Meine Frau kann Menschen erscheinen lassen. Nicht wie ein Zauberer, der vor Publikum auf einer Bühne einen Hasen aus dem Zylinder zieht (und dann noch einen und noch einen, wo kommen die Tiere bloss alle her?), und nicht genau dann und genau dort, wo sie will, aber sie kann an jemanden denken, und innerhalb weniger Tage läuft ihr die Person dann mit grosser Wahrscheinlichkeit über den Weg.
Es ist, als würde sie diese Menschen herbeirufen, und sie gehen dann irgendwo los und kommen unweigerlich in ihre Nähe, egal von wie weit her sie kommen müssen oder wie lange sie nichts mehr von ihr gehört haben. Ich weiss, das klingt verrückt, und ich kann’s mir ebenso wenig erklären wie das mit den Hasen. Oder noch viel weniger. Ein Zylinder mag einen doppelten Boden haben, der Magier greift durch den Tisch in eine Hasenkiste und greift sich ein paar lange Ohren. Aber einen Menschen herbeirufen, der vielleicht gerade noch in Atlanta an einem Kongress war und darüber nachdachte, seine Familie zu verlassen?
Bei unserem letzten Besuch in Tel Aviv hat ihr Bruder meine Frau gefragt, ob sie jemanden kenne, der bei der Firma Glanach arbeite. Glanach oder Galdach, ich habe mir den Namen nicht gemerkt. Ein Versicherungsunternehmen. Die hätten eine Stelle ausgeschrieben, sagte ihr Bruder, die ihn interessieren würde.
Sie wissen wie das ist. Wenn man 50 ist, muss man jemanden kennen in der Firma, der dem Personalverantwortlichen in den Arm fällt, bevor er die Delete Taste drückt und die Bewerbung nach einem kurzen Blick auf das CV löscht. Mit 50 ist man als Stellenbewerber so gut wie tot. Der Termin ist abgesagt bevor er zustande kommt. Ausser man kennt jemanden, der Hasen aus dem Zylinder ziehen kann. Oder man ist der Bruder meiner Frau.
Meine Frau hat kurz nachgedacht und dann geantwortet, nein, spontan kommt mir niemand in den Sinn, ich bin schon zu lange weg vom Business, aber ich werde nachdenken. Vielleicht kommt mir ja ein Name in den Sinn.
Dann mussten ihr Bruder und seine Familie gehen und wir haben mit meiner Schwiegermutter noch ein paar Partien Genial gespielt, während ihr Vater schon zu Bett gegangen war. Meine Schwiegermutter hat zwei von drei Partien gewonnen, obwohl das ein Spiel ist, bei dem sonst immer ich gewinne, und einmal wäre ja OK gewesen, aber zweimal hintereinander? Ich hätte ihr meine miesen Tricks nicht verraten dürfen. Sie ist schon von alleine smart genug.
Am nächsten Tag mussten wir früh raus, weil wir nachhause flogen. Auf dem Flughafen reichte es gerade noch zu ein paar Tomaten und einem Brötchen, bevor unser Flug ausgerufen wurde. Bei «last call» schnitt ich eine Tomate etwas zu rasch entzwei und meine Frau musste zur Toilette rennen, um die Spritzer von ihrem Kleid zu wischen. Als wir als Letzte in den Bus einstiegen, der uns zum Flugzeug brachte, begrüsste sie freudig überrascht einen Mann in unserem Alter. Jedenfalls sah es so aus, als sei sie überrascht.
Sie stellte ihn mit vor. Walter, das ist Jonathan. Jonathan Grünstein. Wir kennen uns von meiner Zeit bei Phoenix. Er arbeitet bei Glanach (Galdach?). Jonathan, das ist mein Mann. Ich drückte Jonathan die Hand als der Bus gerade losfuhr, und liess mich dann etwas zwischen die anderen Passagiere zurückfallen, um mich dort an einer freien Stange festzuhalten und Jonathan und meiner Frau beim Gespräch zuzusehen, obwohl ich mich ebenso gut an der Halteschlaufe gleich neben Jonathan und meiner Frau hätte festhalten können.
Hatte er Galbach gesagt? Konnte es tatsächlich sein? Es konnte. Als wir die Treppe zum Flugzeug hochstiegen, sagte meine Frau aufgeregt zu mir: Du glaubst nicht, wer das war!
