Die Pyrenäen erscheinen im 3. Bezirk

(ob irgendjemand irgendetwas wisse)

Am Ende meiner beruflichen Karriere hatte ich in acht Ländern gelebt und – wenn ich die diversen Umzüge in der Schweiz dazurechnete – mehr als zwanzigmal den Wohnort gewechselt. Ich führte das gerne auf meine Zigeunerwurzeln zurück, denn die Familienlegende wollte es, dass meine Ururgrosseltern mütterlicherseits Zigeuner aus den französischen Pyrenäen gewesen wären. Erst die Urgrosseltern seien in der Region von Albertville sesshaft geworden.

Neben meinem Schreibtisch hängt in einem alten, bemalten Holzrähmchen eine Fotografie an der Wand, die alle meine Umzüge – bis auf einen Sprung im Glas – unbeschadet überstanden hat, und auf der meine Grossmutter als kleines Mädchen mit ihren Eltern abgebildet ist.

Meine Urgrossmutter ein Ebenbild meiner Grossmutter, wie ich sie kannte, eine schöne Frau mit hochgesteckten Haaren, stolz und aufrecht sitzend, den rechten Arm auf der Hochlehne ihres Stuhles und die Hand ihres linken Armes auf dem Arm ihrer Tochter, die zwischen ihren Eltern steht und ihre kleine Hand auf das Bein ihrer Mutter gelegt hat. Mein Urgrossvater ein Mann mit gezwirbeltem Schnurrbart mit Anzug, Gilet und Fliege, den rechten Arm an der Seite herunterhängend – er hätte die linke Hand auch auf die Schulter seiner Tochter legen können – und den linken angewinkelt hinter dem Rücken.   

Es ist ein typisches Familienfoto, wie es damals unzählige Male gemacht wurde, als die Fotografie endlich auch jenen ein Portrait ermöglichte, die sich ein gemaltes nicht leisten konnten.  Man kann in ein beliebiges Antiquariat gehen, in Zürich, in Berlin, in Wien, und man wird unzählige solche Fotos finden, mit genau dieser Komposition. Ich musste sogar schon ein paar Mal genauer hinschauen, um sicher zu sein, dass es sich nicht um das Bild meiner Urgrosseltern mit meiner kleinen Grossmutter handelte.

Bei der Fotografie, die neben meinem Schreibtisch hängt, bin ich mir ziemlich sicher, dass es sich um meine Urgrosseltern mit meiner Grossmutter handelt. Zu ähnlich sieht meine Grossmutter auf den Fotos aus den Jahren vor ihrem frühen Tod ihrer Mutter, die hier so stolz in die Kamera des Fotografen schaut, der die Kleinfamilie vorher so sorgsam und jedes Detail bestimmend aufgestellt, man möchte sagen drapiert hatte, dass es der kleinen Linette zu viel geworden ist. In die Kamera schauen mochte sie, als das Bild endlich gemacht wurde, nicht mehr – ihr Blick geht aus dem Bild.

Es sind also meine Urgrosseltern und es ist meine Grossmutter. Aber waren sie wirklich die ersten sesshaften Berthés? Waren ihre Eltern, oder zumindest seine oder ihre, wirklich Zigeuner?

Mein Onkel Hans-Peter (nennen wir ihn hier getrost so, denn so hiess er, obwohl ich ihm unter einem anderen Namen und mit seinem Spitznamen „Hämpel“ als Titel eine kleine Geschichte gewidmet habe), der jüngste Bruder meiner Mutter, ist einmal nach Albertville gefahren, um herauszufinden, was es damit an sich hatte. Irgendwo muss ich noch einen Brief von ihm haben, in dem er mir alles, was er damals gefunden und nicht gefunden hatte, beschreibt. Sein Brief war die Reaktion auf meine Anfrage, als ich vierzehn war, ob irgendjemand irgendetwas wisse über unsere Familiengeschichte.        

Hämpel erzählte mir also das eine und das andere und vielleicht stammt das mit den Zigeunern aus den französischen Pyrenäen ja sogar aus seinem Brief. Ich werde das verifizieren, falls ich ihn beim bevorstehenden Umzug wiederfinde. Ob die Wahrscheinlichkeit, dass es zutrifft, damit steigen oder fallen würde, ist fraglich. Hämpel war ein Fernsehjournalist, also jemand, der weiss, wie man recherchiert, aber eben auch ein Journalist, der eine möglichst interessante Geschichte erzählen will, und ein Nachfahre der Berthés, der eine möglichst spannende Familiengeschichte haben wollte.

