

***

Auf dem Heimweg von diesem denkwürdigen Abend wurden die Mitglieder des Salzburger Lesezirkels alle von Kippenhofers Zwerg begleitet. Die einen, weil sie Kippenhofers These nicht folgen konnten oder wollten und den beispielhaften Zwerg als Fiktion mit zu sich nachhause nahmen, die anderen, weil sie ein Stück weit den gleichen Heimweg hatten, auf dem sie über den nun offenbar noch ganz durchgedrehten Kippenhofer und seinen erfundenen Zwerg lachten, und dabei nicht bemerkten, wie sich in ihr Lachen, das von den engen Gassen widerhallte, ein anderes, kleines Lachen mischte.  

Ein paar wenige waren auch darunter, die, obwohl sie Kippenhofers Argumentation nicht bis ans Ende folgen konnten, den Zwerg oder die Vorstellung von ihm ein wenig liebgewonnen hatten und es tat ihnen Leid, dass er jetzt so alleine und womöglich für Jahrhunderte in einer fremden Umgebung herumwandern müsse.   

***

Vor zwei Jahren, also über 150 Jahre nach dem Erscheinen von Kippenhofers Essay und dem damit verbundenen Auftauchen des Zwerges, hat ein Germanist, dessen Name ich hier nicht nennen möchte, weil er es nicht verdient hat, dass man seinen Namen nennt, und weil man mir sonst vorwerfen könnte, ich hätte ihn erfunden (als ob ich so jemanden erfinden möchte), allen Ernstes behauptet, und zwar in einer literarischen Revue, der ich den raschen Untergang wünsche, es hätten sich trotz intensiver Forschung keinerlei Belege dafür finden lassen, dass es den Salzburger Lesezirkel, dessen Hauszeitung, das weiter zahlende Passivmitglied Franz-Albert Schwegler oder Ernst Kippenhofer und sein Essay je gegeben habe.

Es ist mir völlig schleierhaft, wie jemand dazu kommen kann, sich mit einem für die Literatur und die Literatururgeschichte fast bedeutungslosen Objekt zu befassen, nur um am Ende zum Schluss zu kommen, das alles habe es überhaupt nie gegeben.

Wenn sich dieser überaus bornierte Germanist – wie Kippenhofer es formuliert hätte – «an die Gesetze der Logik gehalten» und seine absurden Folgerungen wenigstens konsequent zu Ende gedacht hätte, hätte er zum Schluss kommen müssen, dass es weder Mozart, Salzburg, noch das Jahr 1867 je gegeben hat und der Kalender vom 31. Dezember 1866 direkt auf den 1. Januar 1868 gesprungen sein muss.

Bezeichnenderweise erwähnt dieser Germanistentrottel, dieser überaus bemitleidenswerte literaturhistorische Vollbanause den Zwerg mit keinem Wort. Ganz einfach deshalb nicht, weil er ihm entwischt ist, und entwischen kann nur etwas, was existiert. Quod erat demonstrandum, wie mein Mathematiklehrer am Schuss einer Aufgabe jeweils mit Kreide an die Wandtafel zu schreiben pflegte, und der feine Kreidestaub rieselte, ja schwebte zu Boden.  

Gespräche mit meinem Architekten

6. Juni 2022

Das erste Gespräch mit meinem Architekten fand vor einigen Monaten statt, als ich fast ein dreistöckiges Haus in einer Häuserzeile in einem kleinen Dorf in der Nähe von Nidfurn, einem noch kleineren Weiler im südlichen Glarnerland, gekauft hätte.

Nidfurn wird von den wenigen Leuten, denen die Ortschaft überhaupt geläufig ist, obwohl sie weder aus der Gegend stammen noch dort wohnen, höchstens wegen seinem Bahnhof erwähnt, wo die Züge der S6 und der S25 Halt machen (nicht nur auf Verlangen), mit denen man bequem und ohne umzusteigen nach Rapperswil oder Zürich fahren kann. Schon Leute, die in der entgegengesetzten Richtung unterwegs sind, zum Beispiel nach Braunwald, merken sich Nidfurn nicht und können sich, wenn man sie später fragt, ob sie an Nidfurn vorbeigefahren seien, meist nicht daran erinnern.  

Eine S25 gibt es übrigens auch in Berlin, mit einer Haltestelle in Tegel, wo es, als ich noch in Charlottenburg wohnte (in einem Haus an der Nussbaumallee, das mir weder gehörte noch kannte ich seinen Architekten), noch einen praktischen kleinen Flughafen gab, wo jedes zweite Wochenende meine vier Kinder landeten. Aber das ist eine andere Geschichte, wie auch die Haltestellen Gesundbrunnen, Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik oder Heiligensee (kurz vor der Endstation) jede für sich Anlass für eine Berliner Geschichte wären. Wann soll ich das bloss noch alles schreiben?

Heute jedenfalls nicht mehr, denn der Pfingstnachmittag neigt sich schon bald seinem Ende zu, für das ein neues Gewitter ankündigt wurde, obwohl der Himmel wolkenlos ist, und ich will noch nach Nidfurn zurückkehren, bevor sich die Krähen im Schwarm vom Dach des Palais Schwarzenberg in den Wind stürzen und die ersten grossen Tropfen in den Botschaftsgarten fallen. Ich will zurück nach Nidfurn, wo ich noch nie war. Was beim ersten Lesen seltsam klingen mag, dass man zurückkehren könnte an einen Ort, an dem man noch nie war, wird hoffentlich etwas plausibler, wenn man bedenkt, dass es nicht möglich ist, an einen Ort zurückzukehren an dem man war.   

