– ein Plädoyer für Röhrenbildschirme
Vor ungefähr drei Wochen ist mir ein erster Satz für eine Kurzgeschichte in den Sinn gekommen. Ich habe ihn mir notiert, wie ich das mit vielversprechenden Sätzen immer mache, damit ich ihn nicht vergesse, aber die Geschichte, deren Anfang er sein könnte, habe ich noch nicht begonnen. Der erste Satz lautet: „Am nächsten Tag hat es geregnet.“
Er wird, wenn je mehr wird aus ihm als ein Satz, der ein Anfang hätte sein können, der Anfang einer kurzen Geschichte werden, in der irgendetwas passieren wird, nichts Spektakuläres, vermute ich. Etwas, was man jetzt überhaupt noch nicht wissen kann, auch ich nicht.
Der einzige Vorsprung, den ich habe, ist, dass ich es herausfinden könnte, weil mir der Satz in den Sinn gekommen ist, indem ich mit Schreiben beginne. Aber diesen kleinen Vorsprung, den ich theoretisch hatte, habe ich nun gerade preisgegeben.
Sie können die Geschichte jetzt auch schreiben. Ich lade Sie sogar dazu ein, denn der erste Satz gehört mir nicht. Kein Satz gehört jemandem (mit Ausnahme von ein paar Gedichtzeilen, die eindeutig Rilke gehören).
Sie werden, falls sie mit dem Satz „Am nächsten Tag hat es geregnet“ beginnen, allerdings einer anderen Geschichte auf die Spur kommen als ich, falls ich den zweiten und dritten Satz je schreibe. Die einzige Gemeinsamkeit unserer Geschichten wird sein, dass sie kurz sein werden. Es kann nicht einen Roman lang durchregnen. Schon eine Novelle wäre am Ende völlig durchnässt.
Etwa zur selben Zeit, als ich mir den Satz notierte, es dürfte, wie bereits erwähnt, nun etwa drei Wochen her sein, habe ich einen neuen Bildschirmschoner auf meinem Computer installiert. Es ist ein Bild aus Google Earth, auf dem man ein Haus in Potomac, Maryland, sieht.
Obwohl es eine Luftaufnahme ist, sieht man nicht viele andere Häuser, dafür viel Grün und viele Bäume, denn der Partridge Run, von dem die Partridge Lane abbiegt, ist eine Nebenstrasse, die durch eine dünn besiedelte Landschaft führt.
Das Haus hat viel Umschwung, einen freistehenden Schopf („shack“ nennen sie das) mit angebautem Autounterstand und einen Tennisplatz, neben dem ein kleiner Pavillon steht. An den farbigen Bäumen erkennt man leicht: es ist Herbst.
Das Bild zeigt einen Ort der Vergangenheit. Wie es Orte der Gegenwart gibt, weil man sich gerade da aufhält (während andere anderswo sind) und Orte der Zukunft, weil man meint, was ja immer ein wenig vermessen ist, annehmen zu dürfen, man werde irgendwann einmal selber dort sein (vorzugsweise wenn die anderen wieder weg sind), gibt es Orte der Vergangenheit.
Das sind Orte, an denen sich in der Vergangenheit Leben abgespielt hat, an dem wir beteiligt waren. Natürlich haben diese Orte auch eine Gegenwart (ausser sie seien für immer und von allen verlassen worden), aber für jemanden, der vor langer Zeit dort war und nie mehr zurückgekehrt ist, ist sie ebenso irrelevant wie ihre Zukunft.
„Weiss einer von euch…“, fragte Roemer, (wir waren in einem hart umkämpften Doppel und als er den Ball zum Aufschlag hochwarf, sah er einen Vogelschwarm, der den Platz in einiger Höhe in einer V-Formation überflog. Er fing den Ball mit der Hand auf und fragte uns) „…warum der eine Arm, wenn Vögel in einer V-Formation fliegen, länger ist als der andere?“
„Wegen dem Wind?“, versuchte sich Jay.
„Weil auf der einen Seite Weibchen und Jungtiere fliegen?“, tippte Harry.
„Nein“, sagte Roemer. „Weil dort mehr Vögel fliegen.“
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In den ersten Jahrzehnten des Computerzeitalters hatten die Bildschirmschoner die Aufgabe, das System, wenn eine bestimmte Zeit lang keine Taste gedrückt wurde, in eine Art Ruhezustand zu versetzen, um Strom zu sparen. Das mit dem Stromsparen beeindruckte mich damals aber nicht. Mir machte die andere Funktion des Bildschirmschoners viel mehr Eindruck.
