Die Wochen sind kurz, das Leben lang und die Landkarte hat fünf Farben

Auf der Leinwand im abgedunkelten Saal eine politisch eingefärbte Weltkarte, auf der 54 Staaten mit einer gemeinsamen Farbe markiert sind. „Ich werde heute nicht über das Commonwealth sprechen“, sagt der Professor, ein Mann von mittlerer Statur mit einem relativ kleinen Kopf. „Kann bitte jemand das Licht anmachen? Danke. Und den Beamer abschalten. Wir brauchen ihn heute nicht mehr.“

Er hat wirres, angegrautes Haar, das er mit den Fingern ab und zu nach hinten kämmt, obwohl es ihm nicht in die Stirne fällt. Es ist mehr ein Tick. Eine fahrige Allüre eines sonst unprätentiösen Manns in seinen frühen Fünfzigern, der nie geheiratet hat.

Nach einer kurzen Pause, während der zwei flinke Studenten ohne weiteres das Commonwealth hätten einrollen können, wenn es sich nicht um eine Powerpoint-Präsentation gehandelt hätte, fährt er fort: „Ich nehme  an, Sie wissen das, meine Damen und Herren. Die Lampen sind das teuerste an diesen Apparaten. Ein ähnlich absurdes Verhältnis wie bei den Druckerpatronen und den Druckern. Den verkabelten Rest werfen wir getrost auf den Müll und dieser kreist dann Jahrhunderte lang im Elektroschrottstrudel im Pazifik, den die Vögel für einen Fischschwarm halten und daran elend verrecken.“ Er fährt sich mit den Fingern der linken Hand durch die Haare.

„Ich will hier nicht in die Details gehen oder zu weit ausholen (ich weiss, dass ich manchmal zu weit aushole) und verweise an dieser Stelle lediglich auf mein letztjähriges Skript. Ich setze zudem voraus, dass ihnen bekannt ist, woher das Wort „elend“ kommt, wenn ich sage, dass diese Vögel elend verrecken, wenn sie unseren Elektroschott fressen, in der für sie verhängnisvollen Annahme, es müsse sich um Fische handeln. Sollten Sie es vergessen haben, erinnere ich sie daran, weil das Prüfungsstoff sein wird. Dass es einem elend geht, wenn man sich ausserhalb seines angestammten, eigenen Territoriums befindet: im Ausland, e-Land, ausser Landes. Weil es einem dort früher schlecht ging, weil einem niemand zur Seite stand, wenn man in Schwierigkeiten geraten war. Keine Freundschaft, keine Familie, keine Fürsprecher vor Gericht. Keine Chance.

Hat jemand etwas zugunsten des Angeklagten vorzubringen? Kennt ihn jemand? Kann jemand bezeugen, dass er keine Pferde stiehlt? Verbürgt sich jemand für ihn? Dann soll er jetzt mit barer Hand eine Münze aus einem Kessel mit siedendem Wasser holen, und damit selber seine Unschuld beweisen, so ihm Gott hilft. Klammer geschlossen.

Die heutige Vorlesung kreist weder um Elektroschrottstrudel, noch um die Frage, ob sich die Vorlesung in diesem Fall in der gleichen Richtung gedreht hätte wie der Strudel. Es geht heute auch nicht um Gerichtsverfahren gegen Ausserheimische, obwohl dieses Thema einiges hergibt, wenn man anständig mit ihm umgeht und es nicht drängt.

Wir verlassen die sterbenden Vögel und begeben uns stattdessen ohne weitere Verzögerung (without further delay) vom Pazifik auf‘s Festland und von der losen Gemeinschaft des Commonwealth hin zur nur auf den ersten Blick absurd anmutenden Frage, wie viele andere Menschen ein Mensch braucht, um sich für alle klar erkennbar von allen anderen Menschen abzugrenzen, mit denen er in Kontakt kommt, oder ob farbige Kleider genügen, und wenn ja, wie viele Farben diese Kleider haben müssten.