Wer Nidfurn als Zielort eingibt, fliegt mit Google Earth von einem imaginären Flugplatz irgendwo an der Grenze zwischen Kansas und Missouri in weniger als 11 Sekunden in den Kanton Glarus, und noch während man sich sanft dem Boden nähert, wird einem klar, dass man in der Natur gelandet ist.

Bevor ich hier weiterschreibe, muss ich mir unbedingt eine mentale Notiz machen: Wo genau liegt dieser Flugplatz an der Grenze zwischen Kansas und Missouri, von dem aus die Google Earth Flüge starten? Wie heisst er, wie schaffen die so viele Abflüge pro Tag und warum gibt es keine Rückflüge? Und wenn ich schon dort bin: Warum gibt es im Bundesstaat Kansas ein kleines Kansas City, aber die Hauptstadt des Bundesstaats ist Topeka, während das grosse Kansas City die grösste Stadt im Bundesstaat Missouri ist, dessen Hauptstadt aber Jefferson City heisst?  Ist das Leben nicht sonst schon kompliziert genug?

Wer sich mit dem Gedanken einer zukünftigen Niederlassung in Nidfurn (oder Haslen) beschäftigt und sich den kleinen Dörfern als Stadtmensch lieber schrittweise annähert, indem er zuerst in der Kantonshauptstadt Glarus einen Zwischenhalt einlegt, ist gut beraten, sein Reise nicht mit Google Earth zu planen, denn er könnte sich unverhofft in New Glarus, Wisconsin wiederfinden, nach einem noch kürzeren Flug zwar (er dauert keine 10 Sekunden) aber von da nach Nidfurn wäre es dann eine halbe Weltreise und man müsste sich wirklich fragen, ob man nicht vielleicht besser gleich dort bleibt.

Die 1845 aus Glarus eingewanderten Schweizer Gründer von New Glarus sind jedenfalls geblieben.  Die Stadt mit heute knapp zweieinhalbtausend Einwohnern liegt auf 274m über Meer, was mit ein Grund gewesen sein mag, dass die Glarner gerade hier gesiedelt haben, denn das von ihnen verlassene Glarus liegt auf 472 Meter über Meer und so war hier nicht alles völlig fremd. „Früher lagen wir vorne höher und hinten tiefer,“ erzählten sie Zuwanderern aus anderen Orten, „aber die Zahlen sind dieselben geblieben.“ Was nicht alle verstanden, aber sie blieben trotzdem.

Es gibt noch immer viel Schweiz in New Glarus, nicht nur das Swiss Historical Village Museum an der 7th Avenue, auch die Glarner Stube. Wer genug Schweiz gesehen hat, isst bei Casey’s eine Pizza oder geniesst bei Fat Cat Coffee Works einen feinen Kaffee mit hausgemachtem Kuchen, bevor er den Tag in Puempel’s Old Tavern ausklingen lässt und sich dabei fragt, ob Pümpel der Nachfahre eines Braunwalder Zwerges sein könnte. Auf die Frage, wo Bartli den Most holt, weiss der Kellner dann aber keine Antwort.  

Nidfurn ist, wie bereits angedeutet, keine wirkliche Tourismusdestination. Es dürfte bei aller Beschleunigung der Ereignisse, wie wir sie zuletzt erlebt haben, noch ein paar Jahrzehnte dauern, bis der Ort von chinesischen Touristen überrannt wird, und niemand aus dem Grossraum Zürich oder aus Rapperswil, der am Montag seinen Arbeitskollegen von seinem Wochenendausflug nach Braunwald erzählt, würde auf die Idee kommen, Nidfurn zu erwähnen, oder vom Restaurant Bahnhöfli zu schwärmen, obwohl man dort vorzüglich essen soll.

Man kommt zwar in Nidfurn vorbei, wenn man mit dem ÖV von Zürich nach Braunwald reist um dort Ski zu fahren, am Grotzenbüel zu schlitteln oder zum Oberglegisee zu wandern, aber man steigt nicht aus, obwohl der Zug anhält, sondern man fährt weiter bis Linthal, um dort auf die Linthal-Braunwaldbahn umzusteigen, eine Bahn, die aus dem Stand (deshalb nennt man sie wohl Standseilbahn) in sieben Minuten auf 1300 Metern im autofreien Braunwald ist.

Leute, die in Nidfurn aus dem Zug steigen, wohnen entweder in Nidfurn (oder Haslen), oder sie kommen jemanden in Nidfurn (oder Haslen) besuchen. Alle anderen fahren weiter. Ausser jemand hätte vor, von Nidfurn gute zehn Minuten bis nach Haslen oder Oberhaslen zu spazieren, um sich dort ein Haus anzuschauen.  Bei mir ist es allerdings nicht so weit gekommen, obwohl mich das dreistöckige Haus an der Dorfstrasse wirklich interessiert hätte. Es ist ein schönes, sorgfältig renoviertes Haus mit wunderschönen Parkettböden, drei Terrassen und einem kleinen Garten, der für unsere Hunde gereicht hätte.

Zum ersten Gespräch mit meinem Architekten kam es, als ich versuchte, aus der Wiener Ferne herauszufinden, ob sich im ersten Stockwerk, wo unser Schlafzimmer gewesen wäre, ein Badezimmer einbauen liesse (ja) und ob sich auch ein Personenlift vom Keller bis ins dritte Stockwerk einbauen liesse (nein). Der Makler, der das Haus noch immer zu verkaufen versucht (lustigerweise für einen anderen Bundesangestellten), war so nett, mir die Handwerker und den Architekten zu nennen, die das Haus renoviert hatten. Ich rief also den Architekten in Glarus an, und hatte ein langes und gutes Gespräch mit ihm über das Haus, welches darin mündete, dass ich es nicht gekauft habe.