Bei den damals üblichen Röhrenbildschirmen gab es, so erklärte man uns, das Problem, dass sich ein ruhendes Bild nach einer gewissen Zeit in den Bildschirm einbrennen konnte. Die Bildschirmschoner (bei denen damals wechselnde Graphiken oder Bilder über den Bildschirm wanderten), verhinderten das angeblich.
Ich stellte mir das immer sehr dramatisch vor, dieses Einbrennen. So ähnlich wie beim Vorspann zu „Bonanza“, wo sich zur Titelmelodie plötzlich Flammen durch einen Lageplan mit der Ponderosa frassen.
Nur dass danach nicht Lorne Greene und seine drei Leinwandsöhne durch das Brandloch geritten kämen, sondern der Computer im Eimer wäre, in den man ihn hätte werfen müssen, weil er in Flammen stand.
Diese Gefahr besteht seit langem nicht mehr. Flachbildschirme haben seit den 2000er Jahren die Röhrenbildschirme ersetzt und Bonanza ist längst aus den Fernsehprogrammen verschwunden. Wozu installiert man also heute noch einen Bildschirmschoner, wenn sich kein Bild mehr einbrennen kann und Strom über die Energie-Einstellungen des Computers gespart wird? Als ich Google fragte, erschien unter „Andere fragten auch“: „Was bringt sich ein Bildschirmschoner?“
Die Frage ist nicht in fehlerhaftem Deutsch gestellt, wie ich zuerst meinte, sie ist genial, denn sie bringt es auf den Punkt: Dem Computer bringt der Bildschirmschoner nichts mehr. Er dient heute nur noch der Unterhaltung, und weil wir, wenn der Bildschirmschoner aktiv wird, nicht vor dem Computer sitzen und hinschauen, unterhält er sich offenbar selber. Was ihm das bringt, ist eine Frage, auf die er wahrscheinlich eine Antwort weiss, die er nicht mit uns teilt.
Den Pavillon neben dem Tennisplatz benutzten die Spieler, die gerade nicht auf dem Platz standen, um Kaffee zu trinken, den wir uns aus Roemers Küche holten, um Zeitung zu lesen und um miteinander zu reden. Das Ganze hiess ja auch „Potomac Tennis and Conversation Club“. Wir spielten einen Satz Doppel und wer verlor, ging vom Platz, sofern andere Spieler da waren. Sonst wechselte man einfach die Seiten.
Arthur und ich waren mit Abstand die Jüngsten, beide um die vierzig. Dann kamen Michael und Richard, der mich in den Club eingeführt hatte, wofür ich ihm dankbar sein werde, bis Hoss wieder reitet.
Sie waren damals wohl zwischen 50 und 60, Michael und Richard. Michael war der einzige, der mit einiger Verbissenheit bei der Sache war und sich jedes Mal hasste, wenn er einen Aufschlag neben die Linie setzte. Obwohl er eigentlich hätte stolz sein müssen, denn er war der einzige Spieler, der wirklich einen Aufschlag hatte.
Der Gastgeber, Roemer McPhee, ein wunderbarer Mensch, war damals um die 70. Er war Ende der 50er-Jahre Berater von Präsident Eisenhower gewesen. In seiner Küche hingen alter Fotografien, auf denen man ihn mit drei republikanischen Präsidenten sah.
Harry, Jay und Compton waren ungefähr in seinem Alter. Ach ja, da war auch noch Frank, von unbestimmtem Alter, der ein wenig wie Jack Nicholson aussah, aber er tauchte eher selten auf, wahrscheinlich wegen den Dreharbeiten.
Die Regel war die, dass am Samstag- und am Sonntagvormittag gespielt wurde, und zwar das ganze Jahr hindurch, rain or shine. Man konnte kommen ohne Anmeldung, was besonders angenehm war, weil man nicht planen musste, und es waren praktisch immer mindestens vier Spieler da, öfter sechs oder sieben und ab und zu, ganz selten, auch acht.
Im Winter nahm man zuerst einen Kaffee und schaufelte dann zur Musik von Jimmy Durante, die aus den Aussenlautsprechern vom Haus herüberdrang, den Platz frei.
