Wovon ich schreibe, wenn ich vom Schreiben schreibe

Im Jahr 2007, in dem ich zwei neue Hüftgelenke eingesetzt erhielt (neben meinen nach einem Sportunfall früh ersetzten beiden Schaufelzähnen die Ersatzteile 3 und 4 in meinem Körper) und von meiner ersten Frau geschieden wurde, erschien Haruki Murakamis Roman „Hashirukoto ni tsuite katarutoki ni boku no katarukoto“, was so viel heisst wie „Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede“.

Es ist ein Buch, von dem Murakami sagt, es sei «einfach ein Buch, in dem ich über verschiedenes nachdenke». Im Nachwort nennt er es dann später noch «Lebenserinnerungen», wobei ich vermute, dass das eine ungenaue Übersetzung sein könnte, und es im Japanischen wohl eher «Erinnerungen aus dem Leben» hiess, denn obwohl das Buch hauptsächlich aus  Erinnerungen aus dem Leben von Haruki Murakami besteht und insofern ein sehr persönliches Buch ist, vielleicht sein persönlichstes überhaupt, jedenfalls von denen, die ich gelesen habe, kann man es schlecht als Murakamis Lebenserinnerungen bezeichnen, denn er hat in seinem Leben viel mehr gemacht als geschrieben und gelaufen.  

Ich spreche kein Japanisch. Ich schreibe, aber ich laufe nicht. Mit einer Ausnahme: 1996 (ich lebte damals in Potomac, Maryland, und arbeitete in Washington, D.C.) habe ich etwa ein halbes Jahr lang für einen Marathon trainiert und dann – ich glaube, es war im Oktober – auch wirklich einen absolviert, den Marine Corps Marathon, der durch Washington führt. Er gilt allgemein als ein Marathon, der sich für Einsteiger eignet, für Menschen wie mich damals, die zum ersten (und, wie es sich bei mir herausstellen sollte, auch einzigen) Mal einen Marathon laufen, weil es ein flacher Marathon ist, ohne besondere Schwierigkeiten, ausser der Distanz natürlich, die es zu überwinden gilt.

Es war ein bewölkter Tag und irgendwann während des endlos scheinenden Laufens hat ein leichter Nieselregen eingesetzt. Ich war sehr zufrieden, als ich es endlich geschafft hatte, den Marathon zu absolvieren. Ich erhielt eine Medaille und eine Art Urkunde, die bestätigte, dass ich ein «Finisher» war. Aber am stärksten in Erinnerung geblieben ist mir nicht der Marathon selber, sondern einer der Trainingsläufe dem Potomac entlang, bei dem ich an einem frühen Samstagmorgen beinahe über einen Biber gestolpert wäre, der aus dem Potomac kommend unvermittelt meinen Laufweg kreuzte und im parallel zum Fluss verlaufenden Kanal verschwand.

Murakami hat die Werke von Raymond Carver ins Japanische übersetzt. Von dessen 1981 erschienenem «What we Talk About When We Talk About Love hat er sich das Strickmuster seines Titels „Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede“ ausgeliehen. Im Nachwort bedankt er sich bei Carvers Witwe Tess Gallagher für deren Freundlichkeit, ihm zu gestatten, den Titel auf seine Weise zu verwenden.

Tess Gallagher…? Tess Gallagher? Der Name läutet eine ferne Glocke… Natürlich! Ich stehe von meinem Schreibtisch auf und drehe mich zum Büchergestell hinter mir, wo meine zwei Laufmeter Gedichtbücher stehen. Nach weniger als einer Minute finde ich zwei Gedichtbände von Tess Gallagher. Instructions to the Double und Willingly. Ich meine mich zu erinnern, beide in einem Secondhand Buchladen in Vancouver gekauft zu haben.

Ich habe zuvor und danach in keiner anderen Stadt auch nur annähernd so viele Buchantiquariate gesehen wie in Vancouver. Wenn ich Gallaghers Gedichtbücher nicht in Vancouver gekauft habe, dann in einer der unzähligen Buchhandlungen, die ich 1983 auf einem halbjährigen Roadtrip durch die Vereinigten Staaten durchstöbert habe. Ich habe auf dieser Reise so viele Poetry Books gekauft, dass ich zwei oder dreimal einen Postsack, prall gefüllt mit (meist gebrauchten) Gedichtbüchern, in die Schweiz senden musste.

Die meisten dieser second hand poetry books haben meine über zwanzig Wohnortwechsel mitgemacht und ich nehme viele von ihnen immer wieder einmal mit der zweiten Hand aus dem Regal, weil mir ein Gedicht in den Sinn kommt. Aber es gibt auch einige unter ihnen, die ich, nachdem ich sie damals in der Buchhandlung durchgeblättert und dann in die Schweiz verschifft hatte, nie mehr geöffnet habe. Die beiden Bände von Tess Gallagher gehören zur zweiten Kategorie, obwohl mich „Instructions to the Double“ noch heute als wunderbarer Titel anspricht.

Als ich Willingly öffne, fällt ein Buchzeichen aus dem Buch. The Book Mantel, 2551 Alma Street, Vancouver, B.C. und auf der Rückseite: Frank’s Records (Vancouver’s largest selection of used records). Also hatte ich das Buch tatsächlich in Vancouver gekauft. Ich bin neugierig zu erfahren, ob es den Buchladen noch gibt, und die Suchmaschine führt mich auf einen Blog mit dem Titel: Vancouver As It Was: A Photo-Historical Journey.