Er schlug mit aber vor, da er ab und zu Häuser renoviere im Glarnerland, die dann zum Verkauf stünden, mich wissen zu lassen, wenn er auf etwas stosse in der Art, wie ich es suche. Ich fand das sehr nett von ihm, und war dann doch überrascht, als er sich tatsächlich ein paar Monate später meldete.

Diesmal geht es um ein ehemaliges Herrschaftshaus aus dem Jahr 1900 im Sernftal. Ein Haus von einer Pracht und Ausstrahlung, die schwer zu beschreiben ist, und mit einem traumhaften, grossen Garten. Nur werde ich es mir wahrscheinlich nicht leisten können, wenn ich alle Renovationsarbeiten, die vorzunehmen sind, einbeziehe.  

Morgen werde ich, wenn ich dazu komme, meinen Architekten anrufen, und ein zweites Gespräch mit ihm führen, um danach zu entscheiden, ob ich ein Angebot für das Haus machen soll oder nicht. Wenn nicht, werde ich warten, bis er mich auf ein nächstes Haus aufmerksam macht. Vielleicht klappt es dann. Vielleicht wird er am Ende aber auch mein Architekt, der nie etwas für mich gebaut oder renoviert hat, und alles, was wir je zusammen gemacht haben, ist gute Gespräche über alte Häuser führen.   

Vielleicht erzähle ich ihm morgen, dass ich in den Kehren zum Klausenpass in einem Wiederholungskurs mit einen Jeep der Schweizer Armee einen Getriebeschaden hatte, als wir auf der grössten Alp der Schweiz, dem Urnerboden, in der Schiessverlegung waren und ich als Postfahrer hin und her fuhr während die anderen wie die Wilden um sich schossen. Ich glaube, ich holte die Post jeweils in Glarus ab. Ich muss also in Nidfurn und Haslen mehrmals vorbeigekommen sein und vielleicht habe ich im Garten des Bahnhöfli in Nidfurn sogar an einem sonnigen Nachmittag einen Kaffee getrunken.  

Vielleicht frage ich ihn auch, ob er sich vorstellen könnte, im Garten meines von ihm renovierten Hauses einen kleinen chinesischen Pavillon zu bauen, wie ich ihn an der Nussbaumallee in Charlottenburg hatte. Fragen kostet ja nichts. Eine Null habe ich schon in der Tasche, sagt meine Frau immer, und vielleicht, wenn ich frage, wird ja eine Eins draus.

Die Pyrenäen erscheinen im 3. Bezirk

5. Juni 2022

(ob irgendjemand irgendetwas wisse)

Am Ende meiner beruflichen Karriere hatte ich in acht Ländern gelebt und – wenn ich die diversen Umzüge in der Schweiz dazurechnete – mehr als zwanzigmal den Wohnort gewechselt. Ich führte das gerne auf meine Zigeunerwurzeln zurück, denn die Familienlegende wollte es, dass meine Ururgrosseltern mütterlicherseits Zigeuner aus den französischen Pyrenäen gewesen wären. Erst die Urgrosseltern seien in der Region von Albertville sesshaft geworden.

Neben meinem Schreibtisch hängt in einem alten, bemalten Holzrähmchen eine Fotografie an der Wand, die alle meine Umzüge – bis auf einen Sprung im Glas – unbeschadet überstanden hat, und auf der meine Grossmutter als kleines Mädchen mit ihren Eltern abgebildet ist.

Meine Urgrossmutter ein Ebenbild meiner Grossmutter, wie ich sie kannte, eine schöne Frau mit hochgesteckten Haaren, stolz und aufrecht sitzend, den rechten Arm auf der Hochlehne ihres Stuhles und die Hand ihres linken Armes auf dem Arm ihrer Tochter, die zwischen ihren Eltern steht und ihre kleine Hand auf das Bein ihrer Mutter gelegt hat. Mein Urgrossvater ein Mann mit gezwirbeltem Schnurrbart mit Anzug, Gilet und Fliege, den rechten Arm an der Seite herunterhängend – er hätte die linke Hand auch auf die Schulter seiner Tochter legen können – und den linken angewinkelt hinter dem Rücken.   

Es ist ein typisches Familienfoto, wie es damals unzählige Male gemacht wurde, als die Fotografie endlich auch jenen ein Portrait ermöglichte, die sich ein gemaltes nicht leisten konnten.  Man kann in ein beliebiges Antiquariat gehen, in Zürich, in Berlin, in Wien, und man wird unzählige solche Fotos finden, mit genau dieser Komposition. Ich musste sogar schon ein paar Mal genauer hinschauen, um sicher zu sein, dass es sich nicht um das Bild meiner Urgrosseltern mit meiner kleinen Grossmutter handelte.

Bei der Fotografie, die neben meinem Schreibtisch hängt, bin ich mir ziemlich sicher, dass es sich um meine Urgrosseltern mit meiner Grossmutter handelt. Zu ähnlich sieht meine Grossmutter auf den Fotos aus den Jahren vor ihrem frühen Tod ihrer Mutter, die hier so stolz in die Kamera des Fotografen schaut, der die Kleinfamilie vorher so sorgsam und jedes Detail bestimmend aufgestellt, man möchte sagen drapiert hatte, dass es der kleinen Linette zu viel geworden ist. In die Kamera schauen mochte sie, als das Bild endlich gemacht wurde, nicht mehr – ihr Blick geht aus dem Bild.

