„Gab es so etwas früher, ich sage einmal vor etwa 150 Jahren, auch schon einmal?“
Die Frage stammt aus einer heute früh gehörten Radioreportage über das dieses Jahr besonders starke Schmelzen der Gletscher in den Schweizer Alpen.
Die Antwort lautete, und ich war total überrascht:
„Vor 150 Jahren gab es bereits einmal ein ähnliches Phänomen, im Anschluss an eine sogenannte kleine Eiszeit…blah blah blah…“
Ich habe glatt den Rasierpinsel fallen gelassen vor Verblüffung. Der Reporter stellt eine Frage, auf die der Interviewpartner die exakt passende Antwort bereithält. Als ob der Reporter die Antwort vorausgeahnt hätte, die doch, so scheint mir, beträchtliche Fachkenntnisse voraus setzt. Ist er vielleicht Hobby-Glaziologe?
Eigentlich ist er doch der, der stellvertretend für uns Radiohörer einem Experten die Fragen stellt, damit wir unser Wissen erweitern können. Wie kann er bloss bereits gewusst haben, dass gerade vor 150 Jahren… ich meine… also wirklich! Ein kleines Wunder. Und in jüngster Zeit ein sehr häufiges am Schweizer Radio. Die wissenden Reporter, die mit ihren unglaublich genau gezielten Fragen ihren Interviewpartnern die Möglichkeit geben, genau die passenden Antworten zu geben. Toll!
„Frau Professor Welldall, haben die neusten Bilder vom Planet Pluto eine – ich rate jetzt Mal ins Blaue hinaus – besondere Häufung von steilen Eisbergen zu Tage gebracht?“
„Die Wissenschaftsgemeinde ist in der Tat völlig verblüfft ab dem vielen Eis, das sich in bizarren Formen…“
„Und hat dieses viele Eis vielleicht auch einen Nachteil…?“
„Da legen Sie den Finger auf einen wichtigen Punkt, der grosse Nachteil des Eises ist (neben seiner Kälte)….“
OK, man weiss, oder man kann es sich als Laie zumindest gut vorstellen, wie diese aufgezeichneten Interviews zustande kommen. Die Reporter müssen dem Interviewten die Fragen zur Genehmigung vorlegen, oder sie kriegen vom Interviewten Fragen suggeriert, die sie dann stellen dürfen, weil der Interviewte nur sie (und nicht andere) beantworten kann oder will.
Was dabei steril und lächerlich wirkt, ist, wenn die Reporter so tun, als stellten sie tatsächlich Fragen, und dann wird durch die Art ihrer Fragen, die keine Fragen sind, sondern Steigbügel oder Steilpässe in den Fünfmeterraum, jedem halbwachen Deppen, der beim Rasieren Radio hört, klar, dass der Reporter seine Fragen erst ausformuliert hat, als er die Antworten schon kannte, dieses schlaue Kerlchen.
„Herr Professor Blattlauz, könnte es unter Umständen sein, dass dieser Käfer eine ganz besondere Fähigkeit hat, zum Beispiel bezüglich des Verschiebens von Lastkraftwagen an Sandstränden?“
„Dieser Käfer kann in der Tat einen voll beladenen Sattelschlepper mit zwei seiner acht Vorderbeine über eine Distanz von 380 Metern schleppen, während er sich rückwärts kriechend mit zwei weiblichen Exemplaren seiner Gattung paart, die er erst kurz davor zufällig kennengelernt hat.“
Wer genau soll bei dieser stupiden Inszenierung verarscht werden? Soll die beruhigende Illusion vermittelt werden, dass unter uns Experten sind, die auf alle Fragen eine Antwort wissen? Oder- eine noch kühnere Vermutung – will man uns weis machen, dass unsere Reporter echt klug sind, indem sie nach kurzen Recherchen in jedem beliebigen Gebiet genau die richtigen Fragen stellen, die dann zu interessanten und wirklich wissenswerten Antworten führen?
Der Volksmund sagt, es gebe keine dummen Fragen, nur dumme Antworten. Die Interviewkultur am Schweizer Radio legt den Schluss nahe, dass sich der Volksmund mal wieder mit dem Volksohr unterhalten müsste, das sich all diese bekloppten Interview-Fragen anhören muss.
„Frau Dr. Malgut Hörguthin vom Medieninstitut Heilbronn: Kann es sein, dass diese Fragen in den allermeisten Fällen (vermutlich mehr als 99%) so gestellt werden, dass genau die passende Antwort erfolgt?“
„Auswertungen von 260‘000 aufgezeichneten Radio-Interviews über die letzten 15 Jahre haben tatsächlich ergeben, dass nur in 0,0036% aller Fälle die Antwort überhaupt nichts mit der Frage des Reporters zu tun hatte. Im einem der beiden Fälle war der Interviewpartner eine fiktive Person, die andere Reportage wurde nie ausgestrahlt.“
Mein Tipp an die Radioleute wäre, dass ab und zu auch in einem aufgezeichneten Interview eine Frage eingestreut wird, auf die der Interviewte Experte keine genau passende Antwort hat.
„Wann fanden im während der Regenzeit schwer zugänglichen Teil von Süd-Polynesien die letzten regionalen Vorausscheidungen für die olympischen Titelkämpfe im freihändigen Scherenschnitt statt?“
„Das weiss ich nicht.“
„…überhaupt nicht?“
„Nein.“
Oder wo der Gefragte nachfragen muss, wie die Frage gemeint war, weil er nicht verstanden hat, was der Reporter genau wissen wollte.