Jonathan Grünstein? fragte ich mit einem leicht ironischen Unterton. Meine Frau beginnt oft Sätze mit «Du glaubst nicht, was mir gerade passiert ist» oder «Du wirst nicht glauben, wer mir gerade ein Whatsup geschickt hat».
Es scheinen in der israelischen Gesprächskultur fest verankerte Phrasen zu sein, um ein Gespräch zu beginnen oder eine Mitteilung zu machen. Ich habe diese Einleitungen mittlerweile als rhetorische Kniffe entlarvt, um die Aufmerksamkeit des Angesprochenen zu erheischen. Sehr oft stellt sich nämlich heraus, dass ich das, was gerade passiert ist, ohne weiteres zu glauben vermag und eigentlich wenig bis gar nicht überraschend finde. Aber ich habe zugehört und somit hat die einleitende Floskel ihren Zweck erfüllt.
Genau, Grünstein! Aber nicht irgendein Grünstein, Jonathan Grünstein. Und nicht irgendein Jonathan Grünstein, sondern Jonathan Grünstein von Galdach (Glanach?). Ist das nicht einfach unglaublich? Gestern fragt mich Oz, ob ich jemanden von der Firma Glanach (wir lassen es jetzt so) kenne, und ich sage nein, weil es viele Jahre her ist, dass ich mit denen Kontakt hatte, und heute läuft mir Jonathan über den Weg. Jonathan Grünstein, der bei Galdach (also doch!) arbeitet und den ich – wie lange ist das nun her? 20 Jahre? – den ich mindestens 10 Jahre nicht mehr gesehen habe. Das gibt es doch einfach nicht! Glaubst Du das? Welche Plätze haben wir?
12 E und F. Willst Du mir Deinen Mantel geben für in die Ablage? Nimm aber das Telefon raus.
Als wir sitzen, schreibt sie eine Mitteilung an ihren Bruder. Grünstein von Glandach (was jetzt?) am Flughafen getroffen. Unglaublich, nichtwahr? Hab ihm von Dir gesprochen. Sende Dir seine Koordinaten, sobald wir gelandet sind. Kuss, T.
Das ist doch wirklich verrückt, sagt sie zu mir. Ich habe ihn … zwanzig Jahr nicht mehr gesehen, beende ich ihren Satz.
Genau. Vielleicht auch nur zehn, aber dass ich ihn heute sehe, nachdem mich Oz gestern fragt, ob ich jemanden von dieser Firma kenne…. ein schier unglaublicher Zufall!
Die Durchsage des Maitre de Cabine dröhnt aus dem Lautsprecher, der sich wie immer direkt über unserer Sitzreihe befindet, und unterbricht für einen Augenblick unser Gespräch über das plötzliche Auftauchen von Jonathan Grünstein. Der Mann freut sich offenbar, uns mit seinem Team während des ganzen Flugs betreuen zu dürfen. Wir sollen uns getrost an ihn wenden, wenn wir irgendetwas brauchen. Und damit meint er uns alle. Sämtliche Passagiere dieses nicht kleinen, offensichtlich bis auf den letzten Platz gefüllten Flugzeugs. Grünstein, meine Frau, mich. Der Mann hat sich allerhand vorgenommen.
Ja, das ist wirklich ein unglaublicher Zufall, sage ich, als die Durchsage des Maitre de Cabine zu Ende ist. Aber eigentlich weiss ich, dass es kein Zufall ist. Es ist in den fünf Jahren, in denen ich meine Frau nun kenne, einfach schon zu oft passiert. Vielleicht fünf oder sechs Mal. Ich habe es mir nicht aufgeschrieben. Es ist schon mindestens ein halbes Dutzend Mal passiert. Beim ersten und zweiten Mal ist es mir nicht gross aufgefallen und ich hielt es wirklich für einen Zufall, dass jemand, an den meine Frau vor kurzem gedacht hatte, den sie mir gegenüber erwähnt hatte, dann wie aus dem Nichts aufgetaucht ist, ihren Weg gekreuzt hat.
Du wirst nicht glauben, wen ich heute bei der Wohltätigkeitsveranstaltung getroffen habe, Darling. Selma Tonkow! Du weisst, von wem ich rede, oder? Ich habe Dir doch erst kürzlich gesagt, dass ich von einer alten Studienkollegin geträumt hatte. Völlig grundlos. Ich hatte sie längst vergessen, wir haben uns 30 Jahre nicht mehr gesehen. Dann träume ich von ihr und heute steht sie vor mir, hier, in Ankara, of all places, wo weder sie noch ich wirklich hingehören. Wie kannst Du Dir das erklären? Gibt es so etwas?