Es sind also meine Urgrosseltern und es ist meine Grossmutter. Aber waren sie wirklich die ersten sesshaften Berthés? Waren ihre Eltern, oder zumindest seine oder ihre, wirklich Zigeuner?

Mein Onkel Hans-Peter (nennen wir ihn hier getrost so, denn so hiess er, obwohl ich ihm unter einem anderen Namen und mit seinem Spitznamen „Hämpel“ als Titel eine kleine Geschichte gewidmet habe), der jüngste Bruder meiner Mutter, ist einmal nach Albertville gefahren, um herauszufinden, was es damit an sich hatte. Irgendwo muss ich noch einen Brief von ihm haben, in dem er mir alles, was er damals gefunden und nicht gefunden hatte, beschreibt. Sein Brief war die Reaktion auf meine Anfrage, als ich vierzehn war, ob irgendjemand irgendetwas wisse über unsere Familiengeschichte.        

Hämpel erzählte mir also das eine und das andere und vielleicht stammt das mit den Zigeunern aus den französischen Pyrenäen ja sogar aus seinem Brief. Ich werde das verifizieren, falls ich ihn beim bevorstehenden Umzug wiederfinde. Ob die Wahrscheinlichkeit, dass es zutrifft, damit steigen oder fallen würde, ist fraglich. Hämpel war ein Fernsehjournalist, also jemand, der weiss, wie man recherchiert, aber eben auch ein Journalist, der eine möglichst interessante Geschichte erzählen will, und ein Nachfahre der Berthés, der eine möglichst spannende Familiengeschichte haben wollte.

Er könnte den Teil mit den Zigeunern auch erfunden haben, denn es war heiss in jenem Sommer in Albertville und die Archive gaben wenig her, weshalb er mehr Zeit auf dem Platz vor dem Rathaus im Bistro verbrachte und unter den Linden ein Glas oder zwei trank.

Ich könnte ihn, würde er noch leben, zur Rede stellen: „Hast Du das alles bloss erfunden, Hämpel?“

„Was hast Du Dir dabei gedacht, einem Vierzehnjährigen solche Sachen zu erzählen? Ich habe Dir geglaubt. Meine Kinder, denen ich es später erzählte, haben es geglaubt (sie haben mir auch geglaubt, dass bei Schafen, die lange an einem Abhang grasen, die talseitigen Beine länger sind als die hangseitigen). Ihre Kinder, denen sie es vielleicht erzählen werden, wenn sie etwas grösser sind, werden es glauben. Unzählige Menschen, die damals die Tagesschau schauten, haben Dir geglaubt.“

Und wenn meine Ururgrosseltern keine Zigeuner aus den französischen Pyrenäen waren, woher stammten sie dann? Und was wird dann aus den Pyrenäen?

Ich schaue aus dem Fenster an diesem heissen Sonntagmorgen im Juni, wo der Sommer gestern Nacht mit einem Gewitter begonnen hat, und ich sehe vor dem Ostflügel des Palais Schwarzenberg diesen Erdhügel, vielleicht hundert Meter lang und fünf Meter hoch, mit mehreren kleinen Kuppen, den die Natur bereits mit Unkraut und kleinen Büschen übernommen hat. Es handelt sich angeblich um den Aushub für ein Nebengebäude des Hotels, zu dem das Palais wieder werden soll.

Vielleicht stimmt es ja doch, dass meine Ururgrosseltern mütterlicherseits Zigeuner aus den französischen Pyrenäen waren, und dass ich wegen dem stark verdünnten Zigeunerblut in meinen Adern so oft in meinem Leben umgezogen bin.

Und wenn es nicht stimmt, bin ich einfach nur oft umgezogen und es war gar nicht Hämpel, der diesen Teil der Familienlegende erfunden hat, sondern jemand vor ihm, der gar nicht mit uns verwandt war (eine schöne Zigeunerin vielleicht), oder jemand nach ihm, am Ende sogar ich selber, weil mir das, was mir die Verwandten zutrugen, als ich vierzehn war, nicht reichte.

Vielleicht sind es auch nur Details, die nicht stimmen, und es waren die spanischen Pyrenäen, nicht die französischen. Oder ich war 16 anstatt 14.

Vielleicht ist das da drüben auch nicht der Aushub für ein Hotelnebengebäude, sondern der Anfang eines Jahrhundertprojektes der EU, die die Pyrenäen (die französischen und die spanischen) nach Österreich bringen will, damit in Frankreich und Spanien die Anbaufläche für Getreide vergrössert werden kann, während es in Österreich heute schon reichlich Berge hat und sich mit ein wenig Pyrenäen kaum etwas verändern würde.

Das Palais Schwarzenberg würde dann nicht zum Hotel, zurückgebaut, sondern zum Tourismus- und Informationszentrum im neuen Herzen der Pyrenäen.

Hätte ich den Nummernschildern der Lastwagen glauben sollen, die den Aushub gebracht haben? Soll ich Hämpel glauben, auch wenn nicht er es war, der die Zigeuner in unsere Familie erfunden hat?  

Ich weiss nicht, was ich glauben soll, aber ich weiss, was ich glauben möchte. Ich möchte daran glauben, dass man meinen Urgrosskindern erzählt, wenn sie 14 Jahre alt sind, denn dann, und nur dann, sind sie aufnahmefähig dafür, dass ihr Urgrossvater in acht Ländern gelebt hat, von denen er mindestens die Hälfte erfunden hat, und dass er sich nichts mehr wünschte, als dass es ein Bild von ihnen und ihm gäbe, am besten vor einem überwachsenen Erdhügel, der zum Symbol für irgendetwas geworden ist, niemand weiss mehr, wofür.

