Ablass (Hans Magnus Enzensberger)

(Dass etwas wirklich gut ist, kann man zum Beispiel daran erkennen, dass es einem auch nach 30 Jahren noch in den Sinn kommt, ohne dass man je gezwungen worden wäre, es auswendig zu lernen. So ist mir letzte Woche Enzensbergers Gedicht „Ablass“ wieder einmal in den Sinn gekommen, vermeintlich aus dem Nichts, aber dann wissen wir ja,  dass wenig aus dem Nichts kommt, eigentlich so gut wie nichts. )

Ihr wisst nicht, wovon ich rede. Klar.
Ihr glaubt, es hätte etwas mit Raten zu tun,
mit dem Numerus clausus oder dem Finanzamt.
Kein Wunder. An den Tankstellen und im Knast
und in der Diskothek wird kein Ablass gewährt.
Wenn ihr mich fragt, war es auch früher
nicht weit mit ihm her, auf Spitalbetten
Schlachtfeldern und Kalvarienbergen.
Kein Wunder, nur einer jener schäbigen Tricks,
mit denen der Mensch den Menschen aufs Kreuz legt
seit Menschengedenken. Eine veraltete Redensart,
weiter nichts. Und dennoch möchte ich sie
euch gern überliefern, nur so, diese Zauberformel,
weil sie beinah vollkommen ist: Vollkommener
Ablass
aller zeitlichen und ewigen Strafen.
Übrigens, wenn es an mir wäre, ihn zu gewähren,
ihr armen Schweine, er wäre euch sicher.

Aus: Hans Magnus Enzensberger:  „Die Furie des Verschwindens“, Gedichte
Edition Suhrkamp, Neue Folge, Band 66, Frankfurt am Main, 1980.

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