Manchmal ist das Leben wie ein lettischer Winter: halb so schlimm, wie befürchtet. Was hatte man uns gewarnt vor meterhohen Schneemauern und Verwehungen bis ins Wohnzimmer bei konstanten minus 27 Grad im Schatten eines schwer in Gang zu haltenden Kaminfeuers.
Autofahrer, die sich auf Kreuzungen hinaus tasten, weil links und rechts der Schnee wie eine Hauswand den Blick versperrt, und wer auf einer kleinen Nebenstrasse abbiegen will, muss Gas geben, um es mit Anlauf aus der Fahrrinne zu schaffen.
Es war dann alles, nicht zum ersten Mal in meinem Leben, viel weniger dramatisch. Ab und zu minus 18, einmal minus 20 Grad, und Schnee schon, aber in überschaubaren Mengen. Nicht mehr auf ein Mal, als eine ältere Frau jeden Morgen wegschaufeln kann. Keine zugeschneiten Kreuzungen und beim Autofahren herrschte Sichtkontakt. Viel Matsch, wenig Eis, und das Abbiegen auf einer Nebenstrasse in ein sich automatisch öffnendes Tor klappte problemlos, solange die Fernsteuerung funktionierte.
Die ältere Frau war die letzten Monate das erste Geräusch am Morgen. Wie sie den Schnee wegschiebt. Ramasch, ramasch, ramasch. Ich dachte zuerst, dass geht gar nicht. Dass ich im Morgenmantel Kaffee schlürfe, während sich einen Stock tiefer eine ältere Frau mit dem Schnee abmüht. Und weil sie nur Russisch kann, kann ich mich nicht einmal richtig bedanken. Sie lächelt, wenn ich ihr trotzdem danke und ihr einen schönen Tag wünsche. Ich werde ihn selber schaufeln, den lettischen Schnee, dachte ich im Juli, als ich hier ankam, und mir einen Hexenschuss holen.
Aber als es kälter wurde, erklärte man mir, dass sie das Geld brauche, die ältere Frau, und dass sie Stella heisse und zufrieden sei, diese Arbeit zu haben. Ich kam mir trotzdem seltsam vor und komme es noch. Irgendetwas stimmt hier nicht, dass die Dinge so sind, wie sie sind. Und irgendetwas stimmt wahrscheinlich mit mir nicht, dass ich sie so lasse. Ich erinnere mich an die Anekdote vom Mann, der irgendwo in Asien ein Klavier auf seinem Buckel trägt und die Leute, denen er auf dem Gehsteig entgegenkommt, weichen ihm aus, anstatt ihm zu helfen.
Ich könnte jetzt nachschauen, wer diese Anekdote wo erzählt hat. Es sei schlimm, woran wir uns gewöhnen, war das Fazit dessen, der sie erzählte. Ich teile diese Meinung, gehe dieser Sache aber nicht mehr nach, sondern aus dem Weg, denn ich sitze bereits wieder zwischen Kartonschachteln und bald werden sie meinen Computer einpacken.
Manchmal ist das Leben wie ein lettischer Winter. Irgendjemand erzählt Dir die verrücktesten Sachen, weil er sich interessant machen will. Weil er denkt, wenn er Dir sagt, alles sei dort eigentlich ganz normal, würdest Du ihn für langweilig halten und die Reise für überflüssig. Verstehen Sie, was ich meine? Wahrscheinlich war ich wieder zu langfädig. Zu kleinflockig. Ich wollte eigentlich nur auf Wiedersehen sagen, während es draussen schneit und schneit und schneit. Es hört bestimmt nicht mehr auf.
Kommentar verfassen