Als sein erster Roman auf dem Buchmarkt erschien, war Hubert Loosli 83 Jahre alt, und niemand, kein einziger und keine einzige unter den wenigen Lesern und Leserinnen, ahnte auch nur, dass es nicht nur der Abschluss einer vor 9 Jahren begonnenen Trilogie war, sondern der Höhepunkt eines umfassenden literarischen Werkes von sage und schreibe – denn geschrieben hatte sie Loosli alle, und es wäre an der Zeit gewesen, davon zu reden – nicht weniger als 24 Romanen und dreizehn Novellen.
Dabei sollte es dann auch bleiben, womit Looslis Romanerstling, von der Kritik weder gelobt noch verrissen, sondern weitgehend unbeachtet, auch gleich sein letztes Buch wurde, aber auch das wusste an jenem regnerischen Spätnachmittag im Frühling, als der Autor in einer kleinen Buchhandlung in Zürich nach der kurzen Lesung und zwei Gläsern Wasser ein paar Exemplare seines Début-Romans signierte, niemand, nicht einmal Loosli selber. Ganz im Gegenteil sollte er die Buchhandlung kurz darauf mit einer – wie er meinte guten und tragfähigen – Idee für einen weiteren Roman verlassen.
In der einzigen Buchbesprechung, die ein dem Zürcher Kleinverlag, in dem Looslis Buch in einer auf 1000 Exemplare beschränkten Auflage erschienen war, wohlgesinnter Freelancer für die Zürichsee-Zeitung verfasst hatte (es soll sich dem Vernehmen nach um den Bruder der Verlegerin gehandelt haben, dem wiederum gute Kontakte in die Redaktion der Zürichsee-Zeitung nachgesagt wurden), war von einem Spätberufenen die Rede – eine Bezeichnung, deren Ironie der beschränkten Leserschaft der Zeitung verborgen blieb.
Verborgen blieben den Leserinnen und Lesern auch, weil man etwas, was man gerade kennenlernt, schlecht mit etwas verbinden kann, was man nie kannte, die zahlreichen Querbezüge, Verweise und Reminiszenzen zu Looslis anderen Werken, auch ausserhalb der Trilogie, angefangen beim Umstand, dass sich im Roman von Loosli mehr Protagonisten aus seinen früheren Werken tummelten als Spione in Wien. Die meisten waren mit Loosli alt geworden und würden sich, wenn man sie fragen könnte, an vieles, was sie in den ersten Romanen trieben, damals noch mit langen Haaren, nur noch bruchstückhaft erinnern.
Loosli hatte an der Universität Zürich Politologie und Anglistik studiert und 1977 seine viel zu lange geratene Dissertation über die Familie Glass im Werk von Jerome D. Salinger geschrieben. «Setzen Sie endlich einen Punkt, Loosli!» hatte ihn sein Doktorvater nach vierhundert Seiten gemahnt. «Ihre Dissertation wird sonst länger als das Gesamtwerk von Salinger»
Aber Loosli konnte nicht aufhören. Es faszinierte ihn, wie am Rande der einen Kurzgeschichte Salingers ein Mitglied der Glass-Familie wie beiläufig erwähnt wird, dem dieses oder jenes widerfahren sei, was dann zum Thema einer späteren Geschichte wurde, womit man erst, und auch dann nur unvollständig und einigermassen, verstehen und nachvollziehen konnte, wie es zum Ereignis hatte kommen können, zum Beispiel zu einem Selbstmord.
Dass man von einer Person immer nur eine Momentaufnahme sieht, eine im Zusammenhang ihres Lebens stehende Handlung (oder ein Nichtstun) mit einer Vorgeschichte, die im Auge des momentanen Betrachters aus diesem Zusammenhang herausgelöst ist, hatte Loosli schon früh beschäftigt und trieb ihn noch im hohen Alter um. Jede Nebenfigur war in ihrem eigenen Leben, in ihrer eigenen Geschichte, die Hauptfigur, und kam dennoch im Leben anderer stets nur als Nebenfigur oder Komparse vor. Musste das nicht zwangsläufig zu Missverständnissen führen?
Loosli hätte seine Dissertation auch über die Figuren schreiben können, die sich in den von verschiedenen Autoren geschriebenen Kurzgeschichten des Erzählbands «Finbar’s Hotel» über den Weg, beziehungsweise die Korridore eines heruntergekommenen Hotels in Dublin laufen. Jedem der sieben Erzähler, von denen, was durchaus bemerkenswert ist, lediglich einer nicht in Dublin geboren wurde, dort aber längere Zeit gelebt haben soll, waren die Hotelgäste aus den anderen Kurzgeschichten (nicht aber deren Geschichten) bekannt, als sie ihre eigenen Beiträge schrieben.
