Die Fläche von Flüssigkeiten im Vergleich zu ihrem Aufenthalt in Gefässen

Es habe Robert Musil, so las ich heute in einem Zeitungsartikel, inklusiv Vorgespräche mit seiner Frau einmal einen ganzen Tag gekostet, um dreiseitige Briefkonzepte zu entwerfen mit dem Ziel, sie gegen Vorwürfe zu verteidigen. Zeit, die ihm, so kommentierte der Verfasser des Artikels diese Berechnung, für den „Mann ohne Eigenschaften“ fehlte.

Ich sass über Mittag in einem Café in Riga und ass ein Sandwich, als ich den ansonsten interessanten Artikel über Musil und sein fotografisch dokumentiertes Auftauchen in einem Gerichtssaal in Berlin las. Ich stolperte buchstäblich über diesen blödsinnigen Satz und war froh, dass ich schon sass, weil ich sonst garantiert hingefallen wäre, mein Kaffee über den Boden verteilt (ich staune immer wieder über die Fläche von Flüssigkeiten im Vergleich zu ihrem Aufenthalt in Gefässen) und mein Sandwich im von draussen hereingetragenen Dreck, denn es regnete.   

Musil hätte sich, so stand weiter oben im Artikel geschrieben, bei Angriffen auf seine Frau wie ein Ritter für seine Dame geschlagen. Na gut. Das lassen wir als Eigenschaft durchgehen. Ritterlichkeit. Sich vor seine Frau stellen und sie verteidigen gegen die Welt. Schön. Das erwarten wir im Rahmen einer Partnerschaft sogar heute noch so, wo die Frau selbst ihren Mann stellt.

Was aufstösst und was, wie ich vermute, auch Musil aufgestossen wäre, aber ich bin nicht sein Biograf, ist die Verrechnung der Zeit eines Schriftstellers. Wie viel besser wäre Anna Karenina geworden, wenn Tolstoy die einzelnen Kapitel noch einmal sorgfältig überarbeitet hätte, bevor er sie der Zeitschrift „Der Russische Bote“ zur Veröffentlichung übergab, anstatt zwischen 1873 und 1877 hochgerechnet jeden Winter rund 12 Stunden (einen ganzen halben Tag!) damit zu vergeuden, sich die tropfende Nase abzuwischen? Es kümmert doch heute keine Sau, lieber Leo, wie das womöglich ausgesehen hätte, wenn Deine Rotze dauernd auf Deinen Mantel getropft wäre. Es geht um Dein Werk. Alles andere hättest Du Dir schenken können. Hörst Du mir überhaupt zu?

Oder Günter Eich. Du meine Güte. Wie unheimlich knapp und genial verdichtet wären seine Gedichte, hätte er darauf verzichtet, immer wieder mit Ilse Aichinger zu plaudern? Und wie gewaltig erst würde ihr eigenes Werk heute nachwirken, wenn sie ihn, wenn er sie wieder einmal tratschend versäumen wollte, konsequent ausgebremst hätte („Halt die Klappe, Gü! Mach erst mal Dein Werk fertig.“).

Man stelle sich für einen kurzen Moment die Weltliteratur vor, wenn sich unsere Lieblingsschriftsteller auf ihr Werk konzentriert hätten, anstatt auf das Leben. Alles, was uns jetzt schon begeistert, obwohl die sich dauernd ablenken liessen, diese hochbegabten Trottel, wäre noch einmal unheimlich viel tiefsinniger, spannender, poetischer und – gerade jetzt, wo die Tage kürzer und die Nächte länger werden, ein wichtiger Aspekt – umfangreicher geworden. Nur schon die Leiden des jungen Zoowärters in 24 Bänden. Einfach Fabelhaft. Ich könnte mir weitere Beispiele vorstellen, aber ich muss hier aufhören, denn auch ich vergeude meine Zeit, obwohl ich nicht wirklich weiss, was ich sonst mit ihr anfangen sollte.

 

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