Klein werden

Ich habe einen acht Jahre jüngeren Bruder. Dass er dieses Jahr 50 Jahre alt geworden ist, tut nichts zur Sache und kann eigentlich nicht stimmen. Wie wenn ein Stromzähler viel zu schnell surrt, anstatt langsam zu ticken. Die Geburtsurkunde gefälscht. Die Kerzen im Angebot. Was weiss ich. Jedenfalls höchst unwahrscheinlich wegen der Rückschlüsse auf mich. Ich habe ihn erst noch als Baby über das Balkongeländer unserer Wohnung im dritten Stockwerk gehalten, worauf er heute noch gerne gewisse Probleme zurückführt, wie etwa Höhenangst und Fussschweiss und andere Dinge, die er gar nicht hat. Dafür hatte er als Junge einen grossen Bruder. Oder mindestens mich.

Ich weiss nicht, warum genau ich das damals gemacht habe, das mit dem Balkon. Eine Mutprobe kann es nicht gewesen sein. Dafür war er zu klein. Ich glaube auch nicht, dass es irgendwie grausam von mir war. Eher idiotisch. Und natürlich gefährlich. Auch wenn ich heute sage, wenn wir darauf zu sprechen kommen und jemand findet es ganz schlimm: Beruhigt euch, Leute, es bestand zu keiner Zeit irgendwelche Gefahr für meinen kleinen Bruder.

Und dann merke ich natürlich gleich, dass ich wie der Sprecher einer Airline klinge, der einen gefährlichen Riss in der Cockpithülle so erklären muss, dass nach dem notgelandeten Jet auch das Vertrauen in die Airline nicht abstürzt. Aber natürlich war bei mir alles viel harmloser. Ich war acht Jahre alt. Ich hatte alles unter Kontrolle. Und warum hat mich meine ältere Schwester nicht gestoppt? Wenigstens von ihr hätte man ja erwarten dürfen, vernünftig zu sein. Nicht? Gut, ich nehme es zurück und entschuldige mich bei ihr. Ich will es ja auch nicht auf sie abwälzen. Obwohl sie mindestens zehn war.

Wahrscheinlich muss ich mich auch bei meinem Bruder nochmal entschuldigen. Vielleicht hört das mit den ständigen Ausreden dann endlich auf. Um Nietzsche nicht bemühen zu müssen, wofür man mich tadeln würde, zu Recht, sage ich lieber, seht her, mein kleiner Bruder hat trotz seinem grossen Bruder überlebt. Und nicht nur das. Er ist selber stolzer Vater von drei Kindern geworden. Und sein ältester Sohn hat weder seinen jüngeren Bruder noch dessen kleine Schwester über das Balkongeländer im 3. Stock gehalten.

Weil es keinen Balkon gibt im Haus, wo sie aufwachsen. Nur deshalb. Das wäre sonst garantiert passiert. Das ist eine Familientradition. Vielleicht sogar ein Höngger-Initiationsrhythmus oder so. Ich muss meine jüngste Tochter fragen, wie das genau heisst. Sie studiert Ethnologie und ist als kleines Mädchen auf einem Body-Surfbrett ausgerutscht, das ihr ältester Bruder verbotenerweise in die Sprudelbadewanne mitnahm. Sie hat sich das Kinn am Badewannenrand aufgeschlagen und Ich musste mit ihr ins Spital zum Nähen.

Mein ältester Sohn, der mit dem Surfbrett, hat mich vor fünf Monaten zum Grossvater gemacht. Seine Frau hatte zwei Kinder aus erster Ehe in die Partnerschaft gebracht, ein Mädchen und einen Jungen, was zur für mich verblüffenden Folge hat, dass die kleine Emily, denn so heisst sie, von Anfang an ältere Geschwister hatte. Die waren schon da, verstehen Sie?

Als ich bei meinem Sohn und seiner Familie zu Besuch weilte, sagte ich zu Emilys Bruder, einem echten Wildfang, als er einen Augenblick lang neben seiner Schwester innehielt: Das ist wunderbar für Emily, dass sie einen grossen Bruder wie Dich hat. Meine älteste Tochter wollte immer einen älteren Bruder, aber sie war das erste Kind und wir haben es nicht mehr hingekriegt.

Ich weiss nicht, ob er verstanden hat, was ich ihm sagen wollte, ob er es überhaupt ganz gehört hat, denn er war bereits wieder weg. Halt sie einfach nicht über das Balkongeländer, rief ich ihm nach. Wobei die Wohnung meines Bruders unter der Dachschräge liegt und gar keinen Balkon hat. Wie bei den Kindern meines Bruders: Gewisse Verfehlungen erspart einem die Architektur.

Später am selben Tag, vielleicht als mein Sohn und seine Frau gerade die Kinder zu Bett brachten (Emily hat einen singenden Mond), dachte ich kurz über das Konzept des grossen Bruders nach, und warum jede und jeder einen haben will. Ich bin mit einer grossen Schwester aufgewachsen und fand das schön. Ohne eigentlich.

Jedenfalls habe ich meinen grossen Bruder nie vermisst. Sie hat mich sogar mindestens einmal beschützt, meine grosse Schwester, als sie etwa elf und ich neun war. Ein uns vorher nicht bekannter Junge war zu uns in den Garten gekommen, und als es offensichtlich wurde, dass wir nicht mit ihm spielen wollten, sagte er, er könne Judo. Er trug auch einen weissen Bademantel mit einem Gurt und mir machte das ziemlichen Eindruck, aber meine Schwester fackelte nicht lange und vertrieb ihn mit der sogenannten Windmühle, wobei sie die Arme in hohem Tempo gestreckt vor sich rotieren liess, aus unserem Revier. Wir haben ihn nie wiedergesehen. Auch in späteren Jahren nicht anlässlich von Olympia-Übertragungen.