Hitchcock schreitet unbemerkt von dannen

23. April 2022

Als sein erster Roman auf dem Buchmarkt erschien, war Hubert Loosli 83 Jahre alt, und niemand, kein einziger und keine einzige unter den wenigen Lesern und Leserinnen, ahnte auch nur, dass es nicht nur der Abschluss einer vor 9 Jahren begonnenen Trilogie war, sondern der Höhepunkt eines umfassenden literarischen Werkes von sage und schreibe – denn geschrieben hatte sie Loosli alle, und es wäre an der Zeit gewesen, davon zu reden – nicht weniger als 24 Romanen und dreizehn Novellen.

Dabei sollte es dann auch bleiben, womit Looslis Romanerstling, von der Kritik weder gelobt noch verrissen, sondern weitgehend unbeachtet, auch gleich sein letztes Buch wurde, aber auch das wusste an jenem regnerischen Spätnachmittag im Frühling, als der Autor in einer kleinen Buchhandlung in Zürich nach der kurzen Lesung und zwei Gläsern Wasser ein paar Exemplare seines Début-Romans signierte, niemand, nicht einmal Loosli selber. Ganz im Gegenteil sollte er die Buchhandlung kurz darauf mit einer – wie er meinte guten und tragfähigen – Idee für einen weiteren Roman verlassen.   

In der einzigen Buchbesprechung, die ein dem Zürcher Kleinverlag, in dem Looslis Buch in einer auf 1000 Exemplare beschränkten Auflage erschienen war, wohlgesinnter Freelancer für die Zürichsee-Zeitung verfasst hatte (es soll sich dem Vernehmen nach um den Bruder der Verlegerin gehandelt haben, dem wiederum gute Kontakte in die Redaktion der Zürichsee-Zeitung nachgesagt wurden), war von einem Spätberufenen die Rede – eine Bezeichnung, deren Ironie der beschränkten Leserschaft der Zeitung verborgen blieb.

Verborgen blieben den Leserinnen und Lesern auch, weil man etwas, was man gerade kennenlernt, schlecht mit etwas verbinden kann, was man nie kannte, die zahlreichen Querbezüge, Verweise und Reminiszenzen zu Looslis anderen Werken, auch ausserhalb der Trilogie, angefangen beim Umstand, dass sich im Roman von Loosli mehr Protagonisten aus seinen früheren Werken tummelten als Spione in Wien. Die meisten waren mit Loosli alt geworden und würden sich, wenn man sie fragen könnte, an vieles, was sie in den ersten Romanen trieben, damals noch mit langen Haaren, nur noch bruchstückhaft erinnern. 

Loosli hatte an der Universität Zürich Politologie und Anglistik studiert und 1977 seine viel zu lange geratene Dissertation über die Familie Glass im Werk von Jerome D. Salinger geschrieben. «Setzen Sie endlich einen Punkt, Loosli!» hatte ihn sein Doktorvater nach vierhundert Seiten gemahnt. «Ihre Dissertation wird sonst länger als das Gesamtwerk von Salinger»

Aber Loosli konnte nicht aufhören. Es faszinierte ihn, wie am Rande der einen Kurzgeschichte Salingers ein Mitglied der Glass-Familie wie beiläufig erwähnt wird, dem dieses oder jenes widerfahren sei, was dann zum Thema einer späteren Geschichte wurde, womit man erst, und auch dann nur unvollständig und einigermassen, verstehen und nachvollziehen konnte, wie es zum Ereignis hatte kommen können, zum Beispiel zu einem Selbstmord.    

Dass man von einer Person immer nur eine Momentaufnahme sieht, eine im Zusammenhang ihres Lebens stehende Handlung (oder ein Nichtstun) mit einer Vorgeschichte, die im Auge des momentanen Betrachters aus diesem Zusammenhang herausgelöst ist, hatte Loosli schon früh beschäftigt und trieb ihn noch im hohen Alter um. Jede Nebenfigur war in ihrem eigenen Leben, in ihrer eigenen Geschichte, die Hauptfigur, und kam dennoch im Leben anderer stets nur als Nebenfigur oder Komparse vor. Musste das nicht zwangsläufig zu Missverständnissen führen?

Loosli hätte seine Dissertation auch über die Figuren schreiben können, die sich in den von verschiedenen Autoren geschriebenen Kurzgeschichten des Erzählbands «Finbar’s Hotel» über den Weg, beziehungsweise die Korridore eines heruntergekommenen Hotels in Dublin laufen. Jedem der sieben Erzähler, von denen, was durchaus bemerkenswert ist, lediglich einer nicht in Dublin geboren wurde, dort aber längere Zeit gelebt haben soll, waren die Hotelgäste aus den anderen Kurzgeschichten (nicht aber deren Geschichten) bekannt, als sie ihre eigenen Beiträge schrieben.  

Der Auftrag des Herausgebers an die Autoren hatte gelautet, Personen aus den anderen Geschichten irgendwo in der eigenen Geschichte auftreten zu lassen, und sei es nur, dass man eine Hauptperson aus einer anderen Geschichte am Ende eines schlecht ausgeleuchteten Korridors vorbeihuschen oder durch die Hotelhalle schreiten sieht, wie Hitchcock einst durch einen seiner Filme. Loosli hätte darüber sicher wunderbar und bestimmt auch ausführlich dissertiert, aber dafür hätte er 20 Jahre länger studieren müssen, denn das Buch erschien erst 1997.

