“Wie geht es dem Pferd?”
Es waren seine ersten Worte, als er nach einem halben Jahr aus dem Koma erwachte, und lange Zeit sah es so aus, als ob es auch seine letzten sein würden, was sie am Ende auch sein sollten, aber das konnte man nicht wissen, denn gleich danach war er wieder weg und es würde drei lange Jahre dauern, bis er zum zweiten Mal aufwachen sollte.
Michal weinte. Sie war in seinem Krankenzimmer, als er für einen kurzen Augenblick aufwachte und sich nach dem Pferd erkundigte. Es war kein Zufall, dass sie da war. Sie war seit seinem Unfall jeden Tag nach der Arbeit direkt ins Spital gekommen und an sein Bett gesessen, stundenlang, und hatte mit ihm geredet. Nicht mit ihm, natürlich, denn er antwortete ja nicht, aber zu ihm. Sie sass an seinem Bett, hielt seine Hand und redete. Sie hatte Hable con ella von Pedro Almodóvar gesehen. Benigno spricht da auch andauernd mit Alicia. Nur Sex wollte sie nicht mit ihm haben. Das ging zu weit. Dafür müsste er zuerst einmal aufwachen.
Der junge Assistenzarzt, den sie gefragt hatte, meinte, es sei nicht völlig auszuschliessen, dass er sie hören könne. Nicht völlig auszuschliessen – sie sah ihm an, dass er vom Gegenteil überzeugt war, und dass er sie für eine Vollidiotin hielt, so etwas überhaupt zu fragen. Egal, dachte Michal. Er konnte denken, was er wollte, dieser geschniegelte Geck. Sie würde weiter zu ihm sprechen, bis er aufwachte. Dann würde man ja sehen, ob er sie gehört hatte, oder ob all das Reden umsonst war. Wobei reden nie umsonst war. Davon war sie überzeugt.
“Gestern war ich bei Gal”, hatte sie ihm am Tag, bevor er kurz erwachte, erzählt. Ihre Schwester Gal wohnte mit ihrem Mann Yalon, ihrem Sohn Gadi, der gerade seinen Militärdienst bei einer Spezialeinheit leistete, und ihrem Wisla in Even Yehuda. Das wusste er natürlich, aber sie erklärte es ihm noch einmal, denn vielleicht hatte er durch den Sturz auf den Kopf ja das eine oder andere vergessen. “Du weisst doch, sie gehen einmal pro Monat mit den fünf Schwestern ihres Wisla und deren Besitzern ans Meer. Was für ein Schauspiel, die Hunde in den Uferwellen springen zu sehen. Sie springen unheimlich hoch.“
Der Wisla ihrer Schwester hatte vor einem Jahr einen Preis gewonnen. Irgendeine Dressur oder so. Agility hiess das, oder ähnlich. Jedenfalls hatte der Wisla ihrer Schwester gewonnen. Er war nun israelischer Meister. „Ach ja, und der Hund ihres Bruders ist gestorben. Hast Du den überhaupt je gesehen? Doch, natürlich, Du hast ihn gesehen. Der mit dem weissen Auge.“ Und falls Du jetzt gefragt hättest, wie alt er war: er war zwölf. Zwölf ist ein hohes Alter für grosse Hunde. Während kleine 15, 18 oder auch mal 20 Jahre leben können. Falls wir uns einen Hund nehmen, wenn Du wieder wach bist, meine ich, will ich einen kleinen. Es ist ganz schlimm, wenn einem der Hund stirbt. Man muss das so lange wie möglich hinauszögern. Findest Du nicht auch? Willst Du einen Hund?“
Natürlich war ihr klar, dass ihn wahrscheinlich höchstens die Hälfte von dem, was sie ihm erzählte, wirklich interessierte. Wenn überhaupt. Der Hund vielleicht. Aber sonst? Männer waren ja auch wenn sie wach waren nicht wirklich an vielem interessiert. Wenigstens nicht an den Dingen des Alltags. Der Sohn der Nachbarin ist von der Schule geflogen? – Was geht mich das an? Männer wollten auch nicht dauernd reden, informiert oder in ein Gespräch verwickelt werden. Sie wollten lieber ihre Ruhe und sie liebten es, wenn es einfach still war. Was war schön daran, wenn es still war? Und warum hatte man eine Partnerin, wenn man nicht mit ihr reden wollte? Einmal hatte sie gehört, wie ein Pfleger unter der offenen Tür zum anderen sagte: „Der arme Kerl. Er kann nicht einmal davonlaufen. Er ist ihr völlig ausgeliefert.“ Sie wünschte ihnen nichts Böses, aber vielleicht würden sie anders denken, wenn sie selber im Koma lägen.
