Goofy zurückgeben

Wenn mir ein Name nicht mehr einfällt, wende ich bei der Suche eine einfache Methode an, die in den meisten Fällen rasch zum Erfolg führt. Ich gehe in meinem Kopf die Buchstaben des Alphabets durch und denke dabei an die Person, deren Name mir entfallen ist. Manchmal kommt mir schon beim ersten Durchlauf der Name in den Sinn. Zum Beispiel beim Buchstaben C – ja, natürlich: Carver! Raymond Carver.

Wenn der Name sich beim ersten Aufruf seines Anfangsbuchstabens nicht direkt meldet, ist es oft so, dass beim Aufrufen einzelner Buchstaben ein kleines Lämpchen zu blinken beginnt. Das bedeutet dann, dass diese Buchstaben mit grosser Wahrscheinlichkeit im Namen, den ich suche, vorkommen. Nicht notwendigerweise als Anfangsbuchstaben, und es ist unklar, ob im Nachnamen oder im Vornamen, aber sie kommen irgendwo im Namen vor.

Ich arbeite dann mit diesen paar Buchstaben weiter, die mein Gedächtnis markiert hat (zum Beispiel ein A und ein O), indem ich Namen durchgehe, die entweder mit ihnen beginnen oder die markierten Buchstaben enthalten. Sehr oft gelange ich so rasch zum gesuchten Namen (zum Beispiel Joe Montana, als ich den Namen des legendären Quarterbacks der San Francisco 49ers in den 80er-Jahren suchte).

Natürlich hätte ich seinen Namen auch mit einer Suchmaschine finden können, aber auf viele Namen, die mir entfallen, hören oder hörten keine berühmten Menschen, die man im Internet findet. Wenn ich zum Beispiel nach dem Namen von einer meiner beiden Lehrerinnen in der ersten bis dritten Primarklasse suchen müsste, wäre das mit Google (Schulhaus, Jahr, Lehrkörper) vielleicht nicht völlig unmöglich, aber die Suche in meiner eigenen Ablage würde mehr Erfolg versprechen und ginge schneller. Ich muss übrigens beiden Namen nicht suchen. Sie heissen (oder hiessen?) Felicitas Suter und Frau Moor. Sie waren gut zu mir.

Wenn ich beim ersten Alphabet-Durchlauf keinen Erfolg habe, gehe ich das Alphabet noch einmal durch, auf der Suche nach einer Markierung – einer nur schwach und kurz flimmernden Signallampe – die ich beim ersten Durchlauf übersehen haben könnte.  Oft geben sich der Name oder einzelne seiner Buchstaben dann beim zweiten oder dritten Durchlauf zu erkennen. Ein Buchstabe oder der ganze Name kommt sozusagen aus seinem Versteck hervor. Eine zusätzliche Hilfe ist es (sozusagen eine verfeinerte Suche), wenn ich mich an die Silbenzahl des Vor- oder Nachnamens zu erinnern glaube. Ich suche dann Dä Dä-dä-dä und setze die markierten Buchstaben ein (Joe Montana).

Es ist verblüffend, wie oft es mir gelingt, mit dieser simplen Methode innerhalb kürzester Zeit einen mir entfallenen Namen zu finden. Es scheint so, dass die Namen der Personen im Gedächtnis alphabetisch abgelegt sind und wenn man die in ihnen vorkommenden Buchstaben erwähnt, meldet das Hirn wie beim Schiffleinversenken einen Treffer.

Natürlich klappt die Methode nicht immer, aber sie führt in wesentlich mehr Fällen zum Erfolg, als sie kein Ergebnis hervorbringt. Allerdings gibt es interessanterweise auch Namen, die sich dieser Suchmethode strikte verweigern. Jimmy Durante ist so ein Fall. Aus Gründen, die ich nicht kenne, entfällt mir sein Name immer wieder, und jedes Mal, wenn mir seine Musik in den Sinn kommt, die ich sehr mag und die mit schönen Erinnerungen verknüpft ist, muss ich seinen Namen suchen. Auch bei ihm: ich könnte die Songs googeln oder in youtube eingeben, aber diese Suche würde dauern, denn viele der Songs, die ich von ihm kenne, stammen nicht von ihm („You must remember this, a kiss is just a kiss…“ / „As Time Goes by“).

