(über die Schwierigkeit, ausgeliehene Bücher zurückzugeben)
Ich wurde in der Vergangenheit ab und zu von Leuten, die ich kaum oder gar nicht kannte, auf Bücher angesprochen, die ich ihnen ausgeliehen hätte, meist im Zug, und während ich in einem Buch las, das ich gerade niemandem ausgeliehen hatte.
„Sie haben mir vor vielen Jahren“, richtete zum Beispiel einmal ein älterer Herr irgendwo zwischen Aarau und Olten unvermittelt sein heiseres Wort an mich, nachdem er mir seit Zürich schweigend gegenübergesessen hatte, „Als wär’s ein Stück von mir von Carl Zuckmayer ausgeliehen. Ich habe es nun endlich fertiggelesen und möchte es Ihnen zurückgeben, habe es aber nicht bei mir.“
„Kennen wir uns?“ fragte ich. Aber anstatt zu antworten, fuhr er fort: „Wenn Sie morgen wieder denselben Zug nehmen, kann ich Ihnen das Buch mitbringen.“
„Ich weiss nicht, ob ich morgen wieder Zug fahren werde,“ sagte ich, obwohl ich wusste, dass ich am nächsten Tag wieder im selben Zug unterwegs sein würde, „und ich glaube, hier liegt eine Verwechslung vor. Ich kenne Sie nicht und ich habe niemandem ein Buch von Carl Zuckmayer ausgeliehen.“
Der alte Mann reagierte nicht.
„Das von Ihnen erwähnte Buch stand zwar in der Bibliothek meines Vaters“, fuhr ich fort, „aber ich habe es nie gelesen, obwohl mich der Titel als Jüngling beeindruckt hat. Es stand, wenn ich mich richtig erinnere, zwischen Stefan Zweigs Die Welt von gestern und Heinrich Manns Ein Zeitalter wird besichtigt, aber ich weiss nicht einmal, wo das Buch jetzt ist. Vielleicht in meiner Bibliothek in Wien, vielleicht aber auch in meinem Lager in Bülach. Ich hoffe, ich habe es nicht bei einem meiner zahlreichen Umzüge weggegeben. Ausgeliehen habe ich es auf jeden Fall nicht.“
„Vielleicht war es auch Die Welt von gestern, die Sie mir ausgeliehen haben“, sagte der alte Mann. „Ich kann Ihnen morgen gerne beide Bücher zurückbringen, wenn Sie wollen, aber ich müsste wissen, in welchem Zug ich Sie antreffen kann.“
„Auch die Welt von gestern habe ich Ihnen nicht ausgeliehen,“ antwortete ich mit einem Seitenblick auf die Sitznachbarin des alten Manns, eine jüngere Frau mit wallenden Locken und Hornbrille, die unserer Unterhaltung ganz offensichtlich folgte. „und Sie müssen mir keines der Bücher zurückgeben, denn sie gehören mir nicht. Wie gesagt, es liegt eine Verwechslung vor. Stellen Sie sich vor, Sie treffen später auf den Mann, der Ihnen die Bücher ausgeliehen hat, und Sie können sie ihm nicht zurückgeben, weil Sie sie bereits mir gegeben haben. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich möchte weiterlesen.“
Der alte Mann schwieg eine Weile, dann sagte er „Oder war es vielleicht Kon-Tiki von Thor Heyerdahl?“, wobei er sich vorbeugte und mir mit dem Zeigfinger auf das Knie tippte.
„Das reicht jetzt!“ sagte ich, irritiert durch seine Berührung vielleicht etwas zu energisch und zu laut, und er schreckte zurück, als hätte ich ihn angeschrien.
