Superman im Sumpf

(ein verspäteter Beitrag zum 4. Juli, Namenstag von Hatto dem Haderer)

Katzensee, Blick vom Strandbad (Dominik Eichelberg)

Im August 1972, einen Monat vor dem Attentat auf die israelische Olympiamannschaft in München, lag ich in Affoltern am Katzensee am Badeplatz, der damals noch kein Strandbad mit Kiosk und Umkleidekabinen war, im Gras, das damals noch keine Liegewiese war, und las in einem Superman Heft, der damals schon ein Held war.

Genau genommen lag ich nicht im Gras, sondern auf meinem Badetuch, einem grossen, verwaschenen, weinroten Frottiertuch, in dessen Ecke der Schriftzug „Ursulé“ eingestickt war. Ich hatte es von meiner Tante Ursula erhalten, der Lieblingsschwester meiner Mutter, die ihr Stiefvater mit in die Ehe gebracht hatte, und die meine Lieblingstante wurde.  

Ich war vierzehn Jahre alt und hatte mit Hilfe meiner Mutter gerade meine erste Auslandbestellung erfolgreich getätigt. Der Ehapa Verlag hatte mir gegen Vorauszahlung aus Berlin zwei vollständige Jahrgänge der Superman-Hefte geschickt, und am nächsten schulfreien Mittwochnachmittag packte ich ein halbes Dutzend davon zusammen mit meinem Ursulé-Badetuch, einer roten Plastikflasche mit Schraubverschluss gefüllt mit Wasser und einer Packung Schoggischümli in meine Badetasche, hängte sie mir um die Schulter und fuhr mit meinem Puch Velux von Höngg über den Hügel an den Katzensee.

Es war wie stets unter der Woche nur eine Handvoll Leute da, und ich legte mein Badetuch in die Nähe des Sumpfloches, was ich am Wochenende, wo rund um das Sumpfloch immer viel los war, nie getan hätte, nahm die Schoggischümli, die Trinkflasche und die Supermanhefte aus meiner Badetasche und begann zu lesen. Viel schöner konnte ein Mittwochnachmittag im Sommer nicht sein: baden, Supermanhefte lesen und Schümli essen.  

Mir leuchtete völlig ein, dass Superman sich nicht auf eine Beziehung mit Loise Lane einlassen konnte. Hätte er das getan, wäre er verletzlich und angreifbar geworden, und alle seine Superkräfte hätten nicht ausgereicht, um Loise zu beschützen und gleichzeitig Jagd auf Verbrecher zu machen. Clark Kent hätte vielleicht ein Verhältnis mit Loise haben können, aber ihn wollte sie nicht.  

Nachdem ich mich ein erstes Mal im See abgekühlt hatte, indem ich ans andere Ufer und zurück geschwommen war, ging ich zum Schlammloch und tat etwas, was ich noch nie gewagt hatte: ich stieg hinein. Das Schlammloch war ein sumpfiges Loch von etwa sechzig Centimeter Durchmesser, gefüllt mit dunklem, fast schwarzem Schlamm. Mutige (oder ahnungslose?) Männer und Frauen liessen sich am Wochenende jeweils darin absinken, bis nur noch ihr Kopf und ihre Arme rausschauten, mit denen sie sich am Rand des Lochs festhielten, und ich hatte mich immer gefragt, ob ihre Füsse festen Boden berührten oder ob das Loch sie jeden Moment verschlingen konnte.

Ich liess mich nur so weit absinken, dass ich mich mit den Ellbogen noch am Rand des Lochs aufstützen konnte. Mich weiter absinken zu lassen, wagte ich nicht. Was, wen es wirklich keinen festen Boden gab? Ich bekam es bei diesem Gedanken mit der Angst zu tun und der Schlamm fühlte sich mit einem Schlag noch kälter an, als er sonst schon war. Ich versuchte mich aus dem Loch zu hieven, aber es ging nicht. Die Kraft meiner Arme reichte gerade noch aus, um mich nicht weiter absinken zu lassen.