Ich weiss, wenn mir ein Song von ihm in den Sinn kommt, jeweils nur noch, dass der Vor- oder Nachname aus dem Italienischen kommt und dass sein Nachname drei Silben hat, aber ich kann das Alphabet durchgehen, so oft ich will: ausser einem sehr schwachen und kurzen Flimmern der Signallampe beim Buchstaben A passiert gar nichts und dieses A führt mich auf rasch als falsch erkannte Fährten (Adriano, Alfredo, Antonio…).

Meistens kommt mir dann sein Name etwas später in den Sinn, oft innerhalb von einer oder zwei Stunden nachdem ich das Alphabet erfolglos nach ihm durchforstet hatte. „Jimmy Durante“ meldet er sich bei mir, mit einem Mix aus Beleidigung, weil ich die Suche nach ihm aufgegeben hatte, und Triumph, weil er die Buchstaben seines Namens wie kleine Hunde so gut dressiert und unter Kontrolle hatte, dass sie keinen Laut von sich gaben, als ich im Dunkeln ganz nahe an ihnen vorbeiging und ihre Namen rief. 

Wenn sein Name (Jimmy Durante) mir dann also wieder präsent ist, frage ich mich, wie ich es anstellen könnte, dass er das nächste Mal leichter zu finden wäre. Eselsbrücken sind immer eine gute Möglichkeit. Ich habe die Musik von Jimmy Durante vor einem Vierteljahrhundert beim Tennisspielen im Garten eines Freundes in den USA kennengelernt. Wir spielten ein gemütliches Doppel und über die Aussenlautsprecher seines Hauses konnte man „Make Someone Happy“ hören. Vielleicht könnte Jimmy Connors die Eselsbrücke zu Jimmy Durante sein?    

Vielleicht ist es aber auch gut so. Jimmy Durante hat offensichtlich den Dreh raus, wie er sich meiner Suche entziehen kann, und ich sollte ihm nicht mit neuen Methoden zu Leibe rücken, schon gar nicht mit Jimmy Connors, den ich nie besonders mochte. Jimmy Durante hat mich bisher jedes Mal aufgesucht, kurz, nachdem ich ihn erfolglos gesucht hatte, und wenn ich es mir überlege, ist das viel schöner als der kleine Triumpf einer erfolgreichen Suche.    

Manchmal muss man nicht nach Namen suchen. Sie kommen ganz von selbst und man weiss nicht, woher, geschweige denn warum sie einen so unverhofft aufsuchen. In der Nacht vom 28. auf den 29. November 2015 wachte ich in meinem Bett in Ankara auf und der Name eines kleinen Jungen mit schwarzen Haaren und fröhlichen Augen  kam mir in den Sinn, mit dem ich in den Kindergarten gegangen war. Heinz Ramildi.

Ich war eines schönen Nachmittags bei ihm zuhause zum Spielen und als ich nachhause ging, liess ich eine kleine Goofy-Figur mitgehen. Nach ein paar Tagen plagte mich mein Gewissen, und ich erzählte es meiner Mutter. „Du musst ihm die Figur zurückgeben“, sagte meine Mutter, und als ich ein nächstes Mal bei Heinz zu Besuch war, mischte sich Goofy wieder unter die anderen Spielsachen von Heinz, die am Boden verstreut waren. Wo immer Du bist, Heinz: es tut mir Leid.