You must remember this, a kiss is just a kiss, a sigh is just a sigh… the fundamental truth ist this, as time goes by. Natürlich stammen die meisten Lieder, die Durante sang, nicht von ihm, aber für mich sind es seit diesen Vormittagen auf dem Tennisplatz seine Songs und ich verzichte dafür gerne auf die Originale, die mir nichts bedeuten: ich kann mit ihnen nicht reisen.
Durante, Sohn eines aus Italien in die USA eigewanderten Friseurs, war zweimal langjährig verheiratet. Das erste Mal bis zu ihrem Tod und das zweite Mal bis zu seinem. In seinen Radio-Shows und manchmal auch am Ende seiner Konzerte verabschiedete er sich mit den Worten: „Goodnight Mrs. Calabash, wherever you are“.
Es herrscht offenbar die Meinung vor, er wende sich damit an seine erste Frau, mit der er bis zu ihrem Tod in Calabasas, Kalifornien wohnte. Andere glauben zu wissen, der Gruss zur Nacht ginge an eine Bedienung, die Durante 1940 im kleinen Ort Calabash, South Carolina, auf der Durchreise kennengelernt hatte. Wer immer sie gewesen sein mag – Mrs. Calabash, die er geliebt haben muss, war für Jimmy Durante nicht mehr erreichbar.
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Es ist nun nicht so, dass es Röhrenbildschirme nicht mehr gibt. Sie wurden lediglich von den Flachbildschirmen verdrängt, so wie allgemein viel Altes von Neuem verdrängt wird. Wobei man in diesem Fall zugeben muss, dass die Vorteile der Flachbildschirme (dass sie anstatt schwer und sperrig leicht und flach sind wie ein Fenster oder ein Bild) gegenüber ihren Nachteilen klar überwiegen. Denn auch Flachbildschirme habe Nachteile – die Vorteile der Röhrenbildschirme.
Röhrenbildschirme haben eine vom Betrachtungswinkel fast völlig unabhängige Farbdarstellung und sie haben eine, man staunt, schnellere Reaktionszeit als Flachbildschirme. Selbst modernste LCD-Bildschirme haben im Vergleich noch immer ein minimales Problem mit der Trägheit und einer damit einhergehenden Unschärfe des Bildes.
Ein Nachteil des Röhrenbildschirms war hingegen das Nachleuchten des Bildschirms, was jedoch nur bei direkten Wechseln auf Schwarz und in abgedunkelten Räumen aufgefallen sei. Dieses Nachleuchten konnte dazu führen, dass man das vorhergehende Bild noch ein bis zwei Sekunden erkennen konnte.
Es gibt Orte der Vergangenheit, und es scheint mir nicht völlig unmöglich, dass es an diesen Orten auch die Vergangenheit noch gibt. Man kann sie nur mit Google Earth und Flachbildschirmen nicht sehen. Ich ziehe deshalb ernsthaft in Betracht, mir einen Röhrenbildschirm zu besorgen. Einen schweren, grossen, der ungemein viel Abstellfläche braucht und Strom frisst wie ein alter Kühlschrank.
Ich könnte damit die herbstlichen Farben der Blätter der Bäume der Partridge Lane besser sehen, und zwar aus jedem Winkel meiner Gegenwart. Ich sässe in einem abgedunkelten Raum und wenn das Bild am Ende auf Schwarz wechseln würde, sähe ich für eine oder zwei Sekunden das vorhergehende Bild: Roemer, Compton, Harry und mich, wie wir an einem sonnigen Samstagmorgen im Oktober 1996 mit unseren Rackets auf den Platz schlendern, begleitet von Jimmy Durantes „Young at Heart“.
10. Oktober 2020 um 14:50
Das kann nur die Literatur: die Zukunft („am nächsten Tag“) und die Vergangenheit („hat es geregnet“) in einem Satz widerspruchsfrei zusammenbringen. Walter empfiehlt für heutiges und künftiges Erinnern einen Röhrenbildschirm – sein Nachleuchten ist immer JETZT, und in diesem Jetzt ist Erinnern möglich, auch künftig – wenn man den Röhrenbildschirm, das gute alte Teil, nicht in der Vergangenheit verschwinden lässt. Danke, lieber Freund, einmal mehr für einen schönen, klugen Text (1995 war es, da sind wir zusammen in Eurem Haus in Potomac gesessen, haben Musik gehört und geredet für eine Nacht).