Kritik der kleinen Vernunft

Schlechtes zu kritisieren, ist Zeitverschwendung. Schlechtes entblösst sich im Augenblick, in dem es sich offenbart, selber. Diejenigen, die sich trotzdem noch damit beschäftigen, haben entweder wenig Urteilsvermögen, sind mit sich selbst unzufrieden und erkennen dankbar einen weiteren Sack, den sie anstatt sich selber schlagen können, oder sie haben chronisch zu viel Zeit. Auf manche treffen alle drei Eigenschaften gleichzeitig zu, aber über die zu reden, fehlte mir dann definitiv die Zeit.

Kritik lohnt sich da, wo eine gewisse Qualität vorhanden ist. Die setze ich bei der NZZ und bei den Menschen, die darin zu Wort kommen, irgendwie voraus. Ich hätte das „irgendwie“ gerne weggelassen, aber ich stelle in letzter Zeit eine wachsende Lust an der Kritik an Bewährtem in und an mir fest, eine Art Spätpubertät vielleicht, die mich nicht einmal gross beunruhigt. Vielleicht hat meine Jugend Glück, dass sie schon vorbei ist, weil sie sonst womöglich weniger beschaulich verlaufen wäre.  Aber wie die Ägypter diese Tage sagen: Lieber spät als Nil.

Es ist mir klar, dass es für Roger Keller nicht einfach war, eine mich überzeugende Aussage in sieben Antworten auf sieben Fragen zu verpacken, welche ihm die NZZ am Sonntag für den Wirtschaftsteil der heutigen Ausgabe stellte.  Ich zweifle nicht Ihren Sachverstand an, sehr geehrter Herr Keller, auch nicht ihren Verstand als solchen. Wir befinden uns im Wirtschaftsteil einer bürgerlichen Zeitung und was Sie von diesem Standpunkt aus zu den Ereignissen in der arabischen Welt sagen, klingt absolut vernünftig für jemanden wie mich, der wenig Ahnung von Wirtschaft hat, und ist es ganz bestimmt für alle, die etwas davon verstehen. Nur, lieber Herr Keller, ist das eben, von meinem Standpunkt aus betrachtet, eine Vernunft in einem ganz engen Rahmen, eine kleine Vernunft, die mir nicht reicht, nicht einmal im Wirtschaftsteil und im Korsett kurzer Antworten auf sieben Fragen.

Haben Sie einen Moment Zeit, sich meine Argumente anzuhören (maximal 1000 Zeichen ohne Leerschläge)? Vielen Dank.

Herr Keller? Ach hier sind Sie. Ich dachte schon…

Zur Ihrer Verteidigung sei gesagt, dass schon die allererste Frage, die Ihnen Frau Jacquemart gestellt hat (die ich hiermit auch ganz herzlich auf meinem Blog begrüsse), sie in genau diese unerträgliche Enge getrieben hat, aus der Sie im Verlauf der weiteren Fragen und Antworten nicht mehr herausfinden. Ob sich die Investoren sorgen müssen, fragt Sie Frau Jacquemart, weil in Ägypten und Tunesien das Wirtschaftsleben stillstehe. Was für eine wunderbare Frage.

Natürlich weiss sogar ich, dass diese Länder Investoren brauchen, wenn es denen, die jetzt demonstrieren, eines Tages besser oder zumindest nicht noch schlechter gehen soll. Das gehört zum kleinen ABC der Weltwirtschaft und ich kann von daher auch verstehen, warum sich die Frage nach der Beunruhigung der Investoren stellt. Wenn Sie in Ihrer Antwort ausführen, lieber Herr Keller (darf ich Sie Roger nennen? Wir sind hier ja praktisch unter uns), dass die Finanzmärkte bis jetzt nicht gross reagiert haben, ist das sicher richtig. Alle Ihre Antworten auf die sieben Fragen sind richtig. Nur sind sie, wie bereits die Fragen, eben auch völlig falsch.

Wer die Unruhen in Ägypten auf den Suezkanal beschränkt (wo es aus dieser Deiner Sicht immerhin 8% wichtig wird, denn soviel vom globalen Öl muss da durch)  und in dieser öligen Logik Saudiarabien als Schlüsselland bezeichnet, kommentiert die Ereignisse in den arabischen Ländern nicht mehr aus einer reinen Wirtschaftsperspektive, sondern er hält den Finger, ob er will oder nicht, genau auf den wunden Punkt. Bist Du noch da, Roger?

