Zurückgelassen

Wo das Ganze mehr war als die Summe seiner Einzelteile, sind diese, wenn es zerfallen ist, weniger als sie selbst. Beim Hauptbahnhof in Bern, am Rande der Fussgängerüberführung bei der Schanzenpost, von der aus man zu den einzelnen Geleisen hinabsteigen kann, steht am Abend oft ein Indio und spielt auf seiner Flöte, während der Strom der Reisenden in beiden Richtungen an ihm vorüberzieht. Er hat sich im vergangenen Mai zum ersten Mal in mein Bewusstsein gespielt.
Er trägt einen traditionellen Umhang, ist klein, nicht mehr jung und verströmt eine Einsamkeit, die mich nachhause begleitet. An seinen Händen fallen, schon damals im Mai, schwarze, fingerlose Wollhandschuhe auf, die der Beweglichkeit seiner Finger abträglich sein müssen. Vor ihm liegt irgendein Gegenstand am Boden – eine Mütze, ein Schal, ein Gefäss – der die von den Passanten gespendeten Münzen aufnehmen würde.
Was er spielt, sind nicht die üblichen Weisen, die wir von einem Flötenspieler aus den Anden erwarten, der auf einem Bahnhof den Passanten musiziert. Es sind keine ganzen Lieder, nicht einmal zusammenhängende Teile einer Melodie, die uns an vermeintlich Bekanntes erinnern könnten. Es klingt im Vorübergehen wie zufällige Bruchstücke halbvergessener Passagen, denen, um Melodie zu werden, der Klang der anderen Instrumente fehlt, die seine abwesenden Gefährten früher spielten. So etwa, als hörte man von einem Sinphonieorchester lediglich den Triangel.
Wieviel schmerzloser wäre es, spielte auch er El Condor pasa. Wieviel leichtfüssiger gingen wir an ihm vorüber, würde nicht alles an ihm, sein Gesicht, sein seltsames Flötenspiel, seine fingerlosen Handschuhe, nach seinen Gefährten rufen, mit denen er vor Jahren nach Europa gereist war und damals spielend soviel Münzen sammelte, dass es jeden Abend für ein warmes Essen reichte.
Spräche man Spanisch, man würde ihn nicht fragen mögen, wo die anderen jetzt sind. Ob er sie durch Zufall verloren hat, ob sie ihn absichtlich zurückgelassen haben, weil seine klammen Finger die Melodien zu vergessen begannen. Es ist so klar wie die Sonne der Anden, die ihm hier fehlt: Er kann im Strom der Passanten stehen und musizieren, bis ihm sein Umhang auf den krummen Schultern zerfällt – sie kommen nicht wieder. Er spielt völlig umsonst.

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