Man braucht bekanntlich fünf Farben, um eine politische Landkarte, wie wir sie soeben kurz gesehen haben (das Commonwealth im historischen Massstab von 1 zur Bedeutungslosigkeit), so einzufärben, dass keine zwei Länder mit derselben Farbe aneinandergrenzen. Farbenblinde kommen zur Not mit einer Farbe aus. Das war aber nicht immer so. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts war man angesichts der damals horrenden Farbpreise noch bereit, zu glauben, vier Farben würden ausreichen, und man sprach damals, weil man sich nicht sicher war, ob man nur von der Knappheit der Mittel zu dieser Annahme verleitet worden war, von der Vier-Farben-Vermutung. Diese Vermutung war nur wenigen bekannt und galt zudem nur unter den Einschränkungen, dass isolierte gemeinsame Punkte nicht als Grenze zählen und dass jedes Land aus einer zusammenhängenden Fläche besteht, also keine Exklaven vorhanden sind. Ausserdem wurde mit den Studenten gleich zu Semesterbeginn vereinbart, dass während der Vorlesungen kein Popcorn gegessen wird.

Als Francis Guthrie an einem verregneten, nicht für Botanik geeigneten Sonntag Vormittag im Jahr 1852 eine Karte der Grafschaften von England einfärben wollte, stellte er als erster die Vier-Farben-Vermutung auf. „Was wird das?“ fragte seine Frau, als sie ihn bat, den Tisch frei zu machen, damit sie das Mittagessen auftragen könne. „Ich färbe gerade die englischen Grafschaften ein, Darling“ erwiderte Francis. „Es kann nicht ewig so weiter gehen, mit diesem Schwarz-Weiss auf vergilbenden Bögen. Und ich vermute, vier Farben werden reichen, um alle Grafschaften deutlich voneinander abzutrennen.“

„Was immer“, gab seine Frau zurück, „und jetzt mach den Tisch frei.“

Er verliert mir noch den Verstand, dachte sie. Und so schön möchte ich es auch einmal haben: wie ein Kind grosse Pläne machen, sie farbig ausmalen und sich im Übrigen bedienen lassen. Ich bin doch nicht seine Mutter.

Und grosse Pläne hatte Francis Guthrie tatsächlich. Die englischen Grafschaften sollten nur der Anfang sein. Wenn es ihm gelingen würde, nicht nur England, sondern die ganzen britischen Inseln, das europäische Festland und später vielleicht ganz Asien zu bemalen, würde vieles möglich sein. Andalusien. Patagonien. Lateinamerika, Afrika, und ganz am Ende seines Lebens vielleicht noch mit letzter Energie Australien und Neuseeland, mit einer einzigen Farbe, rundherum nur noch Wasser. Eine blaue, unendlich grosse Fläche, die nach Gemüsesuppe roch. Er konnte es kaum erwarten, und nahm sich vor, gleich nach dem Mittagessen mit der Droschke in die Stadt zu fahren, um neue Farben und einige Bögen Papier zu kaufen.

Irgendwie muss ihm dann aber die Faszination für das Problem abhanden gekommen sein.  Oder er hat kurz danach tatsächlich, wie es seine Frau vermutet hatte, den Verstand verloren. Ist von der Droschke gefallen. Jedenfalls haben sich kurz darauf europäische Mathematiker des Problems bemächtigt und Guthrie scheint sich wieder der Botanik zugewendet zu haben.

Der Londoner Mathematikprofessors Augustus De Morgan schrieb seinem irischen Kollegen William Rowan Hamilton in einem Brief, den dieser an einem nasskalten Frühlingstag las, in den er schlecht gelaunt erwacht war, ohne zu wissen warum: „Ich bin mir nicht sicher, werter Herr Kollege, aber es kann sein, dass vier Farben genügen, um die Länder einer Karte so zu färben, dass benachbarte Länder verschiedene Farben tragen. Womöglich reichen aber auch weniger Farben. Oder weniger Länder. Was denken Sie? Hochachtungsvoll, Ihr …“.