„Wie alt ist ihre Schwester?“
„Meinen Sie meinen Bruder?“
„Könnte man sagen, es sei gefährlich, die Dinge in ein Schwarz-weiss-Schema zu pressen?“
„Wie meinen Sie das genau?“
„Gut gegen Böse…“
„Worauf wollen Sie hinaus..?“
„Hänsel und Gretel…?“
„Ich habe keine Ahnng, was sie damit sagen wollen…“
„Lolek und Bolek?“
„OK, das reicht mir. Ich betrachte dieses Gespräch für beendet!“
„Schnee gegen Wittchen….?“
Irgendetwas, etwas Kleines würde schon genügen, irgendein Hinweis, der uns den Eindruck geben könnte, es hätte so etwas wie ein wirkliches Gespräch zwischen dem Reporter und dem Experten stattgefunden. Gebt uns irgendeinen Grund dafür, bitte, warum es die Fragen des Reporters braucht. Wenn sie alles im Voraus wissend von einer Aussage zur anderen führen, sind sie nicht nur absolut überflüssig, sondern auch ziemlich peinlich.
„Ist der Abendhimmel über Konkilpiti gleich wie jeder andere Abendhimmel oder können Sie uns von etwas ganz Besonderem berichten, was zum Beispiel fliegt?“
„Wirklich gut, dass sie mich das fragen. Der Abendhimmel über Konkilpiti ist im Gegensatz zu allen anderen Abendhimmeln hellgrün und es fliegen von hinten abbrennende Zebras von links nach rechts bevor sie praktisch ungebremst in eine abgefackelte Palme rasseln, diese dummen Tiere.“
Wenn jede Frage nur zeigt, dass der Fragesteller die Antwort schon kennt, kann man die Fragen ja auch weglassen und die kostbare Sendezeit ganz dem Experten zur Verfügung stellen. Ich will mir gar nicht vorstellen, wieviel sensationelle Erkenntnisse ich verpasst habe, wieviel wirklich Wissenswertes, was meinen Horizont erweitert hätte, weil ich mir stattdessen anhören musste, welch kluge Fragen die Reporter des Schweizer Radios stellen.
„Und wenn er den Sattelschlepper dann genügend lange durch den Sand gezogen hat, verscharrt er ihn mit seinen schaufelförmig ausgebildeten vorderen Seitenlaschen, die früher Kiemen waren, innert Kürze im Sand und legt sich dann auf der erstbesten Düne zu einem ausgedehnten Nickerchen nieder, von dem er erst wieder durch das Schreien seiner durchschnittlich 80-100 Kinder geweckt wird, die er während der Aktion gezeugt hatte. Er wird ihnen Eis und Strandspielzeuge besorgen und sich die nächsten vier Wochen, bis sie selber Lastwagen ziehen können, alleine um ihre Aufzucht kümmern müssen, denn die Weibchen des Cora Corazins erscheinen nur zur Paarungszeit und verbringen den Rest ihres kurzen Lebens in kleinen Dachmansarden in Vororten von Paris, wo sie alte Modemagazine lesen und einander über ein erst unvollständig erforschtes Kommunikationssystem den ganzen Tag Kurzmitteilungen senden.“
„Vor 150 Jahren waren die Gletscher nicht nur grösser, sondern auch bis zu anderthalb Jahrhunderte älter als heute. Es gibt deshalb nicht wenige in der rasch schmelzenden Gemeinde der Glaziologen, die überzeugt sind davon, dass sich an den Alpengletschern mit grosser Exaktheit ablesen lässt, wieviel älter sie vor 150 Jahren waren, und zwar nach der sogenannten Altersbestimmungsformel von Professor Hans Erwin Lebenslang: Alter des Gletschers geteilt durch Anzahl rein rhetorisch gestellter Fragen pro Interview multipliziert mit irgendetwas sehr Grossem, weil man das Resultat sonst von blossem Auge nicht sehen könnte, vor allem dann nicht, wenn man hinter einer Hausecke steht und gerade auf seine Sonnenbrille getreten ist, die einem beim Bücken nach dem Sinn des Lebens aus der Hemdtasche gefallen ist.“
„Vielen herzlichen Dank Herr Professor für dieses hoch interessante Gespräch.“
„Das war gar kein Gespräch, das war ein Monolog…“
„War trotzdem sehr interessant…“
„Wieso trotzdem? Warum nicht erst recht?“
„Ach Sie wissen schon, wie ich es meine.“
„Nein.“
„Dann halt nicht. Ich gebe zurück ins Studio.“
„Was für ein Studio? Ich war noch nie in einem Studio. Schon gar nicht mit Ihnen.“
„Ich gebe zurück auf den Planeten Pluto.“
„Sind Sie jetzt völlig durchgedreht?“
„Tango Bravo. Over and out…!“
(Kratzgeräusche, dann sphärisches Rauschen das bis zur Preisverleihung andauert)
3. August 2015 um 13:12
Lieber „Käptän“immer sehr interessant Deine Beiträge – habe die Brücke wieder einmal gewechselt – bin jetzt bei André – Liebe Grüße vom Big Apple
Schau mal vorbei auf einen Proseco
Herzlich
Schnee…….chen
Hansjörg Meier
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