Aber nicht genug mit Heinz und Goofy. Gleich nach Heinz kam Celal, ein türkischer Junge mit schwarzem Kraushaar, der mit Heinz und mir im Kindergarten war. Hatte Heinz ihn gerufen? „Hey, Celal, komm schnell, ich habe Walter gefunden!“

Mit Celal hatte ich eine Auseinandersetzung und er hat mich einmal auf dem Kiesplatz des Kindergartens zu Boden geworfen. Wurde das eine nächtliche Klassenzusammenkunft? Aber anstatt weitere Kindergärtner kamen als Nächstes Primarschüler. Regula, Roger und Maja, mit denen ich die 1.-3. Klasse besucht hatte.

Dann (wahrscheinlich war Maja das Verbindungsglied, da wir die gesamte Primarschule zusammen verbrachten) kam ein ganzer Schub von Namen aus der 4. bis 6. Primarklasse, es war ein lautes Gedränge und alle wollten gleichzeitig eintreten. „Langsam, langsam,“ sagte ich, „sonst sticht sich wieder einer ein Auge aus“ (was im Veloständer dieses nicht mehr existierenden Schulhauses tatsächlich passiert ist).

Ich stand aus meinem Bett auf, ging in mein Arbeitszimmer und begann an meinem Schreibtisch eine Liste der ankommenden Namen zu erstellen. Insgesamt waren es 21. Mit dem Lehrer (Otto Buchschacher) 22. Darunter Mitschüler, mit denen ich fast keinen Kontakt hatte, aber Maja hatte offenbar alle eingeladen. Ein Charterflug?

Dass danach auch noch die meisten meiner Klassenkameradinnen und Kameraden aus der Sekundarschule auftauchten, verwunderte mich bereits nicht mehr (Lehrer Pfaff und Gräser). Nur war es diesmal so, dass offenbar ein Name dem nächsten rief, bis dem letzten nichts mehr einfiel.

Die Liste der Namen meiner Mitschüler/innen aus dem Gymnasium stellte ich dann aktiv zusammen. Es schien mir angebracht, sie auch noch einzuladen, wenn das hier offensichtlich eine spontane Klassenzusammenkunft wurde mit mir als gemeinsamem Nenner. Wenn ich aktiv sage (im Gegensatz zu passiv bei den anderen Klassen, die mir erschienen, ohne dass ich etwas zu ihrem Erscheinen Beigetragen hätte), stimmt das auch nicht ganz. Ich habe lediglich die neue Kette ausgelöst. Philipp Grendelmeier, rief ich, und Philipp rief Thomas, Thomas rief Bruno, Bruno den anderen Thomas, dieser rief Rolf, und so weiter und so fort.

Irgendwann in dieser Nacht, in der ich nicht mehr zum Schlafen kam, trafen dann noch Kinder aus meiner Wohnstrasse am Hönggerberg ein, mit denen ich nicht zur Schule gegangen war. Einer meiner Primarschulkollegen war ziemlich ungehalten, als sie eintraten. «Was habt ihr hier zu suchen?», aber meine Frau, die vom ganzen Lärm der Veranstaltung längst aufgewacht war und die ganze Gesellschaft bewirtete (keine Ahnung, wie sie das wieder alleine hinkriegte), beruhigte die Situation. «Es hat noch mehr Flammenkuchen auf dem Esstisch. Bedient euch doch, bitte!»

Eine Handvoll Erwachsene begleitete die Kinder aus meiner Strasse. Zum Teil waren es Eltern der Kinder, mit denen ich nie zur Schule ging, zum Teil Paare ohne Kinder. «Frau Knupp,» sagte ich, «bin ich nicht gross geworden»? Sie hatte jedes Mal Freude am kleinen Walter, wenn sie mit einer Tragtasche voll Alkohol auf dem Heimweg war. «Und wussten Sie, dass ich vor vielen Jahren eine Geschichte über sie geschrieben habe? Keine Angst, man erkennt sie nicht sofort. Die Geschichte heisst Why do you drive so fast? und sie heissen Cynthia Knapp.»  

Sie kneift mich in die Backe und sagt etwas zu mir, was ich nicht mehr weiss, aber ich freue mich, dass sie nicht nach Alkohol riecht. Sie ist die erste, die ich in dieser Nacht umarme.  

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