Die Schönheit der Berge zu verschiedenen Jahreszeiten

(Der Titel ist aus Wolfgang Hildesheimers «Bildnis eines Dichters» ausgeliehen. Ich habe vor, ihn ihm bei der nächsten Begegnung zurückzugeben.)

Irgendwann zwischen 1994 und 1998 habe ich einen Schriftsteller und Theaterautor von Washington D.C. zu einer Universität in Virginia gefahren, wo er für eine Lesung erwartet wurde. Ich gehe davon aus, dass wir auch dort angekommen sind und er seine Lesung gehalten hat, aber ich mag mich weder an die Universität, noch an die Lesung oder die Rückfahrt erinnern. Es kann sein, dass ich nicht für die Lesung geblieben und am selben Tag noch nach Washington zurückgefahren bin. Die Fahrt dauert ungefähr 4 Stunden, es wäre also möglich gewesen. Etwas ungewöhnlich zwar für einen Kulturattaché, einen Autor so weit zu fahren und dann nicht für die Lesung zu bleiben, aber möglich. Ich traue mir das so, wie ich damals war, durchaus zu.   

Normalerweise hätte meine Mitarbeiterin in der Kultursektion der Botschaft den Autor auf seiner Lesetour begleitet, aber aus irgendeinem Grund, an den ich mich nicht mehr erinnere, habe ich seine Begleitung selber übernommen. Ich würde nun gerne schreiben, dass ich es tat, weil ich spürte oder zumindest hoffte, dass sich auf der langen Fahrt interessante Gespräche ergeben würden, über das Schreiben langer Texte zum Beispiel, aber das kann ich nicht.

Wahrscheinlicher ist, dass meine Mitarbeiterin, die sonst alles erledigte, wodurch sich meine Arbeit auf Begrüssungen und Verabschiedungen reduzierte, in den Ferien weilte oder andersweit verhindert war.  Jedenfalls hat die Fahrt genau das gebracht: eine sehr spannende Unterhaltung, von der mir vor allem seine Aussagen über das Schreiben langer Texte im Gedächtnis geblieben sind, denn ich war damals überzeugt, in mir stecke ein Schriftsteller, den das Schicksal mit seiner ganzen Hinterhältigkeit  in die Rolle eines Kulturvermittlers gezwängt hatte.    

Unterdessen ist ein Vierteljahrhundert vergangen. Als ich mich vor etwa zwei Jahren ohne erkennbaren Anlass an unsere Unterhaltung auf der langen Fahrt durch herbstliche Wälder erinnerte, fiel mir ausser seinem Vornamen (Peter?) zunächst gar nichts mehr zu seiner Person ein, weder der Familienname (etwas mit einem «o»?) noch der genaue Titel eines seiner Theaterstücke oder seines ersten Buches, das ich vor einigen Jahren schon einmal gesucht und als vergriffen gefunden hatte.  Das ist nicht viel, um jemanden zu finden, aber ich habe es schliesslich nach einigen (zum Teil unterhaltsamen) Umwegen geschafft, nur um traurig festzustellen, dass er vor fünf Jahren gestorben war. Aber fangen wir hinten an.

Wenn man altershalber aus dem Berufsleben ausscheidet, geht es darum, möglichst rasch etwas zu finden, was man tun könnte, wenn man nichts mehr tun muss. Die erste Schwierigkeit, die sich dabei ergibt, ist die, dass man altershalber nicht ausscheidet, sondern ausgeschieden wird – ein Vorgang, vor dessen passiver Natur man auf der Hut sein sollte. Allzu leicht prägt er sonst nicht nur den Übergang in ein Leben ohne Beruf, sondern dieses schlechthin, und ehe man es sich versieht, passiert einem eines nach dem anderen, und man stellt fest: Man hat das Heft, das man vorher vermeintlich festgehalten und fleissig beschrieben hatte, für den Rest seiner Zeit, wie kurz oder lang sie auch sei,  aus den Händen gegeben.  

Nun gehöre ich nicht zu den Leuten, die sich andauernd alles vergegenwärtigen müssen, denn meine Gegenwart ist schon dermassen mit allem Möglichen und Unmöglichen zugestellt, dass im kleinen Vorgarten zur Strasse hin, die aus der Vergangenheit an ihr vorbei in die Zukunft führt, permanent ein Schild mit der Aufschrift «Voll belegt!» stehen müsste. Trotzdem kann es hilfreich sein, wenn man sich das eine oder andere vorzustellen versucht, bevor es eintrifft. Was also werde ich tun, wenn ich eines nicht mehr fernen Tages aus dem Berufsleben ausgeschieden worden sein werde?

Die Vorstellung, dass man von seinem Beruf als Perle ausgeschieden wird, wäre natürlich nicht nur schmeichelhaft, sie würde auch die Beantwortung der Frage wesentlich erleichtern, was danach zu tun sei. Als Perle wäre auch nichts tun durchaus eine Option. Planloses vor sich hin glänzen und dafür auch noch bewundert werden.

Leider kann ich dieses schöne Bild für mich nicht in Anspruch nehmen. Perlen sollen bekanntlich in der Natur durch eine Abwehrreaktion einer Muschel entstehen, die zur Perlmuschel wird, indem sie einen Eindringling (zum Beispiel ein Sandkorn), den sie zuerst erfolglos wieder hinaus ins Meer zu befördern versuchte, mit Perlmutt umgibt und ihn dadurch isoliert und für sich unschädlich macht.