Der Blog enthält einen Eintrag vom 3. Mai 2021 mit dem Titel: Gone . . . But Not Forgotten: Used/Antiquarian Bookshops (1970-2020). Im Beitrag sind alle antiquarischen Buchhandlungen aufgeführt, die zwischen 1970 und 2020 in Vancouver existiert haben und die es heute nicht mehr gibt. Es ist eine lange Liste. Bei einigen der verschwundenen Second Hand Bookstores hat es eine Fotografie der Besitzerin oder des Besitzers oder ein Bild der Fassade. Aber nur bei einem einzigen Eintrag ist ein Buchzeichen abgebildet: bei The Book Mantel, und es sieht fast genauso aus wie das, das ich in der Hand halte.  

Im Eintrag kann man lesen, The Book Mantel habe in den 80er-Jahren existiert und einer der Besitzer sei Frank Davis gewesen, dem auch Frank’s Records gleich nebenan gehörte. Davis sei 2017 gestorben und heute befände sich im Gebäude eine Versicherungsgesellschaft. Vielleicht sind die Versicherungspolicen ja die Gedichte des 21. Jahrhunderts. Gibt es Antiquariate dafür?

Von Raymond Carver habe ich vor vielen Jahren fünf Bücher gelesen. Obwohl vieles von dem, was er erzählt, mir als eher düster und trostlos in Erinnerung geblieben ist, habe ich seine Bücher sehr gerne gelesen und seine Art zu schreiben, gefällt mir. Bewundert habe ich auch immer wieder die ungewöhnlichen und oft genialen Titel seiner Kurzgeschichten. „Will you please be quiet, please?“ / “Call if you need me” / “What would you like to see?” / “Nobody said anything” / “What’s in Alaska?” / “Where I’m calling from” und eben “What we Talk About When We Talk About Love”. Die grösste Qualität dieser Titel ist, dass man (jedenfalls geht es mir so), wenn man sie liest, sich gleich hinsetzen möchte und eine Geschichte dazu schreiben.  

Murakami hätte seinem Buch aber auch den Titel «Die Einsamkeit des Romanautors» oder «Die Einsamkeit des Langtextschreibers» geben können, in Anlehnung an Alan Sillitoes «The Loneliness oft he Longdistance Runner». Es hätte den Vorteil gehabt, dass er Alan Sillitoe, der erst 2010 starb, noch direkt hätte fragen können, ob er seinen genialen Titel abwandeln dürfe. Aber nicht nur das: es hätte ihm erspart, sich umsonst oder am falschen Ort bedankt zu haben.  

Raymond Carver starb 1988 mit 50 an Lungenkrebs. Sechs Monate vor seinem Tod haben Tess Gallagher und er geheiratet, was in seinem Wikipedia Artikel im traurigen Eintrag resultierte: Verheiratet mit Tess Gallagher (1988-1988). Tess Gallagher ist über 90 und lebt heute in Irland. Ich frage mich, ob Haruki Murakami sie dort besucht hat, um sie zu fragen, ob er den Titel des Buches ihres Mannes abwandeln darf, oder ob er ihr lediglich geschrieben oder sie angerufen hat. Ich tendiere zur Annahme, dass er sie persönlich besucht hat. und wenn meine Vermutung zutrifft, bin ich mir fast sicher, dass er irgendwann darüber schreiben wird. Vielleicht sogar einen ganzen Roman. Was wäre wohl der Titel?

Beim Recherchieren über Raymond Carver bin ich heute über einen FAZ-Artikel gestolpert, und nachdem ich ihn zu Ende gelesen hatte, hätte ich es vorgezogen, ich wäre damals über den Biber gestolpert. Der Artikel beschreibt ausführlich, wie gross der Einfluss des Lektors Gordon Lish auf das Werk von Raymond Carver war.

Lish hat offenbar bei manchen Geschichten von Carver fast die Hälfte rausgestrichen, die Handlung abgeändert, die Sprache vereinfacht und die Dialoge gekürzt. Drei Viertel aller Carver Stories sollen von Lish ein neues Ende erhalten haben. Der Titel der Kurzgeschichtensammlung „Will You Please Be Quiet, Please?“, die Carvers Aufstieg zum gefeierten Autoren begründete, stammte ebenso von Lish wie fast alle anderen starken Titel von Carvers Geschichten.

Auch der geniale Titel „Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden“, stammt von Lish, der die Geschichte zudem um die Hälfte gekürzt haben soll. Carver hatte dafür den Titel „Anfänger“ vorgesehen. Als Carver die Druckfahnen seines zweiten Buchs sah, soll er Lish angefleht haben, den Druck zu stoppen. Dieser soll ihn aber überredet haben. Das Buch erschien 1981 in der von Lish lektorierten Form und wurde zu einem grossen Erfolg.  

Erst nachdem Carver mit der Dichterin Tess Gallagher zusammengezogen war und mit dem Trinken aufgehört hatte, emanzipierte er sich von Lish und beendete schliesslich die Zusammenarbeit mit ihm.

Es ist mir nicht bekannt, ob Haruki Murakami unterdessen weiss, dass er an der falschen Stelle um Erlaubnis bat, den Titel «What we talk about …» abwandeln zu dürfen. Ich habe meinerseits darauf verzichtet, bei Gordon Lish nachzufragen, ob er etwas gegen den Titel dieses Blog Eintrags einzuwenden habe. Ich habe ihm wie viele andere Leserinnen und Leser viel zu verdanken, aber danke sagen mag ich ihm dafür nicht.

Meine Frau und ich werden Wien Ende Jahr verlassen. Wenn wir nach dem Auszug wieder irgendwo einziehen, wäre es schön, wenn mich jemand (irgendjemand) daran erinnern könnte, dass ich die beiden Gedichtbände von Tess Gallagher im Büchergestell direkt neben die fünf Romane von Raymond Carver stelle, damit die beiden noch etwas länger zusammen sein können.  

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