Den Gästen ins Buch

Leute, die mich besuchen kommen, und sich dann in meinem Gastland innerhalb weniger Tage alles anschauen, was sich ihrer festen Meinung nach anzuschauen lohnt, fragen mich nach ihren Ausflügen oft ungläubig und verständnislos: „Was? Da warst Du noch nicht? Wie kommt das? Du lebst doch hier. Interessiert es Dich nicht?“

Um wirklich zu erklären (auch mir), wie das kommt, müsste ich etwas weiter ausholen, aber nach ein paar Sätzen, und ich kann lange, verwinkelte Sätze machen, würden sie das Interesse an meinen Erklärungen und vielleicht sogar an mir als Person verlieren (was in ihrem Fall nicht weiter schlimm wäre), hätten womöglich ihre Frage bereits vergessen und würden zum Stadtplan greifen um ihr nächstes Ausflugsziel anzupeilen.

Der einzige, der mir dann noch zuhören und auch dann nicht gähnen würde, wenn ich zum x-ten Mal abschweife und von etwas ganz anderem erzähle, wäre ganz bestimmt ich. Ich habe manchmal Mühe, zur Sache zu kommen, weil es neben dieser einen Sache noch eine Unzahl anderer Sachen gibt, die ich nicht einfach in eine Warteschlange stellen kann, die während dem Sprechen immer länger wird und dann wird es Nacht und alle Gedanken, die ich nicht artikuliert oder zumindest in einer kurzen Klammer angesprochen habe, drehen enttäuscht ab.

Die rasch Entmutigten kommen vielleicht nie wieder und die etwas Kühneren belagern meine Traumschlösser und lassen mich in den Ruinen meiner Träume erwachen, in deren Schutt und Asche ich sie vermutlich vergeblich suchen würde.

Ich kann mit denen, die es nicht dabei bewenden lassen können, alles gesehen haben zu müssen, sondern darauf beharren, allen, die diesem Zwang nicht ausgesetzt sind, das Gefühl zu geben, ignorante, desinteressierte Dorftrottel zu sein, überhaupt nichts anfangen. Und das tut mir nicht einmal leid.

Also antworte ich in der Regel mit einem kurzen: „Nein, das interessiert mich wirklich nicht alles.“ Oder ich sage: „Weisst Du, wenn man in einem Land lebt, ist das etwas anderes, als wenn man es besucht. Man hat dann, oder meint wenigstens man hätte, Zeit, sich alles in Ruhe und der Reihe nach anzuschauen.“

Natürlich weiss ich, dass ich mich mit der ersten Antwort genau als das oute, was die Gäste bereits in mir sehen: als globalen Dorftrottel, an dem das Schicksal jeden seiner bisher fünf Auslandaufenthalte sinnlos verschwendet, und mir ist völlig bewusst, wenn ich mir bei der zweiten Antwort zuhöre, dass sie in ihrer oberflächlichen Logik eine perfekte Lüge ist.

Man hat innerhalb von drei oder vier Jahren nie wirklich Ruhe. Auf jeden Fall nicht die Art von Ruhe, die ich benötigen würde, um neben all dem, was mir offensichtlich wichtiger ist, noch die Zeit und die Energie zu finden, mir all das anzuschauen, schon gar nicht der Reihe nach, was andere nach zwei Wochen zufrieden in ihrem Reiseführer abhaken.

Ich gebe es zu: mein Radius an meinem jeweiligen Wohn- und Arbeitsort ist klein (Kennen Sie meinen Friseur? Den kleinen Schmuckladen nebenan auch nicht? Die Pizzeria an der Ecke vielleicht?). Sehr klein, wenn sie andere Leute fragen. So gesehen könnte man dem Schicksal wirklich gram sein, dass es nicht andere, neugierigere und entdeckungsfreudigere Menschen in die Welt hinaus schickt.

Ich will mich jetzt auch nicht mit der billigen Feststellung rechtfertigen oder gar zu trösten versuchen (ich brauche diesbezüglich keinen Trost), dass man überall gewesen sein kann und trotzdem nichts gesehen haben.

Ich will die Erlebnisse und Eindrücke derer, die eine Stadt, eine Region und ein Land sofort besichtigen und sie ihrer stetig wachsenden eigenen Welt hinzufügen, die so immer reicher und vielfältiger wird, auch gar nicht herabmindern. In keiner Weise. Das läge mir, der ich die Nähe bevorzuge,  fern.

Ich höre den interessanteren unter meinen reiselustigen Gästen sogar ab und zu kurz zu, wenn sie mir begeistert und noch leicht ausser Atem von der neusten Erweiterung ihrer Welt erzählen, bin dann aber erleichtert, wenn sie in ihrem Tatendrang gleich wieder aufbrechen oder wenigstens zwischen zwei Entdeckungsreisen ein langes Bad nehmen, wohin ich ihnen nicht folgen kann.

Ich bin in der Regel auch nicht sehr lange traurig, wenn solche Gäste wieder abreisen und erst ein Jahr später wieder kommen, weil sie unterdessen festgestellt haben, dass sie doch noch nicht restlos alles gesehen haben.

Meine eigene Welt ist etwas kleiner, egal, wo ich bin, und sie wächst nur sehr langsam.  Ich behaupte deswegen nicht, ich würde sie mit mehr Tiefenschärfe betrachten. Ich behaupte überhaupt nichts. Ich bitte lediglich darum, (kommentarlos, wenn das möglich ist) zur Kenntnis zu nehmen, dass ich noch nicht überall war, und jetzt schon um Verständnis dafür, dass ich auch zum Zeitpunkt meiner Versetzung noch nicht überall gewesen sein werde, wo ich spätestens dann unbedingt und mindestens einmal hätte gewesen sein müssen.

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