(schlechte Nachrichten für den Mittelstand)
Bewegte Zeiten. Europa steckt in einer Krise, deren Ausmass keiner so richtig absehen will. Bisher unauffällige Volkswirtschaften (was sind schon ein paar Milliarden Staatsschulden) geraten unvermittelt in Schieflage. Andere sind schon im Sinken begriffen ohne im Sinken viel zu begreifen. Wieder andere sind im Grunde genommen bereits auf Grund gelaufen. Das Fass hatte tatsächlich keinen Boden. Das Schiff keine doppelte Wand. Kein Lack mehr auf dem Leck.
Rumms. Das ist nun also die Talsohle. Ob es jetzt wirklich nur noch aufwärts gehen kann? Kannst Du das mal googeln, Heinrich: Wie viele Meter unter Meer liegt der tiefste Punkt der Firmengeschichte? Und wenn Du schon im Netz bist: schreibt man Kapitalismus am Schluss mit zwei s oder geht es auch anders?
Rating-Agenturen stufen die Bonitäten derjenigen Länder herab, die anderen helfen sollten. Notfallmässig aufgespannte Rettungsschirme erweisen sich vor dem ersten Einsatz als untauglich, den Fall der Stürzenden zu verlangsamen. Keine sanfte Landung in Sicht. Falten Sie die Arme über den Knien und befolgen Sie die Anweisungen der Besatzung. Sollten wir dann doch unversehrt landen: Bitte Vorsicht beim Öffnen der Gepäckablagen – ihr Vermögen könnte sich verschoben haben.
Überall laute Demonstrationen am roten Teppich. Kein guter Moment für Galaveranstaltungen. Treffen wir uns bei mir? Moët & Chandon oder Veuve Clicquot? Mineralwasser mit oder ohne Kohle? Jetzt sei doch nicht gleich sauer.
Diktatoren sind abgetreten und Wahlen schief gelaufen. Oder sie stehen in grossen Ländern kurz bevor und blockieren vorläufig alles, was auch sonst nicht vorwärts kommt. Präsidentschaftskandidaten verbeissen sich in die Unterwäsche ihrer Konkurrenten. Amtsinhaber machen ganz von alleine schlechte Figur.
Verschiedenen Orts droht seit längerem Krieg, hier und dort mottet er auch schon eine ganze Weile dahin und keiner mag mehr richtig hinschauen. Für Hungersnöte oder Umweltfragen haben wir jetzt wirklich keine Zeit. Jetzt kippt auch noch ein Kreuzfahrtschiff um.
Können wir jetzt bitte endlich jemanden zur Verantwortung ziehen? Männer in feinem Tuch (und ein paar wenige Frauen) stehen im Fokus der Aufmerksamkeit. Männer mit dünnem Nervenkostüm. Männer mit gepflegtem Sitzleder. Männer mit hohen Salären. Männer mit Kapitänsmützen. Männer im Wahlkampf. Männer mit teuren Uhren. Männer mit starkem Parfüm. Männer mit Leibwächtern. Männer mit geschäftstüchtigen Frauen und attraktiven Freundinnen. Männer mit guttrainiertem Leib und klug investiertem Gut.
Schuld wird zugewiesen. Bilanzen werden gezogen. CEO’s werden ausgetauscht. Fälschungen werden aufgedeckt. Persönliches Versagen wird festgestellt. In Wirtschaft und Politik. Die einen müssen sofort zurücktreten, andere halten sich noch einen Moment im Amt (ohne Würden). Wieder andere werden, weil es terminlich gerade passt, im ordentlichen Verfahren abgewählt.
Es geht nicht mehr um die Verteilung des Wohlstands. Es geht um die Verteilung der Schulden. Es geht um die Frage, wer die Rechnung bezahlt. Müssen die, die viel mehr konsumiert haben, nicht nur viel mehr, sondern alles bezahlen? Können sie es überhaupt, auch wenn sie nicht wollen? Oder teilen wir die Rechnung und gehen nachhause, um unseren Rausch auszuschlafen? Ist er überhaupt bezahlbar? Können wir bitte mal den Wirt sprechen? Was hat er davon, wenn wir gar nicht mehr einkehren können? Nützt ihm ja auch nichts, oder? Wie heisst er überhaupt und woher kommt er? Das ist doch kein Einheimischer, mit diesem Namen.
Den einen geht es auch um Moral. Zahlungsmoral. Gier. Den anderen sofort darum, denjenigen, die mit der Moral hantieren, Spiessbürgerlichkeit vorzuwerfen. Mit der kleinkarierten Kritik an der Moral der Führungsfiguren, wirft man den Spiessern vor, lenken sie von den eigenen Unzulänglichkeiten ab. Von jahrelanger Trägheit und Faulheit. Vom angenehmen Abgeben der Verantwortung. Die sollen jetzt bloss nicht die Unschuldigen markieren, nur weil sie ihre Jobs und ihre Rente verlieren.
Und bei uns Schweizerinnen und Schweizern würde sich einmal mehr zeigen, so die ganz smarten Kolumnisten, dass wir Probleme haben mit Menschen, die aus unserer Mittelmässigkeit herausragen. Anstatt bei diesen hochbegabten Führungsfiguren grosszügig über ein paar charakterliche Schwächen hinwegzusehen, schicke man sie in die Wüste. Im dümmsten Moment. Wo die Wüste brodelt und der Himmel versandet. Wo die Dünen abwandern und die Wolken sich verquellen. Wo den Bären das Eis abhanden kommt.
Gut, rufen sie uns zu, dann wollen wir mal schauen, wer euch nachher aus dem Dreck zieht, ihr dumpfen Idioten. Das habt ihr dann davon. Von eurer Scheissmoral. Von eurem Futterneid. Am Ende werdet ihr uns wieder anflehen, das Ruder zu übernehmen. Ihr werdet uns aus der Verbannung zurückholen und die Verantwortung wieder in unsere Hände legen.
Und ich fürchte, sie haben Recht. Deshalb reagieren diese Männer in der Regel so gelassen auf unsere Anschuldigungen. Weil sie wissen, dass wir am Ende ohne sie nicht auskommen. Weil wir keine Ahnung haben, weder von den Lohntüten der Verdienstreichen noch von Immobilienblasen. Wir verstehen überhaupt nichts. Uns bleibt nur die Moral. Und die kann man nicht essen.
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