Archive for the ‘Lieblingsgedichte’ Category

Nicht müde werden (Hilde Domin)

4. Oktober 2011

Nicht müde werden
sondern dem Wunder
leise
wie einem Vogel
die Hand hinhalten

Es war einmal ein Reuter (Matthias Claudius)

3. März 2011

Es war einmal ein Reuter,
Der hatt ein schönes Pferd;
Gut das, und was denn weiter?
Er aber war nichts wert.

Das ist eigentlich alles (Daniil Charms)

25. Februar 2011

Da ging einmal
ein Mann ins Büro
und traf unterwegs
einen anderen, der soeben
ein französisches Weissbrot
gekauft hatte und
sich auf dem Heimweg befand.

Das ist eigentlich alles.

 (Daniil Iwanowitsch Charms,  1905-1942)

Allein wie eine Mutterseele (Georg Kreisler)

9. Februar 2011

Die KPD ist verboten – die DKP ist erlaubt.
Die SPD hält Versammlungen ab und glaubt, dass man ihr etwas glaubt.
Die Gewerkschaft fordert Solidarität, so wie früher der Turnvater Jahn.
Und der Lohengrin singt noch immer: Sei bedankt, mein lieber Schwan!
Der Hunger, die Bomben, die Werbung – die sind nach wie vor immer dabei.
Und die Menschen, wie durch Vererbung, vertrauen nach wie vor ihrer Partei.

Aber allein wie eine Mutterseele,
so mach Revolution, dann ist sie deine! Zieh Leine
und stütz dich nicht auf Kampf und Bach-Choräle!
Ohne viel Geschrei mach dich, denn darauf kommt’s an, selber frei!
Sei schwarz, schwarz wie ein Kohlpechrabe!
Wirf dich wie ein Sperrangel so weit!
Hab keine Angst – hab Zeit!

Kommt der Kissinger morgen zu Besuch,
gib ihm keinen Kaffee!
Irgendwie wird es sich glätten.
Hüte dich vor alten Ketten!
Was macht dir Spaß? Deine Staatsbürgerschaft? Deine Fernsehgebühr?
Öffne die Tür und geh durch!

Aber allein wie eine Mutterseele!
Schieb es nicht auf viele lange Bänke und lenke
dein Leben ohne Blut und Autoöle!
Schöpfe aus dem Vollen, anstatt zu schaun, was andre von dir wolln!
Bleib nackt wie eine Splitterfaser!
Warte nicht auf Lenin und Godot!
Du kannst die Welt befrei’n,
wie eine Mutterseele: allein.

Abschied am Abend (Silja Walter)

1. Februar 2011
(aus Anlass ihres Todes am 31.01.2011)
Alle Vögel  schrein im Falle
Und vergehn im Flug -
Warst denn Du es, der sie alle
Heimlich hielt und trug?

Auch der Mond fällt in die Heide
Und es bricht die Welt,
Wie verblühte alte Seide,
Die kein Reif mehr hält.

O, wie konntest Du verlassen,
Was allein vergeht,
Was am Rand zurückgelassen
Sinket und verweht!

The vastest things (Mervyn Peake)

6. August 2010
The vastest things are those we may not learn.
We are not taught to die, nor to be born,
Nor how to burn
With love.
How pitiful is our enforced return
To those small things we are the masters of

Wann immer (Theodor Kramer)

1. August 2010
Wann immer ein Mann trifft auf einen,
der im Winkel sitzt, stumm und allein,
so schuldet, so sollte ich meinen,
er ihm ein Glas Bier oder Wein.
Bis die Augen nicht unstet mehr wandern
und sich aufhellt das bittre Gesicht;
dies schuldet ein Mann einem anderen,
aber zuhören muss er ihm nicht.

Timetable (Günter Eich)

22. Juli 2010

Diese Flugzeuge
zwischen Boston und Düsseldorf.
Entscheidungen aussprechen
ist Sache der Nilpferde.
Ich ziehe vor,
Salatblätter auf ein
Sandwich zu legen und
Unrecht zu behalten.

Paris, 1. Mai 1977 (Alfred Andersch)

17. Juli 2010

sich an den händen fassen
die augen zumachen
und losrennen

daran
dass euch dieser wunsch überfällt
erkennt ihr
die ankunft der liebe

dann
dürft ihr nicht zögern

fasst euch an den händen
macht die augen zu
rennt los

Ablass (Hans Magnus Enzensberger)

12. Juli 2010

(Dass etwas wirklich gut ist, kann man zum Beispiel daran erkennen, dass es einem auch nach 30 Jahren noch in den Sinn kommt, ohne dass man je gezwungen worden wäre, es auswendig zu lernen. So ist mir letzte Woche Enzensbergers Gedicht „Ablass“ wieder einmal in den Sinn gekommen, vermeintlich aus dem Nichts, aber dann wissen wir ja,  dass wenig aus dem Nichts kommt, eigentlich so gut wie nichts. )

Ihr wisst nicht, wovon ich rede. Klar.
Ihr glaubt, es hätte etwas mit Raten zu tun,
mit dem Numerus clausus oder dem Finanzamt.
Kein Wunder. An den Tankstellen und im Knast
und in der Diskothek wird kein Ablass gewährt.
Wenn ihr mich fragt, war es auch früher
nicht weit mit ihm her, auf Spitalbetten
Schlachtfeldern und Kalvarienbergen.
Kein Wunder, nur einer jener schäbigen Tricks,
mit denen der Mensch den Menschen aufs Kreuz legt
seit Menschengedenken. Eine veraltete Redensart,
weiter nichts. Und dennoch möchte ich sie
euch gern überliefern, nur so, diese Zauberformel,
weil sie beinah vollkommen ist: Vollkommener
Ablass
aller zeitlichen und ewigen Strafen.
Übrigens, wenn es an mir wäre, ihn zu gewähren,
ihr armen Schweine, er wäre euch sicher.

Aus: Hans Magnus Enzensberger:  „Die Furie des Verschwindens“, Gedichte
Edition Suhrkamp, Neue Folge, Band 66, Frankfurt am Main, 1980.