Am Ende der kurzen Schlange, die sich vor dem Tisch gebildet hatte, an dem Loosli seine Bücher signierte, stand ein dicker – man kann es nicht anders sagen – Mann in Anzug und Krawatte, der ganz hinten beim Eingang gesessen hatte. Loosli nahm das nächste Buch vom kleinen Stapel, aber der Mann sagte: «Nein Danke, sie müssen das Buch nicht signieren». «Kein Problem» antwortete Loosli, und reichte ihm das unsignierte Buch, worauf die Buchhändlerin, die auf dem Signiertisch eine Handkasse aufgestellt hatte, sagte: «Das macht 23 Franken 80, bitte. Brauchen Sie eine Quittung?»

«Nein», sagte der Mann. «Ich kaufe den ganzen Stapel». Und das tat er dann auch wirklich. Er kaufte nicht nur dir restlichen zwölf Bücher, er meldete sich am kommenden Morgen beim Verlag und kaufte die gesamte Erstauflage. Er soll ausserdem hartnäckig versucht haben, von der Buchhändlerin die Einladungsliste zur Vernissage zu erhalten, vermutlich, um den Gästen die signierten Exemplare abzukaufen, aber sie gab nicht nach.  

Heute, gut vier Jahre nach der Präsentation von Looslis Début, präsentiert sich die Situation wie folgt. Der Kleinverlag hat auf eine Neuauflage verzichtet. Warum ist unklar. Immerhin war die erste Auflage ja im Nu vergriffen. Vielleich hatte es mit den finanziellen Problemen des Verlags zu tun, der kurz nach dem Erscheinen von Looslis Buch mit einem anderen Kleinverlag fusionierte, nur um zwei Jahre später trotzdem unterzugehen. Looslis Roman ist auch antiquarisch nicht auffindbar. Es ist fast so, als hätte es ihn nie gegeben.

Was den mysteriösen Käufer der Erstauflage angeht, so lässt es sich mittlerweile nicht mehr mit Bestimmtheit sagen, ob es ihn tatsächlich gegeben hat, oder ob er nicht eine Erfindung von Loosli ist, von diesem vorgeschickt, um die Erstauflage seines ersten Buches aus dem Verkehr zu ziehen, dessen Erscheinen er ein Leben lang herbeigesehnt hatte, nun aber, als es vor ihm auf dem Tisch lag, zu tiefst bereute.

Vielleicht empfand er es als Verrat an seinen nicht publizierten Werken, an all den Figuren, die er darin über Jahrzehnte entwickelt und wachsen lassen hatte, um erst jetzt, wo sie alt waren, den Blick auf sie frei zu geben.

Vielleicht schien ihm auch die Idee für einen weiteren Roman (es wäre sein 25. geworden), in dem ein dicker, gut gekleideter Herr die Erstauflagen von in Kleinverlagen publizierten Romanen gleich nach ihrem Erscheinen aufkauft, als nicht wirklich tragfähig, obwohl ihm der Titel, der ihm dafür in den Sinn gekommen war (Flucht vor Lesern) eigentlich recht gut gefiel. Der dicke Mann wäre darin so etwas wie ein Fluchthelfer gewesen und er selber der Textverdächtige.

Loosli verbrachte die letzten zwei Jahre in einem Altersheim in Zürich-Fluntern. Ich habe ihn ein paar Wochen vor seinem Tod besucht, aber er hat mich nicht mehr erkannt.  «Wien…, so so.» hat er geantwortet, als ich ihm von meinem letzten Posten erzählte. «Reinhard Lettau ist doch nach Wien zurückgekehrt, nichtwahr? Woher schon wieder?»

«Berlin, lieber Hubi, er ist nach Berlin zurückgekehrt. Aus Amerika.»

«Dann geh ich nach Berlin. Ich muss ihn fragen, ob ich Flucht vor Gästen verwenden darf.… Was hatte er in Amerika zu suchen?»

«Er ist gestorben, Hubi. Du könntest höchsten seine dritte Frau fragen. Dawn Telowski oder so. Keine Ahnung, ob sie noch lebt und wo sie sich aufhält.»

«Hubi…?»  

Loosli sass aufgerichtet in seinem Bett, in seinem Rücken mehrere Kissen, und schaute mich abwesend an. Hatte er verstanden, was ich sagte?

«Was hast Du mit seinem Titel vor, Hubert?»

«Flucht vor Lesern», antwortete er. «Mein letztes Buch.»  

«Ich freue mich darauf, Hubi.»

«Ich mich auch», sagte Loosli, «Ich mich auch». Und nach einer kurzen Pause: «Du musst jetzt gehen. Ich habe Deinen Namen vergessen.»

Goofy zurückgeben

16. Januar 2022

Wenn mir ein Name nicht mehr einfällt, wende ich bei der Suche eine einfache Methode an, die in den meisten Fällen rasch zum Erfolg führt. Ich gehe in meinem Kopf die Buchstaben des Alphabets durch und denke dabei an die Person, deren Name mir entfallen ist. Manchmal kommt mir schon beim ersten Durchlauf der Name in den Sinn. Zum Beispiel beim Buchstaben C – ja, natürlich: Carver! Raymond Carver.

