Halil te Kepl

(die Geschichte von Wilhelm, dem kleinen Eroberer)

Prolog

Man sagt, kleine Menschen hätten einen besonders grossen Geltungsdrang. Das ganze Leben drehe sich bei ihnen einzig und allein darum, von den grösseren Menschen wahrgenommen zu werden, und dieses unablässige Streben nach Beachtung mache die einen zu besonders guten und die anderen zu besonders bösen Menschen. Das ist ganz bestimmt falsch so, weil es wohl den einen oder anderen kleinen Menschen zutreffend beschreiben mag, der grossen Mehrheit der Kleinen aber ebenso wenig gerecht wird, wie das  Bild vom sanften Riesen zur Beschreibung der Mehrheit der grossen Menschen taugt.

Es hat zwar in der langen Geschichte der Menschheit ab und zu einen bösartigen Kleinwüchsigen gegeben, der den unseligen Zwang verspürte, die halbe Welt unterwerfen zu müssen, und dem einen oder andern ist das ja auch fast gelungen; und wer ein wenig Glück hat, ist in seinem Leben auch schon einem sanften Riesen begegnet, der keiner Feige ein Lied antun konnte, aber die Welt ist voll von unauffälligen Zwergen und durchschnittlichen Riesen, die ein ganz normales Leben führen und weder besonders gut noch besonders böse sind, sondern einfach ein wenig kleiner oder grösser als der Durchschnitt, der vielleicht deshalb dazu tendiert, Zwerge und Riesen für besonders gut oder schlecht zu halten, weil ihm die stets spürbaren Grenzen seiner eigenen Durchschnittlichkeit keine andere Wahl lassen.

Der Mensch, von dem ich erzählen möchte, und ich werde meine ganze Sorgfalt aufbieten und alles, was ich an Respekt für die Menschen überhaupt in mir habe, um seine wunderbare Geschichte würdig zu erzählen, ich würde sogar zum Himmel beten, wenn ich auch nur die leiseste Hoffnung hätte, dass dort irgend etwas sein könnte, was mich erhören würde, dass es mir gelingen möge, diese Geschichte so zu erzählen, dass sie der einen Leserin in einem warmen Winkel ihres Gedächtnisses haften bleibt und sich der andere Leser wenigstens an einzelne Episoden oder Sätze erinnert,  die ihm ohne sichtbaren Anlass wieder in den Sinn kommen, denn der kleine Mensch, von dem ich erzählen will, hat den viel zu grossen Mantel des Schweigens, den sowohl die Geschichts- als auch die Märchenbücher um ihn gehüllt haben, nicht verdient. Er ist ihm zu gross, sein Stoff ist zu schwer und vor allem hüllt er ihn in eine Dunkelheit ein, die sein Totsein mit Angst erfüllt und seinen letzten Träumen, die die Brücke zu den Lebenden sein sollten, keine Luft zum Atmen lässt.

Der überaus kleine Mann, von dem ich erzählen will, ja erzählen muss, denn was anderes als eine Verpflichtung kann es sein, wenn ich um drei Uhr Nachts aufwache und nicht mehr einschlafen kann und einen sehr kleinen Mann vor mir sehe, fast einen Zwerg, der in einer Rüstung, wie sie die spanischen Konquistadoren trugen, an einem Sandstrand steht und diesen Strand und alles, was sich darauf bewegt – und es bewegt sich da einiges – mit einer staunenden Güte betrachtet, welche die üppigen Früchte, die schwer an den exotischen Bäumen hingen, sofort zur Reife gebracht hätte, wenn sie nicht schon fast überreif gewesen wären (einige lösten sich von ihren unter der Last gebeugten Zweigen und fielen in den Sand, noch bevor ich ganz wach war)  – dieser kleine Mann hat nicht nur den Mantel des Schweigens, von dem ich ihn endlich befreien möchte, nicht verdient, es wäre auch alles andere als gerecht gewesen, wenn man sich seiner mit einem der unschönen, oft spöttischen und in jedem Fall unverdienten Namen erinnert hätte, die ihm in seiner Zeit diejenigen angehängt hatten, deren gierige Hoffnungen er enttäuscht und deren hinterhältige Pläne er  durchkreuzt hatte.

Die einzigen, die sein Wesen ganz und richtig erfasst haben, waren jene Eingeborenen, denen er an diesem Tag im Spätherbst des Jahres 1501 staunend am Sandstrand in seiner massgeschneiderten Rüstung gegenüberstand, die ihm ein buckliger katalanischer Schmied angefertigt hatte, der kaum sprach und dessen Tochter, wenn er eine gehabt hätte, wunderschön gewesen wäre.

Diese Eingeborenen, von denen noch zu berichten sein wird, nannten ihn Halil te Kepl, was in ihrer Sprache „Herz auf zwei Beinen“ hiess, und glauben Sie mir, genau das und nichts anderes war dieser kleine Mann: ein Herz auf zwei Beinen, denn für anderes als sein unendlich grosses Herz konnte es keinen Platz haben in diesem kleinen Körper, und sein Schöpfer hatte diesem grossen Herz auch nur deshalb Beine angehängt, damit es zu den Menschen gehen könne und seine unendliche Güte nicht irgendwo, wo wenn möglich nie jemand vorbeikam, verkümmern würde.

Mit diesem Namen, Halil te Kepl, Herz auf zwei Beinen, würde man seiner Gedenken, wenn die Eingeborenen, die ihm diesen Namen gegeben hatten, diejenigen gewesen wären, die die Geschichte geschrieben hätten. Aber die Geschichte wird, wie wir alle wissen und es leider nur allzu oft gerade dann vergessen,  wenn wir uns mit ihr beschäftigen, von den Siegern geschrieben, weil die Sieger überleben, und die Verlierer nehmen ihre Geschichte, die wahrscheinlich näher bei der Wahrheit gewesen wäre, weil die Toten ihr Überleben nicht vor sich selber rechtfertigen müssen,  mit ins Grab.

Die Eingeborenen, die dem kleinen Mann in der Rüstung seinen Namen gegeben hatten, gehören so eindeutig zu den Verlierern der Geschichte, wie man das nur als  ausgerottetes Volk schafft, und mit derselben Gründlichkeit, mit der ihnen ihre Eroberer und Zerstörer den Garaus gemacht hatten, vernichteten sie danach auch jegliches Zeugnis von ihrer Sicht der Dinge. Nur die angestrebte Endgültigkeit dieses Verschwindens ist den Siegern offensichtlich doch missglückt. Es ist ihnen zwar gelungen, Wilhelm den kleinen Eroberer aus den Geschichtsbüchern zu verbannen, und sie haben es sogar fertig gebracht, Halil te Kepl ohne jede Spur aus den schriftlich überlieferten Mythen und Märchen der Urvölker Lateinamerikas zu entfernen, aber in diese fast vollkommen gelungene Dunkelheit ist plötzlich ein Funke gesprungen und hat mich im Traum auf eine Spur geführt, welche vor langer, langer Zeit ein Herz auf zwei Beinen an einem Sandstrand in Südamerika hinterlassen hat, dessen Wellen seit einem halben Jahrtausend nichts anderes tun, als bei ihren Ankunft am Strand den Namen Halil te Kepl in den Sand zu schreiben und ihn dann gleich wieder zu verwischen, wenn sie den Strand wieder verlassen, um in die Unendlichkeit des Meeres zurückzukehren.

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