„Was herrschen Sie den alten Mann so an!“ schaltete sich seine Sitznachbarin ein. „Er hat Ihnen doch nichts getan. Er will Ihnen nur ihre Bücher zurückgeben, und Sie schreien hier herum, als würde er Sie bedrängen.“
„Es sind aber nicht meine Bücher“ sagte ich zu ihr, „Ich kenne den Mann überhaupt nicht, und was mischen Sie sich überhaupt ein?“, um dann an meinen Sitznachbarn gewendet fortzufahren: „Wollen Sie sich vielleicht auch noch dazu äussern?“
Dass ich wegen des alten Mannes so die Fassung verlor, hatte mit seiner Berührung zu tun (ich werde nicht gerne von fremden Menschen angefasst) und mit seinem Insistieren, aber am meisten irritiert hatte mich, dass er nach Als wär’s ein Stück von mir und Die Welt von gestern nun auch noch Kon-Tiki erwähnt hatte – ein weiteres Buch, das sehr nahe bei den anderen beiden Büchern in der Bibliothek meines Vaters gestanden hatte. Ich habe kein fotografisches Gedächtnis (eher ein Tonband im Ohr, das alles, was ich höre, aufnimmt und in meinem Gedächtnis speichert), aber an einzelne Bereiche der Bibliothek meines Vaters erinnere ich mich noch sehr genau.
Ich kann heute noch die Rücken der Bücher beschreiben, ihre Umschläge und Einbände, und ich weiss natürlich ihre Titel noch. Im Falle von Kon-Tiki kann ich mich auch an die Bilder des Schiffs aus Balsaholz erinnern, und wie ich mich damals gewundert hatte, wie man aus einem so leichten, zerbrechlichen Holz, aus dem wir kleine Segelflieger mit Gummimotoren bastelten, ein Schiff bauen könne, das den Pazifik zu überqueren vermag.
Wie konnte der alte Mann gleich drei Titel von Büchern nennen, die in der längst aufgelösten, umfangreichen Bibliothek meines Vaters praktisch nebeneinander standen? War er zu Lebzeiten meines Vaters bei uns in Zürich zuhause gewesen? Hatte er meinen Vater gekannt?
„Entschuldigen Sie,“ wandte ich mich dem alten Mann wieder zu „dass ich Sie angeschrien habe.“ (denn offenbar hatte ich ihn wirklich angeschrien) „Es tut mir leid, und ich wollte das nicht.“
„Jetzt bin ich sicher“ sagte er. „Es war Kon-Tiki, das sie mir ausgeliehen hatten.“
„Könnte es sein,“ fragte ich ihn, „dass Sie mich mit meinem Vater verwechseln? Er hiess ebenfalls Walter und je älter ich werde, sagen mir Leute, die ihn kannten, desto ähnlicher sehe ich ihm. Er war natürlich grösser als ich, aber das sieht man ja nicht sofort, wenn ich sitze. Und vielleicht ist die Ähnlichkeit jetzt, wo ich älter bin als er, ja noch frappanter geworden.“ Aber der alte Mann wiederholte nur „Es war Kon-Tiki!“, dann stand er auf und ging in Fahrtrichtung des Zuges, der in diesem Augenblick gerade in den Bahnhof Solothurn einrollte, auf den Ausgang zu.
Den Rest der Fahrt bis Bern hielt ich mein Buch in den Händen, aber ich las keine Zeile mehr. Es diente mir mehr dazu, den missbilligenden Blicken der jungen Dame auszuweichen. Ich dachte an den alten Mann, der vielleicht wirklich meinen Vater gekannt hatte, und ich bereute, dass ich ihm, als er in Solothurn den Zug verliess, nicht nachgegangen war. Vielleicht war es aber auch einfach ein grosser Zufall, dass er drei Bücher erwähnte, die in meines Vaters Büchergestell nebeneinander gestanden hatten, und dass er gerade mir eines zurückgeben wollte. Vielleicht war es auch ein nicht ganz so grosser Zufall, weil belesene Menschen seiner Generation die gleichen Bücher lasen.
Ich könnte diese Geschichte nun leicht so beenden, dass ich behaupten würde, ich hätte den alten Mann ein paar Tage später wieder getroffen, im selben Zug von Zürich nach Bern. Er sei im Viererabteil schräg vis-à-vis gesessen und ich hätte mitgehört, wie er seinem Gegenüber, einer älteren Dame, ein Buch von Alberto Moravia (Il disprezzo) zurückgeben wollte, welches ich in der englischen Übersetzung gelesen hatte (A Ghost At Noon), und welches sie, so beteuerte sie ohne laut zu werden, ihm nie ausgeliehen hatte. Aber wer würde das glauben?
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