Wenn der Name sich beim ersten Aufruf seines Anfangsbuchstabens nicht direkt meldet, ist es oft so, dass beim Aufrufen einzelner Buchstaben ein kleines Lämpchen zu blinken beginnt. Das bedeutet dann, dass diese Buchstaben mit grosser Wahrscheinlichkeit im Namen, den ich suche, vorkommen. Nicht notwendigerweise als Anfangsbuchstaben, und es ist unklar, ob im Nachnamen oder im Vornamen, aber sie kommen irgendwo im Namen vor.

Ich arbeite dann mit diesen paar Buchstaben weiter, die mein Gedächtnis markiert hat (zum Beispiel ein A und ein O), indem ich Namen durchgehe, die entweder mit ihnen beginnen oder die markierten Buchstaben enthalten. Sehr oft gelange ich so rasch zum gesuchten Namen (zum Beispiel Joe Montana, als ich den Namen des legendären Quarterbacks der San Francisco 49ers in den 80er-Jahren suchte).

Natürlich hätte ich seinen Namen auch mit einer Suchmaschine finden können, aber auf viele Namen, die mir entfallen, hören oder hörten keine berühmten Menschen, die man im Internet findet. Wenn ich zum Beispiel nach dem Namen von einer meiner beiden Lehrerinnen in der ersten bis dritten Primarklasse suchen müsste, wäre das mit Google (Schulhaus, Jahr, Lehrkörper) vielleicht nicht völlig unmöglich, aber die Suche in meiner eigenen Ablage würde mehr Erfolg versprechen und ginge schneller. Ich muss übrigens beiden Namen nicht suchen. Sie heissen (oder hiessen?) Felicitas Suter und Frau Moor. Sie waren gut zu mir.

Wenn ich beim ersten Alphabet-Durchlauf keinen Erfolg habe, gehe ich das Alphabet noch einmal durch, auf der Suche nach einer Markierung – einer nur schwach und kurz flimmernden Signallampe – die ich beim ersten Durchlauf übersehen haben könnte.  Oft geben sich der Name oder einzelne seiner Buchstaben dann beim zweiten oder dritten Durchlauf zu erkennen. Ein Buchstabe oder der ganze Name kommt sozusagen aus seinem Versteck hervor. Eine zusätzliche Hilfe ist es (sozusagen eine verfeinerte Suche), wenn ich mich an die Silbenzahl des Vor- oder Nachnamens zu erinnern glaube. Ich suche dann Dä Dä-dä-dä und setze die markierten Buchstaben ein (Joe Montana).

Es ist verblüffend, wie oft es mir gelingt, mit dieser simplen Methode innerhalb kürzester Zeit einen mir entfallenen Namen zu finden. Es scheint so, dass die Namen der Personen im Gedächtnis alphabetisch abgelegt sind und wenn man die in ihnen vorkommenden Buchstaben erwähnt, meldet das Hirn wie beim Schiffleinversenken einen Treffer.

Natürlich klappt die Methode nicht immer, aber sie führt in wesentlich mehr Fällen zum Erfolg, als sie kein Ergebnis hervorbringt. Allerdings gibt es interessanterweise auch Namen, die sich dieser Suchmethode strikte verweigern. Jimmy Durante ist so ein Fall. Aus Gründen, die ich nicht kenne, entfällt mir sein Name immer wieder, und jedes Mal, wenn mir seine Musik in den Sinn kommt, die ich sehr mag und die mit schönen Erinnerungen verknüpft ist, muss ich seinen Namen suchen. Auch bei ihm: ich könnte die Songs googeln oder in youtube eingeben, aber diese Suche würde dauern, denn viele der Songs, die ich von ihm kenne, stammen nicht von ihm („You must remember this, a kiss is just a kiss…“ / „As Time Goes by“).

Ich weiss, wenn mir ein Song von ihm in den Sinn kommt, jeweils nur noch, dass der Vor- oder Nachname aus dem Italienischen kommt und dass sein Nachname drei Silben hat, aber ich kann das Alphabet durchgehen, so oft ich will: ausser einem sehr schwachen und kurzen Flimmern der Signallampe beim Buchstaben A passiert gar nichts und dieses A führt mich auf rasch als falsch erkannte Fährten (Adriano, Alfredo, Antonio…).

Meistens kommt mir dann sein Name etwas später in den Sinn, oft innerhalb von einer oder zwei Stunden nachdem ich das Alphabet erfolglos nach ihm durchforstet hatte. „Jimmy Durante“ meldet er sich bei mir, mit einem Mix aus Beleidigung, weil ich die Suche nach ihm aufgegeben hatte, und Triumph, weil er die Buchstaben seines Namens wie kleine Hunde so gut dressiert und unter Kontrolle hatte, dass sie keinen Laut von sich gaben, als ich im Dunkeln ganz nahe an ihnen vorbeiging und ihre Namen rief. 

Wenn sein Name (Jimmy Durante) mir dann also wieder präsent ist, frage ich mich, wie ich es anstellen könnte, dass er das nächste Mal leichter zu finden wäre. Eselsbrücken sind immer eine gute Möglichkeit. Ich habe die Musik von Jimmy Durante vor einem Vierteljahrhundert beim Tennisspielen im Garten eines Freundes in den USA kennengelernt. Wir spielten ein gemütliches Doppel und über die Aussenlautsprecher seines Hauses konnte man „Make Someone Happy“ hören. Vielleicht könnte Jimmy Connors die Eselsbrücke zu Jimmy Durante sein?    

Vielleicht ist es aber auch gut so. Jimmy Durante hat offensichtlich den Dreh raus, wie er sich meiner Suche entziehen kann, und ich sollte ihm nicht mit neuen Methoden zu Leibe rücken, schon gar nicht mit Jimmy Connors, den ich nie besonders mochte. Jimmy Durante hat mich bisher jedes Mal aufgesucht, kurz, nachdem ich ihn erfolglos gesucht hatte, und wenn ich es mir überlege, ist das viel schöner als der kleine Triumpf einer erfolgreichen Suche.    