In diesem Moment kam ein Mann auf die Wiese gerannt und aus dem Wald hörte man fernes Hundegebell. Mir war augenblicklich klar, dass er ein entflohener Sträfling aus der nahen Strafanstalt Regensdorf sein musste. Der Mann schaute sich um und rannte dann direkt in den See, wo er nach einigen Schwimmzügen untertauchte. Ich fragte mich, wo er wieder auftauchen würde, als plötzlich ein Mann vor mir stand und mich in gehässigem Ton anzischte: „Wegen Dir kann ich mich nicht umziehen, Du kleiner Idiot. Wegen Dir wird er entwischen!“

„Clark…?“ sagte ich, „Clark Kent?“

Offenbar hatte er sich im Sumpfloch umziehen wollen, denn es gab damals weder eine Umkleide- noch eine Telefonkabine am Katzensee. „Es tut mir leid“ stammelte ich, und versuchte wieder, mich aus dem Sumpfloch zu befreien, aber auch diesmal ohne Erfolg. Clark Kent drehte sich um und ging zu seinem Badetuch zurück. Während er es hastig einrollte und seine Sachen packte, kam das Hundegebell näher, und im Moment, als er auf den Waldweg einbog (wo waren die anderen Badegäste?), sprengte am anderen Ende der Wiese ein Rudel Hunde aus dem Dickicht auf die Lichtung und zog den seltsam gekleideten Hundeführer direkt zur Stelle am Ufer, an der der Flüchtende in den See gerannt war.    

Wer nie eine Abenddämmerung am Katzensee erlebt hat, als er noch ein See ohne Strandbad war, weiss nicht, wie schön eine Abenddämmerung sein kann. Ich habe viel später einmal ein Gedicht geschrieben, das eine wassernde Ente erwähnt, die dem Schilf seine Nacht bringt. Diesmal hatte ich allerdings kein Auge für diese unermessliche Schönheit, und noch weniger konnte ich mir erklären, wie es so plötzlich Abend geworden war.

Ich musste mich aus dem Sumpfloch befreien, bevor der bärtige Mann aus dem 6. Jahrhundert vor Christus mit seiner Hundemeute wieder aus dem See stieg, aufgebracht, weil ihm der Fliehende entkommen war, denn entkommen war er. Mit meinem Superblick konnte ich ihn in einer Höhle in Kappadokien sehen, wo er sich mit anderen Christen vor den Römern versteckte. Oder waren es Hethiter, die mit ihm ums Feuer sassen, dessen Rauch die unterirdische Stadt durch eine raffinierte Lüftung verliess? Er musste ertrunken sein.

Irgendwann schaffte ich es dann, mich aus dem Sumpfloch zu befreien. Ich wusch mir im See in aller Eile den Schlamm vom Leib, zog meine Kleider an und fuhr nachhause, wo mich meine Mutter voller Angst erwartete. “Was meinst Du eigentlich, so spät nachhause zu kommen? Ich habe mir Sorgen gemacht, was wohl passiert sei!“ Und ich wagte es nicht, ihr zu erzählen, was alles passiert war. Sie wusste nicht, dass es Superman tatsächlich gab und dass Clark Kent nur ein paar Jahre älter war als sie.

Auch ich wusste als Vierzehnjähriger vieles, um nicht zu sagen fast alles nicht. Ich wusste nicht, dass Goebbels einmal gesagt hat, Superman sei ein Jude, und dass Supermanhefte im Kalten Krieg in der Sowjetunion und ihren Satellitenstaaten verboten waren. Ich wusste nicht einmal, dass die beiden Katzenseen nichts mit Katzen zu tun haben. Weder im oberen noch im unteren Katzensee wurden mehr Katzen ertränkt als in irgendwelchen anderen Seen.

Die Katzenseen verdanken ihre Existenz offenbar einer eiszeitlichen Moräne, die sie mit bewunderungswürdiger Ausdauer noch heute staut, und ihren Namen dem Alemannen Hatto, nach welchem sie im 6. oder 7. Jahrhundert benannt worden waren. Im unstabilen Ried, wo fester Boden fehlt, verschob sich das «H» mit der Zeit zu einem «K», womit der See zum Katto-, später zum Katten- und endlich zum Katzensee wurde.

