Vermutlich galt das Gebäude einst als top modern, wahrscheinlich sogar als Symbol für irgendetwas: Grösse, Gewicht, Macht. Ganz sicher war es einmal neu und alles hat bei der Einweihung einigermassen funktioniert. Lange Zeit diente es als Hauptquartier der Kommunistischen Landespartei. Heute ist auf dem Treppenabsatz des dritten Stockwerks, wo sich unsere Büros befinden, eine Bodenplatte locker. Das klickende Geräusch, das sie verursacht, wenn man darauf tritt (und ich trete regelmässig darauf), ist eine Orientierungshilfe, wenn man aus dem Fahrstuhl auf den dunklen Flur tritt. Man weiss dann trotz der schlechten Sicht: man ist im richtigen Stockwerk ausgestiegen. Auch wenn es eigentlich das zweite ist, und nur als drittes angeschrieben, weil man in diesem Land kein Erdgeschoss hat. Man hat natürlich eines, wo würde man sonst ins Gebäude eintreten, aber es ist das erste Stockwerk. Ich sehe: hier müsste ich von vorne anfangen, um alles besser verständlich zu machen. Aber soviel Zeit haben wir nicht. Ich versuche eine Abkürzung.
Es gibt natürlich auch in diesem Land in jedem Gebäude ein Erdgeschoss, aber es ist für die Menschen hier das erste Stockwerk. Sie mögen nicht Treppen steigen oder Fahrstuhl fahren müssen, bevor sie im ersten Stockwerk sind. Ein Bisschen muss man ihnen schon entgegenkommen. Wer in die höheren Stockwerke will oder muss, nimmt ein paar Stufen oder eine etwas längere Fahrzeit in Kauf und schaut den Mitfahrenden auf die Schuhe. Das erste Stockwerk aber gibt es hier umsonst. Sozusagen on the house. Man tritt vom Gehsteig her kommend ganz ohne Anstrengung in ein Gebäude und wird vom Portier begrüsst: Willkommen im ersten Stock.
Wenn man ihn findet, meine ich. Den Portier. Denn er sitzt im Dunkeln. Man sieht ihn zuerst kaum, weil es wirklich stockdunkel ist in der Eingangshalle, auch am Tag, der auch hier ab und zu hell und licht sein kann, und weil ihn auch das fahle Licht, das von seinem Bildschirm zurückstrahlt, nicht wirklich erhellt. Das ist wahrscheinlich Programm. Er soll die eintretenden Leute sehen, nicht umgekehrt. Trotzdem tut er mir leid. Was für ein Leben, den ganzen Tag im Dunkeln zu sitzen. Und damit übertreibe ich nicht einmal, obwohl mir dieser bedenkliche Hang auch schon nachgesagt wurde, denn für Wächter und Portiers haben sie hier die 84-Stunden-Woche beibehalten und ich sehe seit meiner Ankunft vor drei Monaten die selben drei Gesichter an der Loge. Entschuldigung: ich ahne sie. Vielleicht hat es Zwillinge im Jobsharing darunter und die Sache ist halb so schlimm, aber ich befürchte, ich habe mit meinen Befürchtungen Recht.
Das fehlende Licht sei ein Problem hier, hatten mir Kenner vor meiner Abreise aus dem Mittelmeerraum gesagt, und damit mich gemeint, vor allem im Winter. Du wirst schon sehen (oder eben nicht). Ich würde mich daran gewöhnen müssen, und es gäbe spezielle Lampen gegen Depressionen. Du mit Deiner Vorgeschichte. Ich muss ihnen schreiben: das Problem ist von grundlegender Art und nicht auf Neuankömmlinge beschränkt. Es hat nichts mit mir zu tun. Es geht hier allen so, und es scheint mir unmöglich, sich daran zu gewöhnen. Die Einheimischen tun auch nur so, als hätten sie es geschafft.