Die Welt ist klein, mein Schatz, et le hasard fait bien les choses. So oder etwas Ähnliches habe ich wohl beim ersten Mal geantwortet. Und beim zweiten Mal, ich glaube es ging um einen Nathan Wasauchimmer, habe ich gesagt, ihr scheint ein besonderes Sensorium füreinander zu haben, ihr Juden, vielleicht weil ihr so oft in eurer Geschichte nur euch hattet, euch auf niemand anderen verlassen konntet, wenn ihr Hilfe brauchtet in der Diaspora (nicht einmal auf den Maitre de Cabine). Ihr spürt euch gegenseitig auf, ihr findet euch in der Menge, läuft euch über den Weg.
Meinst Du? Hatte sie geantwortet. Vielleicht hast Du Recht.
Aber dann ist es wieder passiert, und wieder. Es konnte kein Zufall mehr sein. Und auch wenn ich miterlebt habe, dass meine Frau aus hundert Meter Entfernung sagen kann, dass jemand jüdisch ist, und die fremde Person dann auf Hebräisch anspricht und sie antwortet ihr in dieser Sprache, so ist es etwas ganz Anderes, an jemanden denken oder von der Person träumen und sprechen zu können, und kurz darauf, innerhalb von Tagen, taucht sie auf.
Ich weiss, dass meine Frau mich nicht anlügt oder mir etwas verheimlicht. Sie würde nie eine Geschichte erfinden, oder mir gegenüber jemanden erwähnen, von dem sie weiss, dass sie ihn bald treffen wird, mit dem sie sich vielleicht sogar verabredet hat, und ihn mir dann, wenn er ihr oder uns über den Weg läuft, als zufällige Begegnung präsentieren. Das würde sie nie tun.
Ich schaue sie von der Seite an. Mittlerweile sind wir in der Luft und sie ist, wie sie das oft tut, kurz nach dem Start eingeschlafen. Ihr Profil hebt sich gegen das Abendlicht ab, das für einen Moment durch das Kabinenfenster hereinströmt, während die Maschine sich auf ihren Kurs dreht. Ich liebe sie.
Ich weiss nicht, ob sie es weiss, ob sie sich ihrer besonderen Fähigkeit bewusst ist und sie gezielt einsetzt, aber sie kann Menschen herbeirufen. Vielleicht ahnt sie es, aber sie will es nicht wahrhaben, es sich nicht eingestehen und sich nicht mit dem Gedanken beschäftigen, weil es unheimlich ist, eine solche Fähigkeit zu haben. Es ist eine Art Macht über andere Menschen. Eine Macht, mit der man in das Leben anderer Menschen, die man kennt oder einmal gekannt hat, eingreifen kann, als ob man sie steuern könnte. Wie geht man damit um? Darf man diese Macht anwenden? Und wozu?
Vielleicht weiss sie es nicht und ahnt es nicht einmal. Vielleicht weiss nicht einmal ihr Unterbewusstsein davon. Vielleicht hält sie es wirklich für unglaubliche Zufälle, wenn ihr Menschen über den Weg laufen, an die sie kurz zuvor gedacht hat. Menschen, die gerade noch weit weg waren, in jeder Beziehung. Vielleich ist sie jedes Mal von Neuem völlig verblüfft, wenn es geschieht. Wenn Nathan oder Selma plötzlich wie aus dem Nichts auftauchen, Baruch oder Kleinstein. Vielleicht merkt sie überhaupt nicht, dass sie den Hut in der Hand hält, aus dem der Hase springt.
Wir haben Jonathan Grünstein bei der Landung in Istanbul nicht mehr gesehen. Er flog Business und war somit längst aus der Maschine verschwunden, als wir noch geduldig bestaunten, wie die Frau aus der Sitzreihe vor uns ihre zwölf Duty Free Säcke aus der Ablage kramte.
Ich bin gespannt, ob ihr Bruder den Job erhält. Seine Bewerbung klingt gut. Er sieht jünger aus als auf dem Passbild auf seinem CV, als er dem Personalverantwortlichen gegenübersitzt. Es ist einer dieser Tage, an denen der Westwind Sand aus Nordafrika herüberträgt. Man kann nicht allzu weit sehen und alles wirkt wie mit roter Kreide gezeichnet.
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