Zwerge erfinden

Im Jahr 1867 erschien in der mit Ausnahme der Jubiläumsausgabe zum 10-Jährigen Erscheinen auf dreissig Exemplare beschränkten Hauszeitung des Salzburger Lesezirkels, dem damals rund zwei Dutzend mehr oder weniger aktive Mitglieder (alles Männer) und ein schon vor vielen Jahren aus Salzburg weggezogenes Passivmitglied Namens Franz-Albert Schwegler angehörten, das erstaunlicherweise seinen (für Passivmitglieder um die Hälfte reduzierten) Mitgliederbeitrag immer noch durch eine jährliche Postanweisung bezahlte, ein Essay mit dem Titel «Wider das Princip der rheinen Fiction».

Verfasser des Essays war der österreichische Kulturphilosoph und Literaturkritiker Ernst Kippenhofer, Gründungsmitglied, erster Präsident (bis 1864) und Kassenwart (1864-68) des Lesezirkels, dessen Bekanntheitsgrad, wenn man Salzburg verliess, rasch abnahm, der aber in Salzburg auch nach dem Erscheinen seines Essays noch höflich und mit einem gewissen Respekt gegrüsst worden sein soll.

Die These, die Ernst Kippenhofer (der mit vollem Namen Ernst Wolfgang Amadeus Karl Kippenhofer hiess, wobei Karl als Kollateralschaden aus dem Namen flog, als Kippenhofer sich Mozarts Vornamen entledigte, die ihn, so kann man es im Manuskript seiner unveröffentlichten Memoiren nachlesen, «fast seit (seiner) Geburt geärgert hatten») in seinem Essay aufstellte, lief darauf hinaus, dass es so etwas wie die reine Fiktion zumindest in der Literatur nicht geben kann und somit auch nicht gibt.

«Es kann in der Literatur», hob Kippenhofer, als er seine These zum ersten Mal im Lesezirkel vortrug,  mit seiner sonoren Stimme an, «die reine Fiktion, wenn man sich an die Gesetze der Logik hält, gar nicht geben» um dann mit der ihm eigenen Begabung für praktische und anschauliche Beispiele gleich den Beweis für seine Behauptung nachzuliefern, indem er fortfuhr: «Nehmen wir einmal an, ich schreibe eine Geschichte, und erfinde in der Mitte der dritten oder vierten Seite einen Zwerg.»

«Sieh an, er hat einen Zwerg erfunden» flüsterte ein Mitglied des Lesezirkels, ein pensionierter Oberschullehrer, der beim erstmaligen Vortragen von Kippenhofers Essay in der vordersten Pultreihe des kleinen Lesesaals der Bibliothek sass, wo sich der Lesezirkel einmal im Monat traf, seinem Nachbarn, einem Mähmaschinenhändler, ins Ohr. Jedenfalls hatte er gemeint, er hätte geflüstert, aber Kippenhofers umgehende Reaktion «Sehen Sie, geschätzter Oberschullehrer a.D., genau das habe ich gemeint!» belehrte ihn eines anderen.

«Wenn ich mich im Moment, gleich nachdem ich den besagten Zwerg in meinem Text habe erscheinen lassen, noch dem süssen, schöpferischen Wahn hingeben durfte, ich hätte gerade einen Zwerg erfunden, und befände mich also von diesem Moment an – und solange der Zwerg im Text herumspaziert – im für alles offenen Reich der reinen Fiktion, so kommt mir im selben Augenblick, wo jemand von «meinem» Zwerg Notiz nimmt, meine Schöpfung abhanden, indem sie von der vermeintlichen Fiktion in die Wirklichkeit abwandert.»

«Er hat einen Zwerg erfunden, haben Sie gerade gesagt, nichtwahr, und damit existiert der Zwerg nun auch ausserhalb meines Textes, in dem ich ihn abgesetzt hatte. Er ist durch Ihre Worte in diesen Saal spaziert und befindet sich jetzt entweder noch irgendwo unter den Lesepulten oder er turnt in den Bücherregalen herum, oder er hat die Bibliothek bereits verlassen und erkundet draussen neugierig seine neue Umgebung. Er kannte ja bisher nur die paar Seiten meines Textes, auf denen noch nicht viel los oder zu sehen war, vor allem, weil ich sie gar nicht geschrieben habe.