Manchmal muss man nicht nach Namen suchen. Sie kommen ganz von selbst und man weiss nicht, woher, geschweige denn warum sie einen so unverhofft aufsuchen. In der Nacht vom 28. auf den 29. November 2015 wachte ich in meinem Bett in Ankara auf und der Name eines kleinen Jungen mit schwarzen Haaren und fröhlichen Augen  kam mir in den Sinn, mit dem ich in den Kindergarten gegangen war. Heinz Ramildi.

Ich war eines schönen Nachmittags bei ihm zuhause zum Spielen und als ich nachhause ging, liess ich eine kleine Goofy-Figur mitgehen. Nach ein paar Tagen plagte mich mein Gewissen, und ich erzählte es meiner Mutter. „Du musst ihm die Figur zurückgeben“, sagte meine Mutter, und als ich ein nächstes Mal bei Heinz zu Besuch war, mischte sich Goofy wieder unter die anderen Spielsachen von Heinz, die am Boden verstreut waren. Wo immer Du bist, Heinz: es tut mir Leid.

Aber nicht genug mit Heinz und Goofy. Gleich nach Heinz kam Celal, ein türkischer Junge mit schwarzem Kraushaar, der mit Heinz und mir im Kindergarten war. Hatte Heinz ihn gerufen? „Hey, Celal, komm schnell, ich habe Walter gefunden!“

Mit Celal hatte ich eine Auseinandersetzung und er hat mich einmal auf dem Kiesplatz des Kindergartens zu Boden geworfen. Wurde das eine nächtliche Klassenzusammenkunft? Aber anstatt weitere Kindergärtner kamen als Nächstes Primarschüler. Regula, Roger und Maja, mit denen ich die 1.-3. Klasse besucht hatte.

Dann (wahrscheinlich war Maja das Verbindungsglied, da wir die gesamte Primarschule zusammen verbrachten) kam ein ganzer Schub von Namen aus der 4. bis 6. Primarklasse, es war ein lautes Gedränge und alle wollten gleichzeitig eintreten. „Langsam, langsam,“ sagte ich, „sonst sticht sich wieder einer ein Auge aus“ (was im Veloständer dieses nicht mehr existierenden Schulhauses tatsächlich passiert ist).

Ich stand aus meinem Bett auf, ging in mein Arbeitszimmer und begann an meinem Schreibtisch eine Liste der ankommenden Namen zu erstellen. Insgesamt waren es 21. Mit dem Lehrer (Otto Buchschacher) 22. Darunter Mitschüler, mit denen ich fast keinen Kontakt hatte, aber Maja hatte offenbar alle eingeladen. Ein Charterflug?

Dass danach auch noch die meisten meiner Klassenkameradinnen und Kameraden aus der Sekundarschule auftauchten, verwunderte mich bereits nicht mehr (Lehrer Pfaff und Gräser). Nur war es diesmal so, dass offenbar ein Name dem nächsten rief, bis dem letzten nichts mehr einfiel.

Die Liste der Namen meiner Mitschüler/innen aus dem Gymnasium stellte ich dann aktiv zusammen. Es schien mir angebracht, sie auch noch einzuladen, wenn das hier offensichtlich eine spontane Klassenzusammenkunft wurde mit mir als gemeinsamem Nenner. Wenn ich aktiv sage (im Gegensatz zu passiv bei den anderen Klassen, die mir erschienen, ohne dass ich etwas zu ihrem Erscheinen Beigetragen hätte), stimmt das auch nicht ganz. Ich habe lediglich die neue Kette ausgelöst. Philipp Grendelmeier, rief ich, und Philipp rief Thomas, Thomas rief Bruno, Bruno den anderen Thomas, dieser rief Rolf, und so weiter und so fort.

Irgendwann in dieser Nacht, in der ich nicht mehr zum Schlafen kam, trafen dann noch Kinder aus meiner Wohnstrasse am Hönggerberg ein, mit denen ich nicht zur Schule gegangen war. Einer meiner Primarschulkollegen war ziemlich ungehalten, als sie eintraten. «Was habt ihr hier zu suchen?», aber meine Frau, die vom ganzen Lärm der Veranstaltung längst aufgewacht war und die ganze Gesellschaft bewirtete (keine Ahnung, wie sie das wieder alleine hinkriegte), beruhigte die Situation. «Es hat noch mehr Flammenkuchen auf dem Esstisch. Bedient euch doch, bitte!»

Eine Handvoll Erwachsene begleitete die Kinder aus meiner Strasse. Zum Teil waren es Eltern der Kinder, mit denen ich nie zur Schule ging, zum Teil Paare ohne Kinder. «Frau Knupp,» sagte ich, «bin ich nicht gross geworden»? Sie hatte jedes Mal Freude am kleinen Walter, wenn sie mit einer Tragtasche voll Alkohol auf dem Heimweg war. «Und wussten Sie, dass ich vor vielen Jahren eine Geschichte über sie geschrieben habe? Keine Angst, man erkennt sie nicht sofort. Die Geschichte heisst Why do you drive so fast? und sie heissen Cynthia Knapp.»  

Sie kneift mich in die Backe und sagt etwas zu mir, was ich nicht mehr weiss, aber ich freue mich, dass sie nicht nach Alkohol riecht. Sie ist die erste, die ich in dieser Nacht umarme.