Zwischen einem Artikel über die bevorstehende Abstimmung zur schottischen Unabhängigkeit und einem, der die amerikanischen Mühen beschreibt, arabische Staaten für den Kampf gegen die Jihadisten zu gewinnen, steht in der NZZ am Sonntag ein Rennrad auf einem teuren, ganzseitigen Standplatz.
Es gehört, wen wundert’s, einer Versicherungsgesellschaft. Fast alles gehört, wenn wir einmal fort sind, einer Versicherungsgesellschaft. Wahrscheinlich schon vorher.
Das Rennrad ist mit sechs Schlössern gesichert, wovon eines besonders raffiniert das Vorderrad mit dem Vorderrad verbindet, obwohl jenes weder am Fahrradrahmen noch am Kandelaber festgemacht ist, an dem das Fahrrad angelehnt ist. Wer dieses Vorderrad stiehlt, so lautet die entmutigende Botschaft an potentielle Diebe, muss das Vorderrad samt Schloss mitnehmen.
Um Fahrraddieben keine Gelegenheit zu bieten, die Schlösser in Ruhe zu studieren und schliesslich zu knacken, wird das Fahrrad regelmässig umparkiert. Vor einer Woche stand es zum Beispiel zwischen Artikeln über Massenmorde im Irak und die rasend schnelle Ausbreitung von Ebola.
Der Besitzer des Fahrrads ist offenbar ein Mann von Welt. Zumindest liest er den internationalen Teil der Zeitung. Sonst würde er sein teures Fahrrad wohl ab und zu auch in den Rubriken „Schweiz“ oder „Zürich und Region“ parken und von da aus nachhause spazieren. Obwohl ich vermute, dass er zu denjenigen Zeitgenossen gehören könnte, die an der Börse spekulieren, steht sein Fahrrad nie zwischen den Kursmeldungen.
Dort findet man seltsamerweise weder Fahrräder, Luxuskarossen noch teure Uhren. Dort wird es offenbar ernst. Zwischen Kursen und Diagrammen wird nichts geduldet, was der Konzentration auf die Gewinnoptimierung abträglich sein könnte. Man muss sich durch eine Zahlenwüste durchkämpfen, bis man es endlich geschafft hat und sich an der unnachahmlichen Leichtigkeit des Sportteils laben kann.
Wir müssen hier nicht über die Werbung als unentbehrliches Fundament für die Presse diskutieren. Wir müssen überhaupt nicht diskutieren. Es ist Sonntagabend. Trotzdem kann die unmittelbare Nachbarschaft von versicherbarem Luxus zu Tod und Überlebenskampf befremden. Einer hat ein Luxusfahrrad und parkiert es, gesichert mit sechs Schlössern, zwischen Tod und Vernichtung.
In der Relativitätstheorie gibt es den Begriff des Ereignishorizonts. Ich kann das wie so vieles weder ganz verstehen noch richtig erklären, aber mich beeindruckt die Vorstellung, dass Ereignisse jenseits dieses Horizonts für Beobachter nicht mehr sichtbar sind.
Während man in der Relativitätstheorie unter „Ereignissen“ Punkte in der Raumzeit versteht, die durch Ort und Zeit festgelegt sind, handelt es sich in Gegenwart und Geschichte in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle um Scheusslichkeiten, die der Mensch dem Menschen antut. Die Skala ist in sämtliche Richtungen offen. Ein Blick in die Tagesnachrichten genügt.
Ähnlich wie in der Relativitätstheorie gibt es vielleicht in unserem individuellen Leben einen Ereignishorizont, jenseits dessen wir die Ereignisse nicht mehr wahrnehmen können. Wir erhalten sie zwar noch vorgesetzt, aber ab einem bestimmten Grad von Grausamkeit und nach zu häufiger Wiederholung finden sie jenseits unseres Ereignishorizontes statt, in einer anderen Welt, mit der wir nichts zu tun haben wollen.
In der Relativitätstheorie bildet der Ereignishorizont eine unüberwindbare Grenze für Information und kausale Zusammenhänge. Das trifft wahrscheinlich analog auch für unsere Aufnahmefähigkeit gegenüber dem Weltgeschehen zu, wo es uns zu brutal und zu grausam wird.
Der beobachtbare Teil des Universums liegt angeblich 47 Milliarden Lichtjahre entfernt. Licht klingt hell, Jahre kennen wir und sogar an Milliarden haben wir uns im Zeitalter des Grössenwahns gewöhnt. Trotzdem übersteigt das meinen Horizont.
Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass die Erkundung des Weltalls nicht allen gegeben ist. Die Tiefen des Weltalls sind kein taugliches Tagesthema. Die Konfrontation mit den menschlichen Abgründen wird uns hingegen täglich zugemutet, und das ist wahrscheinlich richtig so. Sie sind weniger weit entfernt und bevor sie in einem schwarzen Loch verschwinden, stürzen wir selber hinein.
Wir müssten irgendwann damit beginnen, uns mit dem zu beschäftigen, was schief gelaufen ist und immer noch schief läuft. Sechs Schlösser an unser geliebtes Rennrad zu hängen, wird nicht reichen.
15. September 2014 um 05:59
Very nice â dazu kann ich nur sagen
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Lieber Gruss HJ