Das erste Gespräch mit meinem Architekten fand vor einigen Monaten statt, als ich fast ein dreistöckiges Haus in einer Häuserzeile in einem kleinen Dorf in der Nähe von Nidfurn, einem noch kleineren Weiler im südlichen Glarnerland, gekauft hätte.
Nidfurn wird von den wenigen Leuten, denen die Ortschaft überhaupt geläufig ist, obwohl sie weder aus der Gegend stammen noch dort wohnen, höchstens wegen seinem Bahnhof erwähnt, wo die Züge der S6 und der S25 Halt machen (nicht nur auf Verlangen), mit denen man bequem und ohne umzusteigen nach Rapperswil oder Zürich fahren kann. Schon Leute, die in der entgegengesetzten Richtung unterwegs sind, zum Beispiel nach Braunwald, merken sich Nidfurn nicht und können sich, wenn man sie später fragt, ob sie an Nidfurn vorbeigefahren seien, meist nicht daran erinnern.
Eine S25 gibt es übrigens auch in Berlin, mit einer Haltestelle in Tegel, wo es, als ich noch in Charlottenburg wohnte (in einem Haus an der Nussbaumallee, das mir weder gehörte noch kannte ich seinen Architekten), noch einen praktischen kleinen Flughafen gab, wo jedes zweite Wochenende meine vier Kinder landeten. Aber das ist eine andere Geschichte, wie auch die Haltestellen Gesundbrunnen, Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik oder Heiligensee (kurz vor der Endstation) jede für sich Anlass für eine Berliner Geschichte wären. Wann soll ich das bloss noch alles schreiben?
Heute jedenfalls nicht mehr, denn der Pfingstnachmittag neigt sich schon bald seinem Ende zu, für das ein neues Gewitter ankündigt wurde, obwohl der Himmel wolkenlos ist, und ich will noch nach Nidfurn zurückkehren, bevor sich die Krähen im Schwarm vom Dach des Palais Schwarzenberg in den Wind stürzen und die ersten grossen Tropfen in den Botschaftsgarten fallen. Ich will zurück nach Nidfurn, wo ich noch nie war. Was beim ersten Lesen seltsam klingen mag, dass man zurückkehren könnte an einen Ort, an dem man noch nie war, wird hoffentlich etwas plausibler, wenn man bedenkt, dass es nicht möglich ist, an einen Ort zurückzukehren an dem man war.
Wer Nidfurn als Zielort eingibt, fliegt mit Google Earth von einem imaginären Flugplatz irgendwo an der Grenze zwischen Kansas und Missouri in weniger als 11 Sekunden in den Kanton Glarus, und noch während man sich sanft dem Boden nähert, wird einem klar, dass man in der Natur gelandet ist.
Bevor ich hier weiterschreibe, muss ich mir unbedingt eine mentale Notiz machen: Wo genau liegt dieser Flugplatz an der Grenze zwischen Kansas und Missouri, von dem aus die Google Earth Flüge starten? Wie heisst er, wie schaffen die so viele Abflüge pro Tag und warum gibt es keine Rückflüge? Und wenn ich schon dort bin: Warum gibt es im Bundesstaat Kansas ein kleines Kansas City, aber die Hauptstadt des Bundesstaats ist Topeka, während das grosse Kansas City die grösste Stadt im Bundesstaat Missouri ist, dessen Hauptstadt aber Jefferson City heisst? Ist das Leben nicht sonst schon kompliziert genug?
Wer sich mit dem Gedanken einer zukünftigen Niederlassung in Nidfurn (oder Haslen) beschäftigt und sich den kleinen Dörfern als Stadtmensch lieber schrittweise annähert, indem er zuerst in der Kantonshauptstadt Glarus einen Zwischenhalt einlegt, ist gut beraten, sein Reise nicht mit Google Earth zu planen, denn er könnte sich unverhofft in New Glarus, Wisconsin wiederfinden, nach einem noch kürzeren Flug zwar (er dauert keine 10 Sekunden) aber von da nach Nidfurn wäre es dann eine halbe Weltreise und man müsste sich wirklich fragen, ob man nicht vielleicht besser gleich dort bleibt.
Die 1845 aus Glarus eingewanderten Schweizer Gründer von New Glarus sind jedenfalls geblieben. Die Stadt mit heute knapp zweieinhalbtausend Einwohnern liegt auf 274m über Meer, was mit ein Grund gewesen sein mag, dass die Glarner gerade hier gesiedelt haben, denn das von ihnen verlassene Glarus liegt auf 472 Meter über Meer und so war hier nicht alles völlig fremd. „Früher lagen wir vorne höher und hinten tiefer,“ erzählten sie Zuwanderern aus anderen Orten, „aber die Zahlen sind dieselben geblieben.“ Was nicht alle verstanden, aber sie blieben trotzdem.
Es gibt noch immer viel Schweiz in New Glarus, nicht nur das Swiss Historical Village Museum an der 7th Avenue, auch die Glarner Stube. Wer genug Schweiz gesehen hat, isst bei Casey’s eine Pizza oder geniesst bei Fat Cat Coffee Works einen feinen Kaffee mit hausgemachtem Kuchen, bevor er den Tag in Puempel’s Old Tavern ausklingen lässt und sich dabei fragt, ob Pümpel der Nachfahre eines Braunwalder Zwerges sein könnte. Auf die Frage, wo Bartli den Most holt, weiss der Kellner dann aber keine Antwort.
