Professor Strangelove, I assume?

Ich wusste bis heute nicht, dass es an der ETH Zürich einen Lehrstuhl für Risikowahrnehmung gibt. Risiken finde ich hoch interessant, und Wahrnehmung beschäftigt mich als Thema, seit ich mir bewusst zu machen versuche, wie entscheidend es für mein Lebensgefühl ist, wie ich meine Umgebung wahrnehme.

Wir haben keine Welt. Wir haben nur unsere individuelle Wahrnehmung davon. Wir haben genau genommen nicht einmal uns selbst, nur eine Wahrnehmung von uns, abgesehen vielleicht von den raren Glücksmomenten, in denen wir uns nicht mehr spüren. So gesehen bleibt von uns und der Welt am Ende ausser der Wahrnehmung rein gar nichts übrig, von “The World according to Garp” nur „according to“.

Die Idee der NZZ, im Zusammenhang mit der sich entfaltenden Nuklear-Katastrophe in Japan einen Professor für Risikowahrnehmung zu befragen, leuchtet ein. Beim Lesen der Antworten von Professor Siegrist wird es dann allerdings rasch dunkel.

Wenn Professor Siegrist eingangs festhält, dass niemand ein vollständiges Bild der Lage in Japan hat, kann man ihm noch beipflichten. Aber das wussten wir eigentlich schon. Ein erstes Stirnrunzeln stellt sich bei dem daraus gezogenen professoralen Schluss ein, es sei daher wichtig, dass die Bevölkerung nicht unnötig beunruhigt werde mit Angst einflössenden Meldungen, die nicht relevant seien.

Mit Bevölkerung ist offensichtlich die Schweizer Bevölkerung gemeint. Sie soll also nicht beunruhigt werden. Was aber wären die offenbar zu vermeidenden, nicht relevanten Meldungen? Dass es im am besten auf Erdbeben vorbereiteten Land der Welt zu einer Kernschmelze in einem AKW kommt? Dass die Produktion von Strom durch Nuklearenergie unter gewissen Umständen fürchterlich ausser Kontrolle geraten kann? So sehr ausser Kontrolle, dass die Schicksale Tausender, die gerade ihre Angehörigen, Freunde, Nachbarn und Bekannten und/oder ihr ganzes Hab und Gut verloren haben, von der real werdenden Gefahr einer nuklearen Verseuchung einer ganzen Region in den Hintergrund gedrängt werden? Sind das die Meldungen, die für die Schweizer Bevölkerung als Teil der Weltöffentlichkeit „nicht relevant“ sind?

Lässt sich diese Unklarheit vielleicht noch mit der Kürze des Interviews und meiner beschränkten Intelligenz erklären, werden die Aussagen von Professor Siegrist dort, wo er sich zur AKW-Debatte in der Schweiz äussert, definitiv unhaltbar.

Wenn die AKW-Debatte zur reinen Risikodebatte verkomme, so Professor Siegrist, werde es schwierig, Akzeptanz für die Atomenergie zu gewinnen. Wie bitte? Die zu führende Debatte, sehr geehrter Herr Siegrist, kann angesichts vorhandener Alternativen nicht zum Ziel haben, Akzeptanz für eine Form der Energieproduktion zu gewinnen, die unverantwortbar ist. Die Debatte muss angesichts des unlösbaren Abfallproblems der Atomenergie und ihres gerade wieder offenbar werdenden Katastrophenpotentials darüber geführt werden, wie sie am besten und am schnellsten durch verantwortbare erneuerbare Energien ersetzt werden kann.

Ihre unzutreffende Globalbehauptung, wir könnten „den angestrebten Nutzen mit einer anderen Technologie nicht erreichen“ ist eine haarsträubende Verkürzung einer zugegebenermassen hochkomplexen Problematik, und die Begründung, die Sie dafür anführen, ist mit Abstand das dümmste Beispiel, das Sie nennen konnten. Die „durch Windkraftwerke verbaute Landschaft“ gehört zwar in die von Ihnen geforderte „Abwägung“, macht dort aber angesichts der Bedrohung der japanischen Bevölkerung durch die ausser Kontrolle geratenen AKW eine pietätlose Figur. DAS, die Ästhetik der Landschaft, ist in diesem Zusammnhang nicht relevant, wenn Sie unbedingt über etwas nicht Relevantes schreiben möchten.

Wenn Sie als Professor für Risikowahrnehmung festhalten, man dürfe sich nicht der Illusion hingeben, Risiken eliminieren zu können, ist das als Kernsatz aus dem Fundus Ihrer Wissenschaft sicher richtig, und es trifft in vielen Situationen auch auf die Politik und das individuelle Leben zu. Im vorliegenden Fall ist es aber schlicht falsch.

Das Risiko eines atomaren Unfalls kann eliminiert werden. Durch den simplen Entscheid, die bestehenden AKW vom Netz zu nehmen und keine neuen mehr zu bauen. Ich kann das Risiko eines Unfalls beim Fallschirmspringen eliminieren, indem ich nicht Fallschirm springe.

Dass die Strompreise stark ansteigen würden, wenn AKW verboten werden, ist in ihrer verblüffenden Stupidität eine Aussage, die ich eher spät Abends an einem Biertisch (oder vom Pressesprecher eines AKW-Betreibers während einer hitzigen Abstimmungskampagne) erwartet hätte als am helllichten Tag aus dem Munde eines nüchternen und besonnenen ETH-Professors.

Kein vernünftiger Mensch spricht davon, die AKW morgen alle abzuschalten und den danach noch produzierten Reststrom den Reichen vorzubehalten, die ihn dann noch bezahlen können. Ein Ausstieg aus der Atomenergie und der Ersatz des Nuklearstroms muss sorgfältig geplant und dann in einem sinnvollen Zeitrahmen umgesetzt werden. Aber das wissen Sie.

Dass Sie sich dann noch zur völlig abstrusen Aussage versteigen, wenn die Strompreise stark ansteigen, werde es den Armen schlechter gehen, und sie (die armen Armen) würden dann andere Risiken tragen müssen, indem sie sich zum Beispiel weniger Gesundheit leisten könnten, ist sogar als populistische Stimmungsmache grotesk, und es beunruhigt mich in Hinblick auf die zu führende Debatte über alle Massen. SIE beunruhigen mich über alle Massen. Sie scheinen mir ein Risiko für den guten Ruf der ETH und den guten Ruf der Ihre Meinung veröffentlichenden NZZ zu sein. Meiner Wahrnehmung der Chancen, dass der Mensch irgendwann noch zur Vernunft finden könnte, tun Sie jedenfalls ganz und gar nicht gut.

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