In diesem einst imposanten Gebäudekomplex zum Beispiel, in dem sich unsere Büroräumlichkeiten befinden, ist es im Treppenhaus den ganzen Tag dunkel und man kann den Portier nicht sehen. Ich bin mir auch ziemlich sicher, dass die Menschen, die einander im Fahrstuhl auf die schlecht beleuchteten Schuhe schauen oder im Treppenhaus an ihren Schatten vorbeistolpern, einander nicht kennen. Nach all den Jahren, ist doch irgendwie seltsam, ist man versucht zu denken. Ich bin mir bewusst: das ist auch bei uns nicht anders, obwohl die Bürogebäude in der Schweiz sogar nachts und am Wochenende grell ausgeleuchtet sind. Damit der Securitas-Wächter kein SUVA-Fall wird.
Wir sind anders. Soviel steht fest. Sie auch. Dafür muss man nicht ins Ausland gehen. Mir ist auch klar, warum wir bei uns ein erstes Stockwerk haben. Wir wollen nichts geschenkt. Was man sich nicht erarbeitet, gehört einem nicht. Ein guter Schweizer senkt den Blick vor einem Berg, den er noch nie bestiegen hat. Jedenfalls gehörte sich das so. Etwas mehr Bescheidenheit und Zurückhaltung in der Beurteilung anderer Lebensformen stünde uns ebenfalls gut an. Man kann ja das, was anders ist, auch einmal ganz einfach als etwas anderes zur Kenntnis nehmen.
Meistens finden Phänomene, die man nicht auf Anhieb versteht, später eine plausible Erklärung. Mir ist zum Beispiel aufgefallen, dass sich hier sehr viele Restaurants, Cafés und Bars im Souterrain befinden. Man geht ein paar Treppenstufen hinab und tritt in einen Raum mit Oberlicht. Von keiner Aussicht abgelenkt kann sich der Gast ganz auf sein Essen konzentrieren, auf die Person, die er zum Essen eingeladen hat, oder auf den Sportbericht. Letzteres allerdings nur, wenn das oft nur spärlich vorhandene Licht zum Lesen ausreicht.
Ein so genutztes Tiefparterre verändert das Verständnis des ganzen Gebäudes. Das darüber liegende Geschoss wird nicht mehr als Erdgeschoss, sondern als Hochparterre wahrgenommen. Man spricht dann manchmal von halben Geschossen, wobei ich mich bei diesem Begriff stets gefragt habe, wer sich da aufhalten soll. Man will ja niemandem zu nahe treten und mit halben Personen rechnen.
So einfach ist es ja auch hier nicht. Das Erdgeschoss gilt nur dann als Hochparterre, wenn es mit der Erdoberfläche nicht ebenerdig ist. Das ist in der Regel dann der Fall, wenn das Souterrain befenstert ist. Anders geht das nicht. Hat der Gast noch einen Wunsch? Nein danke, die Rechnung bitte. Und wo ist die Toilette?
Dort angelangt, fühlt man sich dann definitiv im Keller, weil es kein Fenster hat. Womit das Lüften schwierig wird und sich nebenbei die Frage stellt, ob man sich ganz ohne Treppen zu steigen vom Tiefparterre in den Keller bewegen kann. Das dürfte architektonisch eigentlich nicht möglich sein, obwohl es philosophisch interessant erscheint und man es praktisch gerade getan hat.
Um zum Schluss zu kommen: Ich bin noch nicht lange genug hier, um irgendetwas schlüssig beurteilen zu können. Für den Moment neige ich zur Annahme, dass die Stockwerkdiskussion den Menschen hier irgendwann zu mühsam geworden ist. Sie mochten es nicht jedem Touristen einzeln erklären und wollten auch untereinander wieder über andere Dinge sprechen, als darüber zu spekulieren, ob die Abwanderung der Jungen ins Ausland mit den unklaren Stockwerkverhältnissen und dem fehlenden Licht im Treppenhaus zu tun haben könnte. Nicht jeder will Portier werden. Sie waren dieser Diskussionen überdrüssig und haben irgendwann das 1. Stockwerk abgeschafft, um ein Zeichen zu setzen. Es reichte ganz einfach. Und es geht ja auch ohne.
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