Fernes Trommeln

Was machen eigentlich Verteidigungsminister, so den lieben langen Tag? Sie verteidigen das Land. Und wenn gerade keiner angreift, verteidigen sie die Armee. Die Ausrüstung der Armee. Die Idee der Armee. In unserem Fall die Idee der Milizarmee. Ein Durchschnittsbürger, so konterte neulich unser Verteidigungsminister die Kritik an der Monotonie des Militärdienstes, leiste in seinem Leben etwa 10‘000 Arbeitstage. Die seien auch nicht alle spannend. Gedämpftes Gelächter im Saal. Keiner lässt sich gerne dabei ertappen, wie er über einen guten Spruch seines Gegners lacht.

Ich hätte laut gelacht und muss sagen, der Minister hat Recht. Nicht jeder Tag meines bisherigen Berufslebens war spannend. Ich hätte an vielen Tagen ebenso gut irgendwo auf Befehl in einem imaginären Bereitschaftsraum in einem Schützenpanzer sitzen und vor mich hin dösen können, darauf wartend, dass der Feind aus dem Osten endlich angreift, um mein Warten, meine Bereitschaft, meinen Schützenpanzer und die Armee zu rechtfertigen.

Aber wahrscheinlich wäre sogar dann nichts passiert, wenn ich Berufsmilitär geworden und die ganze Zeit nur den Ernstfall simuliert, beübt und erwartet hätte. Mir ist völlig klar: eine Armee ist wie ein nationaler Regenschirm. Man hat sie dabei, damit es keinen Krieg gibt. Und zwar am besten Hyundai, mit allem erdenkbaren Zubehör. Das darf dann ab und zu auch ein Bisschen monoton sein. Regen ist auch monoton. Schirme sind monoton. Alles ist monoton, wenn man es lange genug machen muss. Ewiges Warten ist wahrscheinlich vergleichsweise spannend, weil einem das, was nie kommt, nie langweilig vorkommen kann.   

Auch die Kritik an den hohen Kosten wehrte unser Verteidigungsminister locker ab. Sie perlte an ihm ab wie ein Regentropfen an einem gebohnerten Stiefel. Unsere Armee koste, rechnete er den Nörglern nüchtern vor, weniger als was Herr und Frau Schweizer für ihre Motorfahrzeug-Haftpflichtversicherungen ausgebe. Einer der Journalisten wies darauf hin, er sei mit dem Fahrrad gekommen. Die anderen tippten etwas in ihr iPad (auf dem Heimweg Hustensirup kaufen).

Ich weiss nicht, was wir Schweizer insgesamt für unsere Motorfahrzeug-Haftpflichtversicherungen ausgeben. Es gilt hingegen als gesicherte Erkenntnis, dass wir überversichert sind. Kann man daraus nun den Schluss ziehen, dass wir auch überverteidigt sind? Oder lag es womöglich an mir, dass nicht alle meine bisherigen Arbeitstage spannend waren? Kann ich es für die Tage, die mir noch bleiben, ändern?

Juan Ramón Jiménez hat in einem seiner Gedichte dazu geraten, man solle jedem Tag ein Geheimnis abringen, klein oder gross. Vielleicht war ich oft zu träge, um den Tagen ihre Geheimnisse abzuringen. Sie drängen sie uns ja nicht auf. Sie werfen sie uns nicht nach. Sie verstecken sie aber auch nicht alle gut. Kleine Geheimnisse legen sie wie zufällig aus, irgendwo in den Stunden, zwischen den Minuten, damit wir sie mit ein wenig Neugier und Aufmerksamkeit entdecken können. Grössere Geheimnisse kann man ihnen abringen wie einem lieben Hund, der so tut, als wolle er seinen Stock nicht hergeben. Jetzt gib endlich her, Du Tag. Gib aus!

Oft lassen wir die Geheimnisse am Wegrand liegen, weil wir tüchtig unterwegs sind durch den Tag, uns dabei aber ebenso oft tüchtig täuschen, indem wir meinen, irgendwo erwartet zu werden, wo es ohne uns nicht weitergeht. Anstatt Neues zu entdecken, fallen wir schon wieder unseren alten Irrtümern anheim, und wenn es dunkelt, sammelt der teilnahmslose Tag seine unentdeckten Geheimnisse wieder ein und verschwindet mit ihnen um die ewige Ecke der Zeit.

Nur manchmal, wenn wir wach genug sind, aufmerksam genug, sorgfältig genug, oder einfach Glück haben und über eines der Geheimnisse stolpern wie ein Kind über ein Osterei, dann bleibt es bei uns, und wir finden es wieder und wieder.

Heute lese ich zum Beispiel die Konzertkritik eines Auftritts von Stephan Eicher im Zürcher Volkshaus. Die Musiker seien, schreibt der Kritiker, nach dem letzten Lied („Disparaître“) einzeln verschwunden, indem sie den Saal durch das begeisterte Publikum verlassen und dabei wie eine Guggenmusik weitergespielt hätten. Das katapultiert mich unmittelbar ein Vierteljahrhundert zurück und ich gehe mit meinem Vater nach einem gemeinsamen Nachtessen durch das Zürcher Niederdorf, die Hände in den Taschen. Es ist Februar und beinkalt. Fastnachtszeit. Ein einsamer Trommler steht vor dem Malatesta und beginnt, als wir auf der Höhe des Lokals sind, zu trommeln. Mein Vater und ich bleiben stehen und hören ihm zu. Nach einer Weile kommt ein Musiker aus dem Lokal und gesellt sich zu ihm. Dann noch einer. Und noch einer. Er trommelt einen nach dem anderen heraus, bis seine ganze Gugge um ihn versammelt ist. Dann ziehen sie musizierend weiter.
 

 

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