Es war ja nur eine Annahme, um die ich Sie gebeten hatte, dass ich eine Geschichte geschrieben hätte, an deren Anfang ein Zwerg auftaucht, und nun sitzen wir hier, und fragen uns, wohin der Zwerg verschwunden sein könnte und ob es uns je gelingen wird, ihn wieder einzufangen. Das ist alles andere als Fiktion, meine Herren. Der Zwerg ist, auch wenn er nur als Beispiel zur Illustration meiner These hätte dienen sollen, spätestens jetzt, wo wir über ihn reden, ein selbständiger Teil unserer Wirklichkeit geworden, Ihrer und meiner, ob wir wollen oder nicht, und er wird, auch wenn er von nun an unauffindbar und unsichtbar bleiben sollte, was bei Zwergen eher wahrscheinlich als unwahrscheinlich ist, von nun an existieren.»

«Er wird nicht nur unter uns, sondern uns mit Sicherheit auch überleben, denn Zwerge altern nur äusserst langsam. Wir werden, meine Herren, längst tot und begraben sein, wenn sich dieser Zwerg noch in der Stadt und im Salzburger Hinterland herumtreibt und Seinesgleichen sucht.»  

***

Auf dem Heimweg von diesem denkwürdigen Abend wurden die Mitglieder des Salzburger Lesezirkels alle von Kippenhofers Zwerg begleitet. Die einen, weil sie Kippenhofers These nicht folgen konnten oder wollten und den beispielhaften Zwerg als Fiktion mit zu sich nachhause nahmen, die anderen, weil sie ein Stück weit den gleichen Heimweg hatten, auf dem sie über den nun offenbar noch ganz durchgedrehten Kippenhofer und seinen erfundenen Zwerg lachten, und dabei nicht bemerkten, wie sich in ihr Lachen, das von den engen Gassen widerhallte, ein anderes, kleines Lachen mischte.  

Ein paar wenige waren auch darunter, die, obwohl sie Kippenhofers Argumentation nicht bis ans Ende folgen konnten, den Zwerg oder die Vorstellung von ihm ein wenig liebgewonnen hatten und es tat ihnen Leid, dass er jetzt so alleine und womöglich für Jahrhunderte in einer fremden Umgebung herumwandern müsse.   

***

Vor zwei Jahren, also über 150 Jahre nach dem Erscheinen von Kippenhofers Essay und dem damit verbundenen Auftauchen des Zwerges, hat ein Germanist, dessen Name ich hier nicht nennen möchte, weil er es nicht verdient hat, dass man seinen Namen nennt, und weil man mir sonst vorwerfen könnte, ich hätte ihn erfunden (als ob ich so jemanden erfinden möchte), allen Ernstes behauptet, und zwar in einer literarischen Revue, der ich den raschen Untergang wünsche, es hätten sich trotz intensiver Forschung keinerlei Belege dafür finden lassen, dass es den Salzburger Lesezirkel, dessen Hauszeitung, das weiter zahlende Passivmitglied Franz-Albert Schwegler oder Ernst Kippenhofer und sein Essay je gegeben habe.

Es ist mir völlig schleierhaft, wie jemand dazu kommen kann, sich mit einem für die Literatur und die Literatururgeschichte fast bedeutungslosen Objekt zu befassen, nur um am Ende zum Schluss zu kommen, das alles habe es überhaupt nie gegeben.

Wenn sich dieser überaus bornierte Germanist – wie Kippenhofer es formuliert hätte – «an die Gesetze der Logik gehalten» und seine absurden Folgerungen wenigstens konsequent zu Ende gedacht hätte, hätte er zum Schluss kommen müssen, dass es weder Mozart, Salzburg, noch das Jahr 1867 je gegeben hat und der Kalender vom 31. Dezember 1866 direkt auf den 1. Januar 1868 gesprungen sein muss.

Bezeichnenderweise erwähnt dieser Germanistentrottel, dieser überaus bemitleidenswerte literaturhistorische Vollbanause den Zwerg mit keinem Wort. Ganz einfach deshalb nicht, weil er ihm entwischt ist, und entwischen kann nur etwas, was existiert. Quod erat demonstrandum, wie mein Mathematiklehrer am Schuss einer Aufgabe jeweils mit Kreide an die Wandtafel zu schreiben pflegte, und der feine Kreidestaub rieselte, ja schwebte zu Boden.  

Eine Antwort to “Zwerge erfinden”

  1. Anonymous Says:

    ;-))) L.G. Schrotty

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