Der Auftrag des Herausgebers an die Autoren hatte gelautet, Personen aus den anderen Geschichten irgendwo in der eigenen Geschichte auftreten zu lassen, und sei es nur, dass man eine Hauptperson aus einer anderen Geschichte am Ende eines schlecht ausgeleuchteten Korridors vorbeihuschen oder durch die Hotelhalle schreiten sieht, wie Hitchcock einst durch einen seiner Filme. Loosli hätte darüber sicher wunderbar und bestimmt auch ausführlich dissertiert, aber dafür hätte er 20 Jahre länger studieren müssen, denn das Buch erschien erst 1997.
Am Ende der kurzen Schlange, die sich vor dem Tisch gebildet hatte, an dem Loosli seine Bücher signierte, stand ein dicker – man kann es nicht anders sagen – Mann in Anzug und Krawatte, der ganz hinten beim Eingang gesessen hatte. Loosli nahm das nächste Buch vom kleinen Stapel, aber der Mann sagte: «Nein Danke, sie müssen das Buch nicht signieren». «Kein Problem» antwortete Loosli, und reichte ihm das unsignierte Buch, worauf die Buchhändlerin, die auf dem Signiertisch eine Handkasse aufgestellt hatte, sagte: «Das macht 23 Franken 80, bitte. Brauchen Sie eine Quittung?»
«Nein», sagte der Mann. «Ich kaufe den ganzen Stapel». Und das tat er dann auch wirklich. Er kaufte nicht nur dir restlichen zwölf Bücher, er meldete sich am kommenden Morgen beim Verlag und kaufte die gesamte Erstauflage. Er soll ausserdem hartnäckig versucht haben, von der Buchhändlerin die Einladungsliste zur Vernissage zu erhalten, vermutlich, um den Gästen die signierten Exemplare abzukaufen, aber sie gab nicht nach.
Heute, gut vier Jahre nach der Präsentation von Looslis Début, präsentiert sich die Situation wie folgt. Der Kleinverlag hat auf eine Neuauflage verzichtet. Warum ist unklar. Immerhin war die erste Auflage ja im Nu vergriffen. Vielleich hatte es mit den finanziellen Problemen des Verlags zu tun, der kurz nach dem Erscheinen von Looslis Buch mit einem anderen Kleinverlag fusionierte, nur um zwei Jahre später trotzdem unterzugehen. Looslis Roman ist auch antiquarisch nicht auffindbar. Es ist fast so, als hätte es ihn nie gegeben.
Was den mysteriösen Käufer der Erstauflage angeht, so lässt es sich mittlerweile nicht mehr mit Bestimmtheit sagen, ob es ihn tatsächlich gegeben hat, oder ob er nicht eine Erfindung von Loosli ist, von diesem vorgeschickt, um die Erstauflage seines ersten Buches aus dem Verkehr zu ziehen, dessen Erscheinen er ein Leben lang herbeigesehnt hatte, nun aber, als es vor ihm auf dem Tisch lag, zu tiefst bereute.
Vielleicht empfand er es als Verrat an seinen nicht publizierten Werken, an all den Figuren, die er darin über Jahrzehnte entwickelt und wachsen lassen hatte, um erst jetzt, wo sie alt waren, den Blick auf sie frei zu geben.
Vielleicht schien ihm auch die Idee für einen weiteren Roman (es wäre sein 25. geworden), in dem ein dicker, gut gekleideter Herr die Erstauflagen von in Kleinverlagen publizierten Romanen gleich nach ihrem Erscheinen aufkauft, als nicht wirklich tragfähig, obwohl ihm der Titel, der ihm dafür in den Sinn gekommen war (Flucht vor Lesern) eigentlich recht gut gefiel. Der dicke Mann wäre darin so etwas wie ein Fluchthelfer gewesen und er selber der Textverdächtige.
Loosli verbrachte die letzten zwei Jahre in einem Altersheim in Zürich-Fluntern. Ich habe ihn ein paar Wochen vor seinem Tod besucht, aber er hat mich nicht mehr erkannt. «Wien…, so so.» hat er geantwortet, als ich ihm von meinem letzten Posten erzählte. «Reinhard Lettau ist doch nach Wien zurückgekehrt, nichtwahr? Woher schon wieder?»
«Berlin, lieber Hubi, er ist nach Berlin zurückgekehrt. Aus Amerika.»
«Dann geh ich nach Berlin. Ich muss ihn fragen, ob ich Flucht vor Gästen verwenden darf.… Was hatte er in Amerika zu suchen?»
«Er ist gestorben, Hubi. Du könntest höchsten seine dritte Frau fragen. Dawn Telowski oder so. Keine Ahnung, ob sie noch lebt und wo sie sich aufhält.»
«Hubi…?»
Loosli sass aufgerichtet in seinem Bett, in seinem Rücken mehrere Kissen, und schaute mich abwesend an. Hatte er verstanden, was ich sagte?
«Was hast Du mit seinem Titel vor, Hubert?»
«Flucht vor Lesern», antwortete er. «Mein letztes Buch.»
«Ich freue mich darauf, Hubi.»
«Ich mich auch», sagte Loosli, «Ich mich auch». Und nach einer kurzen Pause: «Du musst jetzt gehen. Ich habe Deinen Namen vergessen.»
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