Archive for the ‘Gedichte’ Category

Hin und zurück

8. November 2021

(ein Gedicht mit drei Fussnoten)

Vorabend

Lange her

Der Fernseher lief

Das Zimmer war leer

Es war bereits dunkel draussen

Das Fenster zum Hof stand offen

Ich wollte den Fernseher ausschalten

Eine Stimme sagte: Afrika

Der Fernseher läuft

Noch immer     

Noch

1) Fremtilbaks (vom Norwegischen „frem og tilbake“: hin und zurück) ist eine heute nicht mehr gebräuchliche skandinavische Versform mit 11 Zeilen, bei der die Anzahl Worte von Zeile zu Zeile bis auf 6 Worte ansteigt und dann wieder abnimmt bis zu einem Wort.  (Lexikon der ungebräuchlichen skandinavischen Verse, Oslo, 1982)

2) Es gibt keinen wirklichen Unterschied zwischen „abschalten“ und „ausschalten“, aber meist sagt man bei Geräten, wie z.B. einem Fernseher „ausschalten“ und bei einer Anlage, wie z.B. einem Atomkraftwerk „abschalten“ (Google)

3) Es gibt schon einen Unterschied zwischen „abschalten“ und „ausschalten“, aber man wird sich dessen meist erst dann gewahr, wenn man vergessen hat, den Fernseher abzuschalten, während man vergeblich versucht, ein Atomkraftwerk auszuschalten.

Erinnerungen an meinen ersten Botschafter

28. Juni 2018

Als ich ihm, einem weisshaarigen Mann mit Brille,
vor über 30 Jahren in Strassburg zuschaute
wie er an seinem Schreibtisch sass
und alles las, was dieser geschäftige Rat produzierte
und alles unterstrich, was er für wichtig hielt
und alles unterstrich
da dachte ich: der spinnt

Er ist vor langer Zeit gestorben
alles was er las
und ob er es für wichtig hielt
ist nicht mehr relevant
auch was damals wirklich wichtig war
ist es schon lange nicht mehr

Ich bin nun in seinem Alter
mehr kahl als weiss
und anstatt in Strassburg
sitze ich in Wien

Ich lese wenig, unterstreiche nichts
und gebe beim Lesen auch keine
sonderbaren Laute von mir
die man im Korridor hören könnte
ginge jemand vorbei

Manchmal denke ich an ihn
ich glaube, er war nicht verrückt
er hat einfach alles getan
um nicht verrückt zu werden

 

(28.06.2018)

Die Zeit

3. Februar 2018

Der Zeit ist es unangenehm, dass sie dauernd vergeht.
Warum, kann sie auch nicht sagen.
Sie würde ja gerne bleiben,
vor allem an schönen Tagen.

Der Zeit ist es selber nicht recht, dass sie manchmal fast steht.
Weshalb, hat sie nie verstanden.
Wenn wir wünschen, sie wäre vorbei,
käme sie gerne abhanden.

Die Zeit ist ein scheues Wesen.
Sie möchte niemanden stören.
Am liebsten wäre es ihr,
man würde nichts von ihr lesen
und nichts von ihr hören.

Junge, ich sage Dir

24. Februar 2017

(an den lange toten Vater)

 

Junge, ich sage Dir:
(und ich sage Dir Junge, denn ich bin älter als Du)
momentan sind es die Dreissiger-Jahrgänge,
von denen in den Todesanzeigen
Abschied genommen wird.
Nicht selten auch die Zwanziger.

Wir trauern um unseren
Urgrossvater, Grossvater, Vater, Freund,
und Jasspartner.

Aber Mutter und Du,
ihr musstet ja ums Verrecken
vor 60 sterben.

Ich habe euch längst vergeben.
Doch es ist trotzdem Scheisse.

Emily heisst übrigens
Euer erstes Urgrosskind.
Ich bin jetzt der Grossvater.

Grüss mir die Mutter, Junge.
(24.02.2017)

Schwer zu sagen

16. Februar 2015

ob uns alles zu schnell ging
oder ob es vielleicht
an uns lag
weil wir zu passiv waren
und irgendwie nicht bereit

Im Fussball sagen sie man muss
dem Ball entgegen laufen

aber das Leben ist
nicht immer ein Fussballspiel

sonst würde ja jeder
die Sonne flach halten
und mehr trainieren

Kleiner Beitrag zur Planung der Sommerferien

27. April 2014

Das Meer wird in der Regel überschätzt.
Es liegt den ganzen Tag am Strand,
während man im Inland
mit ein wenig Aufwand
Fuss fassen kann.

Fehltritt

13. Februar 2013

Druck mir den Himmel aus
– ich will genau dieses Blau!

Schau her: zwischen den Wolken
steckt noch Dein Absatz fest

Die Engel behalten ihn
weil Du geflucht hast beim Stolpern

Eines Tages womöglich
fällt er aus den Wolken
in einen Weinberg
und schlägt eine Schnecke tot

Du aber wirst wissen
ohne zu wissen, warum
dass Dir vergeben wurde

Dazwischen gekommen

7. September 2012

oft ist mir etwas
dazwischen gekommen

nichts Wichtiges jedenfalls
weiss ich nicht mehr, was es war

kann auch nicht sagen
was ich sonst unternommen hätte
oder behaupten es wäre
wichtiger gewesen
als was mir dazwischen kam

vielleicht war ich einfach
nicht konzentriert genug
auf das Leben

wahrscheinlich sind wir das
alle nur selten und
vielleicht reicht das ja auch sei nicht immer
so streng mit Dir

Rat an einen ruhelosen Blogger

31. Juli 2012

Du brauchst nicht zu allem
etwas zu sagen,
was passiert auf der Welt.

Du musst keine Antwort geben
auf sämtliche Fragen,
die man Dir stellt.                                        

Alles läuft wunderbar –
ganz ohne Dich.
Alles geht ganz von alleine
gut oder schief. 

Geh getrost weiter.
Leicht ist das eigne Gewicht.

Sei betrübt oder heiter.
Denk Dir das Deine.
Lesen müssen wir es nicht.

Der Tod in den Zeiten der Abfalltrennung

4. Mai 2012

Wie klar wir es auch
zu trennen versuchen: das Wesentliche
vom Unwesentlichen
das Notwendige vom Überflüssigen
das Besondere vom Beliebigen
das Geliebte vom Überdruss
die Spreu vom Weizen:

am Ende entgleitet uns alles
was uns nicht schon unterwegs
abhanden gekommen ist
und liegt losgelassen
von Hand und Gedächtnis 
wie trockenes Laub
in einem verwilderten Garten

Für einen kurzen Moment noch
wirbelt der Wind durcheinander
was uns lieb war
und was wir gar nie wollten
was uns wichtig war
und was uns belanglos schien

Dann wird es still und die Spreu
kehrt zum Weizen zurück
und alles beginnt wieder
ohne uns von vorne