(Zur Möglichkeit einer Besuchsreise an braufreien Tagen – an Stelle eines Leserbriefes)
Sehr geehrter Herr Hermann,
ich habe Ihren Artikel über die Lemken mit Begeisterung gelesen, und ich bin kein Mensch, der sich billig begeistern lässt. Was für ein Volk, das Kräuterstaub auf seinen Bierschaum streut und auf den Boden des Bierglases ein Schnapsgläschen stellt. Ich wusste sofort, dass ich Ihnen schreiben würde, um Ihnen spontan zu gratulieren für diesen gelungenen Artikel, mehr noch für dieses fast verschwundene Volk, das Sie uns in Erinnerung rufen, obwohl wir es nie vergessen haben. Wir haben ganz einfach nie etwas davon gewusst. Ich jedenfalls nicht. Vielleicht konnte es deshalb fast ganz verschwinden. Lässt sich diese bedauerliche Entwicklung noch aufhalten?
Lieber Herr Hermann,
leider verfüge ich nicht über Ihre Anschrift, weshalb ich mich an Ihre Zeitung wenden muss, wobei ich Ihnen versichern möchte, dass ich sonst nie Leserbriefe schreibe. Es ist nicht meine Art. Ich lese sie auch kaum und als ich es vor vielen Jahren einmal tat (ich war in den Ferien auf einer kleinen Insel ohne Druckerschwärze), weil es buchstäblich nichts anderes zu lesen gab, habe ich mich gefragt, ernsthaft gefragt, ob ausser mir dieses eine Mal in den Ferien überhaupt je jemand Leserbriefe liest, die er nicht selber geschrieben hat. Am ehesten hätte ich dies vielleicht meiner Mutter zugetraut, die selber ab und zu Leserbriefe schrieb (ich habe sie aufbewahrt und kann sie Ihnen bei Gelegenheit und einem Glas lemkischem Bier einmal zeigen).
Meine Mutter kümmerte sich um das, was in ihrer nahen Umgebung vor sich ging, sie nahm Anteil daran, und wenn sie das Gefühl hatte, sich dazu äussern zu müssen, weil es sich ihrer Ansicht nach in die falsche Richtung entwickelte und weil sie etwas Vernünftiges dazu zu sagen hatte, tat sie es. Mein Vater funktionierte anders. Er las über die ganze Welt und ärgerte sich in unserer Wohnung. Er hätte nie einen Leserbrief geschrieben. Das lemkische Bier hingegen hätte er probiert. Und er hätte nachgeschaut, wo Krynica-Zdroj liegt. In einem sperrigen Atlas, denn damals gab es noch kein Internet.
Lieber Herr Hermann,
am meisten fasziniert, ich gebe es zu, hat mich das von Ihnen erwähnte Unterscheidungsmerkmal, dass sich nämlich die Bojken, ein anderes in ihrem Artikel urplötzlich auftauchendes fast verschwundenes Volk, von den Lemken nach dem Wort für „weil“ unterscheiden lassen, welches auf Lemkisch „lem“ und auf Bojkisch „bo je“ lautet. Das ist so gut, dass es erfunden sein könnte.
Man möchte am liebsten gleich Ferien eingeben und zunächst in die polnischen Beskiden fahren und danach in die Ostkarpaten. Oder umgekehrt oder gleichzeitig. Ich bin mit der dortigen Geografie nicht vertraut. Leider geht das aber im Moment nicht, und ich befürchte, weil ich mich kenne, dass ich es nicht schaffen werde, irgendwann hinzufahren, um selber nachzusehen, was los ist. Ich werde mir nicht einmal Mühe geben, eine Ausrede zu finden. Ich werde mich einfach mit anderen Dingen beschäftigen lassen. Vielleicht mit einem anderen Artikel in der Rubrik „Aufgefallen“, der mich kurz faszinieren wird. Dann werde ich ihn wieder vergessen, wie die von Ihnen erwähnten beiden Völker. Trotzdem reut es mich im Moment noch, dass es nicht klappen wird. Können Sie mir die Lemken vielleicht irgendwann an ihren braufreien Tagen auf einen Kaffee herschicken? Viele können es ja nicht mehr sein. Reicht ein bequemer Reisebus? Selbstverständlich sind mir die Bojken auch willkommen. Ich ändere schon mal das Asylgesetz, falls sie ein wenig länger bleiben wollten, und mach den Kaffeetisch frei.
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