War es das? Jemanden zu haben, der einen beschützen konnte? Jemanden, der sich nicht vor Bademänteln fürchtete? Jemanden, der das Body-Surfbrett in die Badewanne mitnahm, obwohl es die Mutter ausdrücklich verboten hatte? Und warum reichte dann eine grosse Schwester nicht, die das ja auch konnte? Was immer es ist, was einen grossen Bruder zu haben dermassen schön macht, dass alle einen wollen: Hatte ich es? Gab ich es meinem kleinen Bruder? War ich ihm ein grosser Bruder? Oder war er stets nur ein kleiner, und ich nie wirklich sein grosser Bruder, nur älter?

Ich habe ihm viel zu verdanken, meinem kleinen Bruder. Das Kind in mir, das auch heute noch bei mir ist und zu dem ich umso mehr Sorge trage, je älter ich werde (ich würde es nie über ein Balkongeländer halten, nicht einmal im ersten Stockwerk), hätte ohne ihn damals einen schweren Stand gehabt, als ich und meine Kameraden in die Adoleszenz gerieten, in den Pickelsturm der Mannwerdung. Dank ihm konnte ich unbeschwert und ohne Furcht vor dem Spott meiner Altersgenossen noch ein paar Jahre länger mit Lego, Match Box und Bauklötzen spielen. Ich tat es ja meinem kleinen Bruder zuliebe.

Einmal, als wir längst erwachsen waren (sogar er), erzählte er mir, wie er jeweils am Dorf- Grümpelturnier, bei dem sein grosser Bruder stets mit den anderen grossen Jungs in einem Team antrat, in kurzen Hosen und mit Turnschuhen auf der Böschung am Spielfeldrand sass und hoffte, es würde sich jemand ermüden oder verletzen und dann würde ich, sein grosser Bruder, ihn ins Team rufen. Das hat mich zu Tränen gerührt.
Es rührt mich noch jetzt. Weil ich es überhaupt nicht mitgekriegt hatte. Weder die Turnschuhe, noch die kurzen Hosen oder seine Bereitschaft, und schon gar nicht die Hoffnung, die er auf mich, seinen bewunderten grossen Bruder, gesetzt hatte, Jahr für Jahr, ich würde ihn in unser Team aufnehmen. Ich aber wetteiferte dem Turniersieg nach und war bemüht, in meinem Team möglichst gut zu sein.

Jahrzehnte später träumte ich ein paar Mal von diesem Turnier. Ich war entweder schon auf dem Platz und das Spiel lief an mir vorbei, weil ich nicht die richtigen Fussballschuhe trug, oder ich war noch zuhause, in der Wohnung meiner Eltern, wo ich mit meinem kleinen Bruder und meiner grossen Schwester nur ein paar hundert Meter vom Fussballplatz entfernt aufwuchs, und konnte meine Stollenschuhe nicht finden, obwohl das Spiel gleich beginnen würde oder vielleicht schon begonnen hatte. Immer derselbe Traum.

Ein Psychiater erklärte mir, es sei bei diesen Träumen um mein mangelndes Selbstvertrauen gegangen, darum, dass ich meinte, für das, was ich zu tun müssen glaubte (Tore schiessen?), nicht richtig ausgerüstet zu sein. Im übertragenen Sinn natürlich. Alles ist im übertragenen Sinn.

Vielleicht war ich auch nicht richtig ausgerüstet, um meinem kleinen Bruder ein richtiger grosser Bruder zu sein. Im übertragenen Sinn. Vielleicht war der Psychiater aber auch ein Schwachkopf und mein Bruder hat gar keine Erinnerung mehr daran, dass ich ihn über das Balkongeländer gehalten habe (im dritten Stockwerk).

Vor ein paar Wochen habe ich meinen Bruder und seine Kinder besucht. Mein Patensohn Moritz führte mich nach dem Essen in die Garage und zeigte mir den alten Puch-Velux, mit dem ich als 14-jähriger durch Höngg gefahren war. Ich hatte ihn damals meinem kleinen Bruder vererbt, und dieser hat ihn offenbar letzten Sommer in unzähligen Stunden wieder zum Fahren gebracht. Er habe ihn komplett auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt. Und oh Wunder, er fährt tatsächlich!

Mein Bruder (der begnadete Mechaniker, der die Hände unseres Vaters geerbt hat) seine Freundin, deren Tochter und seine drei Kinder schauten mir zu, wie ich mich nach 35 Jahren wieder auf mein altes Töffli setzte und um die Ecke der Singlistrasse verschwand, Easy Rider Melodien im Kopf.

Als ich einmal um den Block gefahren war und wieder in die Strasse einbog, schien mir von weitem, dass nur noch mein Bruder vor dem Haus stand, ein sechsjähriger Knirps mit Käsefüssen. Sobald das Motorrad zum Stillstand kam, würde ich ihn umarmen und nie mehr loslassen.

(12.08.2016)

Eine Antwort to “Klein werden”

  1. Anonymous Says:

    Der Vorteil ist bei einem grossen Bruder, und ich spreche aus Erfahrung, bei einem ,Seich‘ trägt immer der Aeltere die Schuld….

    Und wenn ich Trainer gewesen wäre, hätte die Jugend auf der imaginären Ersatzbank als Vorstopper sicher eine Chance erhalten,
    nicht nur dem Familienfrieden sondern dem umgepflügten Rasen zu Liebe ! Good old days.

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