In den ersten Tagen seines Komas hatte sie ihm viel von zuhause erzählt. „Ich musste die Orchideen wegwerfen. Alle sechs. Sie sind vertrocknet. Obwohl ich ihnen regelmässig Wasser gegeben habe. Hast Du gesehen, wie sie ihre Luftwurzeln nach allen Seiten ausstrecken?“ Natürlich hatte er es nicht gesehen. Die Orchideen standen auf dem Glastisch hinter dem Sofa, direkt am Fenster, und wenn er auf dem Sofa sass, schaute er in die andere Richtung, wo im Fernsehen irgendein Sportanlass übertragen wurde. Langlauf, Biathlon, Eishockey, Fussball, Baseball, American Football – was auch immer, bloss keine Dokumentarfilme und schon gar keine Nachrichtensendungen, höchstens einmal ein Spielfilm, den er dann bei der dritten Werbeunterbrechung abbrach.
Sie hätte jetzt gemein sein können zu ihm, und ihm einen Fernseher ins Zimmer stellen lassen, auf dem den ganzen Tag Nachrichten aus aller Welt liefen. Die 126. Schiesserei an einer amerikanischen Schule. Ein israelischer Schulabwart, der 15 Jahre im Gefängnis verbrachte für einen Mord an einem kleinen Mädchen, den er nicht begangen hatte. Und zwischen den Nachrichten Dokumentarfilme, bei denen – ganz egal, worum es ging – die stets gleiche, sonore Stimme den Raum füllte. Dieser weise, ältere Mann, der alles allen erklärte. Kurz vor seinem Unfall hatte sie sich eine Dokumentation über Hitlers Sexleben angeschaut. „Das Mädchen war gerade 18 Jahre alt, als Hitler sie zum ersten Mal sah*, sagte die sonore Stimme. „Sie stand auf einer Leiter, als Hitler die Buchhandlung betrat.“
Er hatte es auf dem Weg zur Küche gehört und sich darüber lustig gemacht. „Woher will er das wissen, verflucht nochmal? Und findest Du es nicht auch verdächtig, dass er uns gerade erst erklärt hat, es ist keine Stunde her, warum die Berglöwin Zita mit ihrem letzten Wurf in ihr angestammtes Revier zurückgekehrt ist, obwohl dort unterdessen eine Rivalin mit ihren Kindern lebte?“ Sie sagte nichts. „Die haben offensichtlich bei der deutschen Synchronisierungsfirma nur einen einzigen Typen, der Dokus macht. Er geht mir fürchterlich auf den Sack. Ich hoffe, er steht nie an der Kasse im Billa vor mir und erzählt seinem Grosskind die Geschichte des Einkaufswagens. Ich müsste mich schwer beherrschen, ihm keine reinzuhauen.“ Michal hatte nur gelacht. Er und jemandem eine reinhauen. Gerade er. Sie liebte Dokumentarfilme, vor allem über den 2. Weltkrieg. Und es störte sie nicht, dass die Stimme des Erzählers stets dieselbe war. Dier Sportreporter tönten auch alle gleich.
„Es tut mir leid, dass ich gestern Abend nicht gekommen bin“, sagte sie an einem Abend im Februar zu ihm. „Ich bin gleich nach der Arbeit ins Warenhaus und habe uns einen Luftbefeuchter gekauft. Vielleicht nehmen Orchideen ja die Feuchtigkeit mit ihren Luftwurzeln auf und sie sind wegen der trockenen Luft abgestorben. Wegen der Heizung, Du weisst schon. Er steht in der Mitte des Wohnzimmers, damit er die Luft in alle Richtungen befeuchten kann, und da wird er bleiben, bis Du nachhause kommst und darüber stolperst. Nein, keine Angst, natürlich stelle ich ihn an die Wand, bevor Du nachhause kommst.“
„Vielleicht ist er dann aber auch schon wieder weg. Ich bin mir nicht sicher, ob er richtig funktioniert. Als ich ihn einschaltete, gab er die Luftfeuchtigkeit mit 36% an. Wie kann ein Gerät in einer Sekunde die Luftfeuchtigkeit so genau bestimmen? Und nach einer Viertelstunde, weisst Du, was er da behauptet hat? Die Luftfeuchtigkeit betrage jetzt 34%. Ist es zu glauben? Ist das Gerät bereits defekt oder habe ich vielleicht aus Versehen einen Trockner gekauft? Ich geb ihm jetzt ein paar Tage, und sonst bring ich ihn dann zurück. Es ist eine zweijährige Garantie drauf und ich habe die Rechnung behalten.“
Ernesto war im März 2023 bei einer Demokratie-Demonstration beim Hashalom Bahnhof in Tel Aviv von einem berittenen Polizisten überrannt worden. Überrannt ist zuviel gesagt, aber so nannten sie es in den Nachrichten, weil es brutaler klingt. Das Pferd kippte, von der aufgewühlten Menge bedrängt, mit seinem Reiter langsam, fast in Zeitlupe, zur Seite und fiel auf Ernesto, der mit dem Kopf auf dem Randstein aufschlug.