Er könnte den Teil mit den Zigeunern auch erfunden haben, denn es war heiss in jenem Sommer in Albertville und die Archive gaben wenig her, weshalb er mehr Zeit auf dem Platz vor dem Rathaus im Bistro verbrachte und unter den Linden ein Glas oder zwei trank.

Ich könnte ihn, würde er noch leben, zur Rede stellen: „Hast Du das alles bloss erfunden, Hämpel?“

„Was hast Du Dir dabei gedacht, einem Vierzehnjährigen solche Sachen zu erzählen? Ich habe Dir geglaubt. Meine Kinder, denen ich es später erzählte, haben es geglaubt (sie haben mir auch geglaubt, dass bei Schafen, die lange an einem Abhang grasen, die talseitigen Beine länger sind als die hangseitigen). Ihre Kinder, denen sie es vielleicht erzählen werden, wenn sie etwas grösser sind, werden es glauben. Unzählige Menschen, die damals die Tagesschau schauten, haben Dir geglaubt.“

Und wenn meine Ururgrosseltern keine Zigeuner aus den französischen Pyrenäen waren, woher stammten sie dann? Und was wird dann aus den Pyrenäen?

Ich schaue aus dem Fenster an diesem heissen Sonntagmorgen im Juni, wo der Sommer gestern Nacht mit einem Gewitter begonnen hat, und ich sehe vor dem Ostflügel des Palais Schwarzenberg diesen Erdhügel, vielleicht hundert Meter lang und fünf Meter hoch, mit mehreren kleinen Kuppen, den die Natur bereits mit Unkraut und kleinen Büschen übernommen hat. Es handelt sich angeblich um den Aushub für ein Nebengebäude des Hotels, zu dem das Palais wieder werden soll.

Vielleicht stimmt es ja doch, dass meine Ururgrosseltern mütterlicherseits Zigeuner aus den französischen Pyrenäen waren, und dass ich wegen dem stark verdünnten Zigeunerblut in meinen Adern so oft in meinem Leben umgezogen bin.

Und wenn es nicht stimmt, bin ich einfach nur oft umgezogen und es war gar nicht Hämpel, der diesen Teil der Familienlegende erfunden hat, sondern jemand vor ihm, der gar nicht mit uns verwandt war (eine schöne Zigeunerin vielleicht), oder jemand nach ihm, am Ende sogar ich selber, weil mir das, was mir die Verwandten zutrugen, als ich vierzehn war, nicht reichte.

Vielleicht sind es auch nur Details, die nicht stimmen, und es waren die spanischen Pyrenäen, nicht die französischen. Oder ich war 16 anstatt 14.

Vielleicht ist das da drüben auch nicht der Aushub für ein Hotelnebengebäude, sondern der Anfang eines Jahrhundertprojektes der EU, die die Pyrenäen (die französischen und die spanischen) nach Österreich bringen will, damit in Frankreich und Spanien die Anbaufläche für Getreide vergrössert werden kann, während es in Österreich heute schon reichlich Berge hat und sich mit ein wenig Pyrenäen kaum etwas verändern würde.

Das Palais Schwarzenberg würde dann nicht zum Hotel, zurückgebaut, sondern zum Tourismus- und Informationszentrum im neuen Herzen der Pyrenäen.

Hätte ich den Nummernschildern der Lastwagen glauben sollen, die den Aushub gebracht haben? Soll ich Hämpel glauben, auch wenn nicht er es war, der die Zigeuner in unsere Familie erfunden hat?  

Ich weiss nicht, was ich glauben soll, aber ich weiss, was ich glauben möchte. Ich möchte daran glauben, dass man meinen Urgrosskindern erzählt, wenn sie 14 Jahre alt sind, denn dann, und nur dann, sind sie aufnahmefähig dafür, dass ihr Urgrossvater in acht Ländern gelebt hat, von denen er mindestens die Hälfte erfunden hat, und dass er sich nichts mehr wünschte, als dass es ein Bild von ihnen und ihm gäbe, am besten vor einem überwachsenen Erdhügel, der zum Symbol für irgendetwas geworden ist, niemand weiss mehr, wofür.

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