Was Du den Investoren, und mit ihnen den Kleinanlegern und Kleinsparern, damit sagst, ist Folgendes: Tunesien? Ägypten? Peanuts. Maximal 8% Auswirkungen auf die Weltwirtschaft. Und der Winter ist ohnehin bald vorbei, nicht so schlimm, wenn das Öl etwas teurer werden sollte. Will heissen: Weiterschlafen! Wir wecken euch dann, falls es in Saudiarabien losgehen sollte.

Das scheint auch Frau Jacquemart eingelullt zu haben. Sie schweift schon bei der dritten von sieben Fragen vom Titel des Interviews („Saudiarabien ist das Schlüsselland“) zur Arbeitslosigkeit und Verschuldung der USA ab. Aber auch dort hältst Du ein wenig Expertentrost bereit. Die Weltwirtschaft müsse eine neue Lokomotive finden, schlägst Du als Lösung vor, und wenn ein verantwortungsvoller Fachmann wie Du so etwas sagt, habt ihr sie vermutlich schon längst gefunden. Darf ich raten: China? Wunderbar. Das beruhigt nun auch mich.

Spekulationen darüber, ob die neue Lokomotive allenfalls in eine Richtung unterwegs sein könnte, die nicht nur Gutes verheisst, überlassen wir den anderen Fachmännern und Fachfrauen (gibt es eigentlich schon Quoten für fragenstellende Journalistinnen oder zu befragende Fachfrauen in der NZZ?). Denjenigen, die sich mit Politik, Sicherheit und Menschenrechten befassen. Das sind zum Glück nicht dieselben. Die wären vernunftmässig total überfordert, wenn sie alles zusammen in Betracht nehmen müssten. Sie würden womöglich im Irrenhaus enden oder in einer Regierung Einsitz nehmen.

Weisst Du, lieber Roger, ich bin überzeugt, dass ihr es alle nicht bös meint. Aber wenn Frau Jacquemart ihre siebte Frage dafür einsetzt, und sie hat es sich sicher sehr gut überlegt, weil es die letzte Frage war, um Dir angesichts der beunruhigenden Aktualitäten (epochale Umwälzungen im arabischen Raum, hohe Arbeitslosigkeit und gigantische Verschuldung der USA) einen Tipp für Anleger zu entlocken, und Du offenbar ohne zu zögern freimütig zu riskanten Anlagen rätst, dann macht mir das schon ein bisschen Sorgen. Nicht als Anleger. Ich lege nicht an.

Dass Aktien Bonds schlagen werden, mag sich als zutreffende Prognose erweisen, Du bist schliesslich ein Fachmann, und dass der Anleger und die Anlegerin die Volatiliät der Aktienmärkte ertragen können müssen, scheint mir auch keine allzu grosse Zumutung darzustellen.

Mein persönliches Worst-Case-Szenario (Frage zwei, Du erinnerst Dich) ist nicht, dass Saudiarabien instabil wird, auch wenn ich mir bewusst bin, dass die Kacke im Mittleren Osten dann ganz schön am Dampfen wäre und die Finanz- und Wirtschaftsexperten womöglich die AnlegerInnen aus ihren Profitschlaf wecken müssten. Mein persönliches Worst-Case-Szenario ist, dass der vermeintlich abgesicherte Teil der Menschheit noch lange damit fortfährt, die Welt mit dem Instrumentarium der kleinen Vernunft als eine spannende Geografie von Rohstofflieferanten und Absatzmärkten zu erkennen und zu behandeln.  Das muss auf die Dauer zu Zuständen führen, die für uns alle schwieriger zu ertragen sein werden als die Volatilität der Aktienmärkte.

Ich wünsche Dir, lieber Roger, oder Ihnen, sehr geehrter Herr Keller, sollten Sie diese Anrede bevorzugen, was ich nach meiner Kritik an der kleinen Vernunft verstehen würde, und natürlich auch Ihnen, verehrte Charlotte,  einen schönen Sonntag.

Ihr,

Walter Haffner

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