Nidfurn ist, wie bereits angedeutet, keine wirkliche Tourismusdestination. Es dürfte bei aller Beschleunigung der Ereignisse, wie wir sie zuletzt erlebt haben, noch ein paar Jahrzehnte dauern, bis der Ort von chinesischen Touristen überrannt wird, und niemand aus dem Grossraum Zürich oder aus Rapperswil, der am Montag seinen Arbeitskollegen von seinem Wochenendausflug nach Braunwald erzählt, würde auf die Idee kommen, Nidfurn zu erwähnen, oder vom Restaurant Bahnhöfli zu schwärmen, obwohl man dort vorzüglich essen soll.
Man kommt zwar in Nidfurn vorbei, wenn man mit dem ÖV von Zürich nach Braunwald reist um dort Ski zu fahren, am Grotzenbüel zu schlitteln oder zum Oberglegisee zu wandern, aber man steigt nicht aus, obwohl der Zug anhält, sondern man fährt weiter bis Linthal, um dort auf die Linthal-Braunwaldbahn umzusteigen, eine Bahn, die aus dem Stand (deshalb nennt man sie wohl Standseilbahn) in sieben Minuten auf 1300 Metern im autofreien Braunwald ist.
Leute, die in Nidfurn aus dem Zug steigen, wohnen entweder in Nidfurn (oder Haslen), oder sie kommen jemanden in Nidfurn (oder Haslen) besuchen. Alle anderen fahren weiter. Ausser jemand hätte vor, von Nidfurn gute zehn Minuten bis nach Haslen oder Oberhaslen zu spazieren, um sich dort ein Haus anzuschauen. Bei mir ist es allerdings nicht so weit gekommen, obwohl mich das dreistöckige Haus an der Dorfstrasse wirklich interessiert hätte. Es ist ein schönes, sorgfältig renoviertes Haus mit wunderschönen Parkettböden, drei Terrassen und einem kleinen Garten, der für unsere Hunde gereicht hätte.
Zum ersten Gespräch mit meinem Architekten kam es, als ich versuchte, aus der Wiener Ferne herauszufinden, ob sich im ersten Stockwerk, wo unser Schlafzimmer gewesen wäre, ein Badezimmer einbauen liesse (ja) und ob sich auch ein Personenlift vom Keller bis ins dritte Stockwerk einbauen liesse (nein). Der Makler, der das Haus noch immer zu verkaufen versucht (lustigerweise für einen anderen Bundesangestellten), war so nett, mir die Handwerker und den Architekten zu nennen, die das Haus renoviert hatten. Ich rief also den Architekten in Glarus an, und hatte ein langes und gutes Gespräch mit ihm über das Haus, welches darin mündete, dass ich es nicht gekauft habe.
Er schlug mit aber vor, da er ab und zu Häuser renoviere im Glarnerland, die dann zum Verkauf stünden, mich wissen zu lassen, wenn er auf etwas stosse in der Art, wie ich es suche. Ich fand das sehr nett von ihm, und war dann doch überrascht, als er sich tatsächlich ein paar Monate später meldete.
Diesmal geht es um ein ehemaliges Herrschaftshaus aus dem Jahr 1900 im Sernftal. Ein Haus von einer Pracht und Ausstrahlung, die schwer zu beschreiben ist, und mit einem traumhaften, grossen Garten. Nur werde ich es mir wahrscheinlich nicht leisten können, wenn ich alle Renovationsarbeiten, die vorzunehmen sind, einbeziehe.
Morgen werde ich, wenn ich dazu komme, meinen Architekten anrufen, und ein zweites Gespräch mit ihm führen, um danach zu entscheiden, ob ich ein Angebot für das Haus machen soll oder nicht. Wenn nicht, werde ich warten, bis er mich auf ein nächstes Haus aufmerksam macht. Vielleicht klappt es dann. Vielleicht wird er am Ende aber auch mein Architekt, der nie etwas für mich gebaut oder renoviert hat, und alles, was wir je zusammen gemacht haben, ist gute Gespräche über alte Häuser führen.
Vielleicht erzähle ich ihm morgen, dass ich in den Kehren zum Klausenpass in einem Wiederholungskurs mit einen Jeep der Schweizer Armee einen Getriebeschaden hatte, als wir auf der grössten Alp der Schweiz, dem Urnerboden, in der Schiessverlegung waren und ich als Postfahrer hin und her fuhr während die anderen wie die Wilden um sich schossen. Ich glaube, ich holte die Post jeweils in Glarus ab. Ich muss also in Nidfurn und Haslen mehrmals vorbeigekommen sein und vielleicht habe ich im Garten des Bahnhöfli in Nidfurn sogar an einem sonnigen Nachmittag einen Kaffee getrunken.
Vielleicht frage ich ihn auch, ob er sich vorstellen könnte, im Garten meines von ihm renovierten Hauses einen kleinen chinesischen Pavillon zu bauen, wie ich ihn an der Nussbaumallee in Charlottenburg hatte. Fragen kostet ja nichts. Eine Null habe ich schon in der Tasche, sagt meine Frau immer, und vielleicht, wenn ich frage, wird ja eine Eins draus.
7. Juni 2022 um 08:09
Genial lieber Walter – liebe Grüsse Schrotty