Ich bin, mag der Vergleich mit dem Sandkorn noch passend sein, in die Muschel, die mich (und meine Kinder) nun 35 Jahre ernährt hat, nicht eingedrungen, sondern von ihr mittels eines aufwendigen Concours rekrutiert worden, und sie hat mich auch nicht mit Perlmutt beschichtet, sondern mit Weisungen und administrativen Erlassen, Kontrollmechanismen und Zielvereinbarungen ein- und zugedeckt und damit unschädlich gemacht, denn wer weiss, was ich alles hätte anstellen können, wenn man mich und meine Arbeitskolleginnen und Kollegen nicht dazu angehalten hätte, uns konstant mit uns selber zu beschäftigen.

Das mit der Perle wird also nichts und ich muss mir etwas anderes einfallen lassen für die Zeit danach. Ich träume zum Beispiel immer noch davon, auch tagsüber, einen Roman zu schreiben. Ich habe mir vor einigen Jahren sogar ein Buch gekauft, in dem erklärt wird, Schritt für Schritt, wie man einen langen Text, im Gegensatz zu einem kurzen, schreibt.  Es hat mir aber nicht viel geholfen. Alles, was ich bis heute fertigbringe, sind kurze Texte.

Kurze Texte sind, ausser dass sie kurz und damit schnell vorüber sind, keine schlechte Sache. Vor allem sind sie einfach zu schreiben. Man beginnt am Anfang, schreibt etwas in die Mitte und ehe man es sich versieht, ist man am Ende angelangt und der Abspann läuft bei guter Musik. Manchmal werden noch die Zeilen nachgeliefert, die man geschrieben aber nicht verwendet hat, und man kann daraus mit etwas Geschick ein hübsches Gedicht machen.

Wolfgang Hildesheimer hat mit kurzen Texten begonnen. Wir teilen uns die Initialen, und ich frage mich, ob sie ihm seine Mutter auch auf die Unterhemden gestickt hat, damit er nach dem Schulturnen das richtige Unterhemd anzog, weil damals alle dieselben weissen Unterhemden trugen.  Auch Richard Brautigan hat mit Kurzprosa begonnen, und wenn ich jetzt sämtliche Schriftsteller aufzählen würde, die, bevor ihnen endlich ein Roman gelang, kurze Texte geschrieben und veröffentlicht haben, würde dieser Text vom Umfang her ein ziemlich langer Roman werden.

Der Theaterautor, den ich damals durch den Indian Summer von Washington nach Richmond chauffierte, es fiel mir später wieder ein, hiess Peter Adrian Cohen. Er war mir sehr sympathisch und erzählte mir, während wir durch den Shenandoah National Park nach Süden fuhren, dass er einst als gut bezahlter Mitarbeiter einer PR-Firma um die halbe Welt gereist und dabei immer in den besten Hotels abgestiegen war, bevor er und seine Frau beschlossen, als sie um die vierzig waren, bescheiden zu leben, um ihm seinen Traum zu ermöglichen: Theaterstücke schreiben.

Er erzählte mir auch, dass er fast verzweifelt sei, weil es ihm nicht gelang, ein Theaterstück oder einen Roman, kurz: einen längeren Text zu schreiben. Bis ihm jemand erklärt habe, dass das Vorgehen, die Schreibtechnik, eine völlig andere sei. Man könne nicht Sprint trainieren und dann meinen, man könne einen Marathon rennen.

Ich weiss nicht mehr, ob er mir die Technik erklärt hat, die für ihn zum Erfolg führte. Das Einzige, woran ich mich erinnere, ist, dass er Beispiele erwähnt hat. Ein berühmter Schweizer Autor soll sich jeweils kleine Figuren auf einer Bühne auf seinen Schreibtisch gestellt haben. Ein anderer soll für jede seiner Figuren einen Eigenschaftskatalog angelegt haben.

Ich habe während meiner Zeit in Washington keinen Roman geschrieben, auch danach bis heute nicht. Aber einen Marathon habe ich 1996 beendet, obwohl ich nie ein Sprinter war und am Ende mehr ging als rannte.     

Ich denke die wenigsten von denen, die schliesslich einen Roman geschrieben haben, wussten, bevor sie damit begannen, wie man einen Roman schreibt. Die meisten begannen einfach und wussten es auch während dem Schreiben nicht. Merkten erst gegen Ende, dass der Text viel zu lange geworden ist für einen Kurzgeschichte.

Die Ehrlichen unter ihnen würden vielleicht zugeben, wenn man sie fragten würde, dass sie, nachdem sie ihren Roman beendet hatten, noch immer nicht wussten, wie man einen Roman schreibt. Für solche, die mehrere Romane vorlegen können, ist es möglicherweise wie mit dem Treppensteigen: der Vorgang ist für den Körper so komplex, dass man während dem Steigen besser nicht darüber nachdenkt und danach nicht beschreiben kann, wie man es gemacht hat.    

Die Appalachen, durch die ich Peter Adrian Cohen damals zu seiner Lesung fuhr, gelten hinsichtlich ihrer Höhe als Mittelgebirge. Sie waren für die Einwanderer das erste Hindernis, das sie auf ihrem Weg nach Westen zu überqueren hatten.  Ausser sie blieben im Osten und nahmen sich vor, Romane zu schreiben.  

Eine Antwort to “Die Schönheit der Berge zu verschiedenen Jahreszeiten”

  1. Andreas Härter Says:

    Der lange Text – eine Sehnsucht? Gib und lass Dir Zeit, old friend. Danke für diesen Text zur rechten Zeit. Inzwischen ein kleiner Hinweis, eine Spur, von der unklar ist, ob sie irgendwo hinführt: https://naloo.net/peter-a-cohen/; eine Nadia Loosli aus Zürich gestaltet das Cover für eine CD mit “The short writings of Peter-Adrian Cohen”, die im Internet unauffindbar ist. The short writings, not the long ones…; die schweben wohl noch spurloser durchs Textuniversum.

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