Der Name Hatto war im Frühmittelalter im deutschen Sprachraum weit verbreitet. Wenn man die Pfarrbücher durchforsten würde, wozu mir gerade die Zeit fehlt, liesse sich wahrscheinlich feststellen, dass in jenen fernen Jahrhunderten jeder Zweite oder Dritte Hatto hiess.

Es gingen zum Beispiel zwei Männer in einem kleinen Dorf auf dem Lande aneinander vorüber und der eine sagte in modernem Deutsch, das erst viel später zum Althochdeutsch abgekanzelt werden sollte: „Hallo Hatto – wie geht es Dir?“, worauf der andere erwiderte: „Danke, gut, und Dir, Hatto?“. Beobachtet wurde diese vorübergehende Begrüssung durch zwei Männer, die sich im Schatten des Vordaches einer Schuhmacherwerkstatt unterhielten und sich ihrerseits im Blickfeld des Schuhmachers befanden, der im Innern bei seinen Leisten geblieben war, und von denen keiner, auch der Schuhmacher nicht, Hatto hiess. 

Hatto soll, wenn man den Ethymologen glauben will, die Kurzform eines althochdeutschen Namens sein, der aus hadu „Kampf“ und einem weiteren, unbekannten Bestandteil zusammengesetzt war. Als Beispiele für den zweiten Teil des Namens nennen die Ethymologen Hadubrand, Hadbert und Hadwin, und ich möchte diesen Beispielen, wenn ich darf und weil es so schön klingt, noch Hadlaub und Hadumant hinzufügen.

Auch wenn es müssig scheint, hier über den unbekannten Bestandteil des Namens Hatto weiter nachzudenken (vor allem, solange wir nicht wissen, ob wir uns nun im 6. oder 7. Jahrhundert befinden – wie kann man nur so ungenau sein), dessen Kurzform Hatto sein soll, kann ich es nicht ganz lassen. Könnte Hatto ungekürzt Haduheidan geheissen haben, und wenn ja, wäre er dann Kämpfer gegen die Heiden oder kämpferischer Heide gewesen?

Aus hadu hat sich später offenbar hadern abgeleitet. Vielleicht haderte Hatto ja auch, als er den beiden Seen seinen Namen geben sollte, gerade mit sich selber, ob er Christ werden oder Heide bleiben sollte. Beides hatte vor und Nachteile, gewiss, aber Hatto fragte sich auch, ob er wählen müsse, bloss weil er wählen konnte. Er dachte an all die Menschen, die in den vielen Jahrhunderten gelebt hatten, denen das Attribut vor Christus angehängt wird, als wäre alles nur ein Vorspiel gewesen und sie hätten damals die ganze Zeit nichts anderes gemacht als auf jemanden zu warten, über dessen spätere Ankunft sie niemand informiert hatte.

Hatto zauderte, Hatto zögerte, Hatto haderte mit sich selber, und das einzige, wozu er sich schliesslich hergab, war, dass man die beiden kleinen Seen, aus denen der Nebel aufstieg, nach ihm nannte. „Wenn ihr unbedingt wollt,“ sagte er seinem Stamm, „wenn es euch Freude bereitet, dann nennt diese beiden Seen Hattos Seen, aber ich sage euch: in diesem Moor wird nichts lange so bleiben, wie es ist. Alles bewegt sich auf diesem unsicheren Grund – auch der Name der Seen wird sich ändern, und die Erinnerung an ihre Taufe wird im Nebel verschwinden, gib oder nimm ein Jahrhundert.“      

Heute steckt der Katzensee, der über keinen oberirdischen Zufluss verfügt, mitten im Prozess der Verlandung. Wahrscheinlich verlandet er schon seit dem 6. (oder 7.) Jahrhundert, aber bis vor Kurzem (aus Sicht der Moräne) sprach niemand von Verlandung. Die beiden kleinen Seen wurden einfach kleiner.

Irgendwann werden der untere und der obere Katzensee verschwunden sein (und mit ihnen das Flachmoor und das Hochmoor, die sich hier beispielhaft gebildet haben), und die standhafte Moräne wird niemanden mehr haben, den sie stauen kann. Ich mache mir jetzt schon Sorgen um sie.

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