Hamilton ärgerte sich so sehr über den stupiden Inhalt des Briefs (nicht zu reden von der fehlerhaften Adresse, welche dazu geführt hatte, dass der Brief zunächst bei einem gleichnamigen Pferdemetzger in der Grafschaft Cork gelandet war), dass er sich lange überlegte, ob er ihn überhaupt beantworten solle, und als er es dann endlich doch noch tat, fiel seine Antwort an Morgan knapp und wenig schmeichelhaft aus. „Sie sind, lieber Augustus, ein Idiot. Drei Farben genügen, wenn es sich um satte Töne handelt. Von ihrer Dummheit bestürzt, Ihr …).

Es folgten ein paar weitere Briefe, welche das Verhältnis zwischen den lange befreundeten Mathematikern unheilbar zerrütteten, ein paar weitere Kriege auf dem europäischen Festland und die Gründung grösserer Nationalstaaten wie Italiens oder Deutschlands verhinderte schliesslich, dass das Einfärben der Karten ewig gedauert hätte. Dennoch lag sich die Gilde der Mathematiker noch fast vierzig Jahre lang wegen dem Beweis des Vier-Farben-Satzes in den Haaren. Heute ist es ein Theorem und sie können es in jedem Warenhaus kaufen. Normalerweise in der Papeterie-Abteilung.

Jetzt werden Sie sich vielleicht fragen, meine Damen und Herren Studenten, wann ich endlich zur Sache komme. Und ich verstehe Sie, wenn Sie sich diese Frage stellen. Ich wäre Ihnen nicht einmal böse, wenn Sie sie mir stellen würden. Ich wundere mich sogar darüber und bin ein klein wenig enttäuscht, dass Sie mir die Frage nicht stellen. Es wäre mir wichtig, dass sie kritisch sind.“

Er nimmt einen Schluck aus dem Wasserglas, das die ganze Zeit vor ihm gestanden hat, und fährt sich mit der linken Hand durch die Haare.

„Schauen Sie, es ist so. Ich glaube nach 20 Jahren in der Forschung nicht mehr daran, dass das Commonwealth sich reformieren kann. Es hat sich ganz einfach als Organisationsform überlebt, und wenn die Queen einst nicht mehr unter uns weilen wird, wird man es auflösen können.

Für die Graphentheoretische Soziologie des 21. Jahrhunderts spielt das Commonwealth so oder so eine sehr marginale Rolle, und wenn man es faltet, kann man es ganz vernachlässigen. Für unsere noch junge Wissenschaft steht vielmehr die Frage im Zentrum, wie viele Menschen ein Individuum als Bezugspersonen benötigt, um sich in eindeutiger Weise in seiner Individualität zu erkennen und somit von seinen Mitmenschen abgrenzen zu können.

Wir sind der Beantwortung dieser Frage heute, ich gebe das mit einem Blick auf die Uhr zu, nicht wirklich näher gekommen. Wie definieren Sie Versagen? Vielleicht liegt der Grund dafür in meiner Geschwätzigkeit. Das mag durchaus sein, habe ich doch die ganze Zeit geredet.

Vielleicht liegt es aber auch daran, dass die Zeit ganz einfach viel zu schnell vergeht. Denken Sie darüber nach. Glauben Sie nicht, dass man Sie vor irgendetwas verschonen wird, nur weil Sie jung sind. Es wird Ihnen gleich ergehen wie uns allen. Die Wochen sind kurz, auch wenn das Leben, wenn man Glück hat, lang ist, und man kommt als Professor zwangsläufig hin und wieder mangelhaft vorbereitet in eine Vorlesung. Ich hätte Ihnen heute gerne meine Theorie der Fünf-Menschen-Vermutung erläutert. Ich kann es noch nicht beweisen, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass vier Menschen genügen, um einen Fünften durch die Aufzählung ihrer Eigenschaften so zu beschreiben, dass ihn alle wiedererkennen, denen er schon mehr als einmal begegnet ist.

Es dürfte einige Jahre dauern, bis diese Theorie einwandfrei bewiesen werden kann. So gesehen ist es kaum relevant, dass ich, sollte dies wirklich der Fall gewesen sein, mit der heutigen Vorlesung ihre wertvolle Zeit vergeudet habe. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit, wünsche Ihnen eine gute Woche und hoffe, einige von Ihnen am nächsten Montag trotzdem wieder zu sehen.“

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