(die Sonde, das Weltall, der Mann)
Die Raumsonde Voyager 1, so lese ich, unterwegs im Weltall seit 1977, verlässt bald unser Sonnensystem. Ich kann mir darunter, ehrlich gesagt, wenig vorstellen, und ich versuche, mir in meiner Freizeit selber nichts vor zu machen. Es reicht völlig, dass ich in meinem Beruf oft genug so tun muss, als wüsste ich genau, worüber gesprochen wird. Hier darf ich es sagen: sorry, ich check’s nicht.
Es wird auch nicht besser, wenn ich mir Grafiken anschaue, auf denen die Welt als Punkt dargestellt wird, nicht den Proportionen entsprechend, nur damit man sie überhaupt sieht, und das Sonnensystem geht dann am Rande der Graphik bei einer kreisförmigen Linie artig zu Ende, hinter der angeblich ein neues beginnt.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Sonnensystems so zu Ende geht. Schon eher franst es an den Rändern irgendwie aus oder es hat irgendwann einfach genug von der fast endlosen Weite, eine Art Ermüdungsbruch, und macht an der nächstbesten Biegung Halt, legt sich ins Gras, zieht die Schuhe aus. Ende der Galaxie.
Voyager 1, lese ich in der Sonntagszeitung, sendet immer noch Signale aus dem Weltall, reagiert aber nicht mehr auf blosse Zurufe. Ich habe es selber versucht. Es reicht, habe ich der Sonde nachgerufen. Ich hab’s begriffen. Du hast Deinen Punkt gemacht: das Weltall ist unendlich weit und dehnt sich noch weiter aus und ich habe überhaupt nichts geschnallt, noch nie. Weil Männer ohnehin nie etwas begreifen.
Die Sonde, das Weltall, der Mann.
Das sind die Signale, die ich noch immer empfange. Und wenn das Ding mit der Reichweite nicht wäre, würde ich die Hände schalenförmig an den Mund legen und der Sonde nachrufen: „Ich weiss. Es reicht jetzt. Du kannst umkehren.“
Aber ganz so blöd bin ich dann ja doch nicht. Ich weiss, dass sie uns nicht mehr hören kann. Und Umkehren war nie ihr Ding. Bald ist sie 40 und irgendwann wird sie ja wohl vernünftig werden und selber merken, was sie für einen Scheiss gebaut hat. Also winke ich ihr nach. Flieg doch weiter. Verlass doch die Grafik, wenn Du meinst,. dass Dir das gut tut.
Überhaupt. Was geht mich das an?
Unter der Oberfläche herrscht Chaos, lautete neulich der Titel eines Zeitungsartikels. Wunderbar, dachte ich, da hat sich jemand Gedanken gemacht über unseren nie endenden Kampf, dem chaotischen Leben irgendeine wenigstens temporäre Ordnung und damit ein kleines Bisschen Sicherheit und Geborgenheit abzuringen.
Der Titel erinnerte mich an ein Gespräch, das ich vor bald zwanzig Jahren mit der zweiten Ehefrau eines pensionierten Freundes in ihrer Küche in Maryland geführt hatte, während draussen alte Männer Tennis spielten. Alles, was der Mensch versuche, sagte sie ganz gelassen, während sie Kaffeewasser aufsetzte, sei, sich für einen Moment lang in einer möglichst unbeachteten Ecke dieses gewaltigen Chaos ein ganz persönliches Fleckchen Ordnung und Stabilität zu schaffen, wissend, dass unter dem dünnen Boden das Chaos lauert, das jeden Moment durchbrechen und uns hinab reissen kann.
Ich glaube, sie hatte Recht. Und es braucht kein Vulkanausbruch oder Erdbeben zu sein. Manchmal genügt ein Telefonanruf in einen Mittagsschlaf und die Welt ist danach nicht mehr dieselbe.
Es ging dann im Artikel aber nicht darum, sondern letztlich um Banalitäten. Eine Fachkommission hatte der Schweizer Regierung empfohlen, rasch gesetzgeberische Grundlagen für den tiefen Untergrund zu schaffen. Sonst kann ja jeder kommen und ein wenig Erdwärme anzapfen oder ein Bisschen Fracking betreiben, wenn gerade sonst nichts geht. Also wird der Bundesrat wohl nächstens Richtlinien für die Bewirtschaftung des tiefen Untergrunds erlassen. Beide Räte werden die Vorlage im Sitzen diskutieren und wir werden vom Ergebnis – irgendwann gibt es immer ein Ergebnis – laufend Kenntnis nehmen. Vielleicht aber auch nicht. Man kriegt ja gottseidank nicht alles mit.
Ich war 1977, beim Start von Voyager 1, noch nicht einmal zwanzig Jahre alt und kann beim besten Willen heute nicht mehr sagen, ob ich den Start der Sonde damals mitgekriegt habe. Wahrscheinlich ja nicht, weil darüber nicht im Sportteil berichtet wurde. Meine jüngste Tochter ist seit ein paar Tagen älter als ich damals war. Vielleicht kriegt sie mit, dass die Sonde bald unser Sonnensystem verlässt. Vielleicht kann sie auch mit der Grafik mehr anfangen als ich.
Ich bin unterdessen schon wieder in einem neuen Land eingetroffen. Ich bin daran, mir seine Eckdaten so gut wie möglich einzuprägen, bevor ich bald einmal das Transfersystem des Ministeriums verlassen werde, in das ich 1987 eingetreten bin. Manchmal ist es ein wenig anstrengend, stets mit dem Rücken zum Land, aber danke, es geht. Man weiss ja auch nicht, was danach kommt. Manchmal erhalte ich schwache Signale von Ehemaligen, die die Grafik bereits verlassen haben. Ich hoffe, ich verstehe sie falsch.
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