An einem neuen Ort

Oberflächen sind oft hart. Wer hinfällt, könnte ein Lied davon singen, anstatt zu fluchen. Dass Oberflächen widerstandsfähig sein müssen, leuchtet ein. Die Natur ist wahrscheinlich als sie jung war ein paarmal auf den Kopf gefallen, aber sie hat ihre Schlüsse daraus gezogen und ihn abgehärtet. Wenn Oberflächen weich wären wie Unterflächen, wären sie rasch keine Oberflächen mehr. Sie würden den äusseren Einflüssen nicht lange widerstehen. Aber sie sind über der Unterfläche. Sie sind Oberfläche. Das verhält sich ja auch mit uns Menschen so. Die Haut ist ein Bisschen strapazierfähiger als das Fleisch darunter, unser Verhalten ein wenig cooler als die Befindlichkeit.

Unter der Oberfläche, in unserem Innern, sind wir alle verletzlicher, als wir uns gegen aussen präsentieren. Im Kern sind wir traurige, von einem frustrierten Erwachsenen verratene und verlassene Kinder. Wir warten darauf, dass wir zu uns zurückkehren um endlich wieder zu spielen.

Vor ein paar Tagen habe ich in Kappadokien Höhlensiedlungen und Untergrundstädte besucht, in denen sich in Zeiten erhöhter Gefahr mehr als zweitausend Menschen über Monate hinweg mit Vieh und Kind und Kegel versteckt hielten. Bewohner der Höhlen waren zuerst die Hethiter, die ihre 1000 Götter mit in die Höhlen nahmen, wodurch es eng wurde, und später von den Römern verfolgte Christen, die mit ihrem einen Gott etwas mehr Platz hatten.

Weshalb stürzt das alles nicht ein, habe ich unseren alten Führer gefragt, wo das Gestein doch offensichtlich so weich ist, dass sich jeder müde Hethiter und jede flüchtige Christin im Handumdrehen eine Höhlenwohnung aus dem Berg schnitzen konnte? Halt mir mal kurz das Kind, ich grab uns noch ein Zimmer. Warum sehen wir das alles noch, dreitausend Jahre später, diese ausgehöhlte Landschaft?  Weshalb hält das so lange? Habt ihr einen Fixierspray?

Der alte Mann war so höflich, dass er sich seine Bestürzung über meine totale Ignoranz nicht anmerken liess. Er erklärte mir geduldig, dass dieses Gestein Mineralstoffe enthält, die mit der Luft reagieren und sich dabei verhärten. Wirklich cool, diese Natur. Cool und hethiterfreundlich. Fair mit den flüchtigen Christen. Wir basteln eine selbsthärtende Oberfläche mit Nura Natura.

Eine andere harte Oberfläche ist mir neulich auf dem kurzen Weg von der Botschaft in die Residenz begegnet. Wenn ich die Treppe nehme, die der Tiefgarage entlang zur Botschaft hinunter führt, gibt es nach dem ersten Treppenabsatz einen Niveauunterschied, eine Art Mini-Stufe, über die ich am Anfang auch bei Tageslicht regelmässig gestolpert bin.

Ich stolpere in unbekannter Umgebung regelmässig. Ich lasse normalerweise kein Hindernis aus. Der erwähnte Vierteltritt scheint mir nun aber besonders tückisch, nicht nur für einen Vielstolperer wie mich. Man erwartet ihn irgendwie nicht. Er sollte da nicht sein. Als ich dann einmal in pechschwarzer Nacht aus dem Büro nachhause ging, bin ich ganz hingefallen, der Länge nach, und habe die Härte der Steinplatten gespürt. Aber es geht mir nicht um das Hinfallen. Wir alle fallen. Darüber zu philosophieren, ist hinfällig. Es geht mir eigentlich auch nicht um die Härte von Oberflächen. Es geht mir ums Stolpern. Ich bin auch anderswo im Garten und auf der Treppe im Innern des Hauses am Anfang andauernd gestolpert. Am meisten beim Treppenabsatz auf halber Höhe zum 1. Stockwerk. Praktisch jedes Mal. Mein Körper fand in seinem Gedächtnis offenbar nichts Passendes, was ihm erlaubt hätte, die besonderen Masse dieses Treppenabsatzes von Anfang an im Griff zu haben. Also stolperte ich und stolperte und stolperte, bis mein Körper die Masse und Dimensionen der neuen Umgebung intus hatte und mich nun dahin schreiten lässt, als wäre ich hier aufgewachsen.

Das automatische Vermessen der neuen Umgebung, dieses sich Einmessen und Eingewöhnen, ist eine Bravourleistung unseres Systems. Ich bin stolz auf meinen Körper. Ich hoffe, er macht so weiter. Ich klopfe ihm auf die Schulter. Ich füttere ihn mit Süssem. Lass gut sein, sagt er zu mir. Soviel Lob ist ihm peinlich. Er funktioniert ja nur.

Das Ende des Stolperns signalisiert die Ankunft an einem neuen Ort. Du bist angekommen. Schön, dass Du jetzt auch da bist, Walter. Aber vergiss nicht: Stolpern ist ein Warnsignal, das einem bewusst macht, dass man sich auf unbekanntem Terrain bewegt. Wenn das Stolpern aufhört, muss die Wachsamkeit erhöht werden. Wer nicht mehr stolpert, muss aufpassen, dass er nicht fällt.

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