Michal hatte ein schlechtes Gewissen. Sie hatte ihn überredet, mit ihm an die Demonstration zu gehen. „Was soll ich da?“ hatte er geantwortet. „Mein ganzes Leben habe ich nicht an einer einzigen Demonstration teilgenommen. Warum sollte ich jetzt noch damit anfangen?“ „Komm, sei kein Spielverderber, nur dieses eine Mal!“ hatte sie ihn gedrängt. „Du kannst nicht immer alles verpassen.“ Obwohl sie wusste, dass er das ohne weiteres konnte.
Schliesslich hatte er nachgegeben, und als sie auf dem Weg zum Bahnhof auf der Brücke standen und unten auf dem Highway zum ersten mal eine Staffle berittener Polizei sahen, war er beeindruckt.
„Was für kraftvolle, elegante Tiere“ sagte er zu ihr. „Mir tun sie nur immer leid, wenn sie so eingesetzt werden.“ Und dann dies.
Und damit nicht genug. Den ganzen Abend zeigten sie auf allen Nachrichtenkanälen die gleiche Sequenz, von einem Demonstranten auf seinem Handy gefilmt, wie ein älterer Mann unter einem umstürzenden Polizeipferd begraben wird, in einer Endlosschlaufe. Er, der Nachrichten hasste, war nun landesweit die Nachricht des Abends. Das Einzige, was fehlte, war, dass eine sonore Stimme das Ereignis kommentiert hätte.
Als Ernesto Torrini am 28. August 2026 das zweite Mal erwachte, war Michal nicht im Krankenzimmer. Netanyahu stand gerade vor Gericht, der Likud hatte sich gespalten, Iran bestritt auf’s Heftigste, einen unterirdischen Atombombentest durchgeführt zu haben, die Schweiz diskutierte die Auslegung ihrer Neutralität und die Russen versuchten gerade, die 2024 verlorene Krim zurückzuerobern.
Ernestos Kinder aus erster Ehe, Toni und Arlette, sassen an seinem Bett, überglücklich, ihren Vater, der dreieinhalb Jahre als vermisst gegolten hatte, zurückzuerhalten. Sie waren unverzüglich aus der Schweiz angereist, nachdem das Spital sie benachrichtigt hatte. Es hatte sich durch eine Verkettung von für Michal unglücklichen administrativen Abläufen herausgestellt, wer Ernesto war und dass sie ihn gar nicht kannte, jedenfalls hatte sie nie mit ihm zusammengewohnt. Sie hatte sich spontan als seine Frau ausgegeben und war nach dem Unfall mit in die Ambulanz gestiegen. Nachdem alles herausgekommen war, durfte sie ihn nicht mehr besuchen.
Ernesto erholte sich nie mehr richtig. Er sass im Rollstuhl und das Sprechvermögen erlangte er nicht mehr. Jedenfalls sprach er nicht. Es war unklar, was er noch wusste, und was nicht, woran er sich erinnerte und woran nicht. Schriftlich kommunizierte er sehr knapp, meist einsilbig, auf einem kleinen Block, den er stets auf seinem Schoss hatte.
„Durst“
„Toilette“
*Rücken kratzen“
Auf Fragen, mündlich oder schriftlich, reagierte er nicht. Nur ein einziges Mal, als die Frau von der Spitex, die sich tagsüber um ihn kümmerte, ihn eines Abends, bevor sie ging, fragte, ob er noch etwas brauche, schrieb er auf seinen Block das Wort „Orchideen“.
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