Reisendes Licht

Ich kann es nicht, und falls Sie meinen, Sie können, dürfen Sie nicht. Es mir erklären. Denn Sie irren sich. Es mag ja plausibel klingen, was sie mir erklären würden, und sie kennen sich ganz sicher mit Spiegelungen und optischen Täuschungen extrem gut aus. Die Sache ist nur: das ist ein Engel, der in Berlin erschienen ist.

Ich sage nicht mir, denn ich weiss nicht mehr, ob ich das Bild gemacht habe. Gut möglich, dass es meine älteste Tochter war. Sie hat das ganze Haus fotografiert, als klar war, dass ich bald ausziehen würde. Meine Kinder haben dieses Haus geliebt. Sie sind mich jedes zweite Wochenende besuchen kommen. Eingeflogen aus der Schweiz. Und ich höre natürlich, wie Sie jetzt sagen, da haben wir’s: ein Mädchen hat mit Blitzlicht aus dem Fenster fotografiert. Von wegen Engel.

Nur war meine Tochter zum Zeitpunkt, als diese Aufnahme entstand, kein Mädchen in einem weissen Kleid, sondern eine 20-jährige junge Frau, und sie hat die Kamera normalerweise mit ihren Händen gehalten, nicht zwischen den Zähnen eingeklemmt.
Also lassen sie mich bitte in Ruhe mit ihren Gesetzen der Optik. Unterdrücken Sie ihren Spiegelreflex. Nehmen Sie einfach zur Kenntnis, dass im Herbst 2007 in Berlin-Charlottenburg ein Engel erschienen ist und sich von mir oder meiner ältesten Tochter fotografieren liess.

Ich möchte aber auch nicht, dass mein Engel (und noch viel weniger der Engel meiner Tochter) von jemandem vereinnahmt wird. Dies für den Fall, dass sich entgegen allen Gesetzen der Wahrscheinlichkeit unter dem halben Dutzend meiner Stammleserschaft jemand befinden sollte, der dauernd Engel sieht.

Oder falls jemand von ausserhalb auf diesen Eintrag gestossen ist, der sich sonst nie auf diesem Blog aufhält (der Engel übrigens auch nicht), der sich beruflich (ich bin sicher, es gibt Lehrstühle für Englistik) oder hobbymässig schon Jahrzehnte lang mit Engeln befasst und regelmässig «Engel in…» googelt, um seine Sammlung zu erweitern, so bitte ich inständig darum, wenn ich das darf, ohne rüde zu wirken: Raus hier!

Ich möchte weder anlehnende noch ablehnende, weder belächelnde noch beschwörende Reaktionen auf meinen Engel, und ich spreche da auch für meine Tochter. Ein Engel ist etwas unheimlich Zartes, viel fragiler noch als ein Mensch, obwohl wir ja auch nicht viel aushalten. Man sollte sich nicht an einen Engel anlehnen.

Man sollte Engel auch nicht kommentieren. Ich überlege gerade kurz, ob ich für diesen Beitrag die Option «Hinterlassen Sie einen Kommentar» deaktivieren soll. Aber dann ist es ja nicht so, dass mein Blog regelmässig von Kommentaren überflutet wird. Günter Eich würde dichten: „In St. Gallen / weiss ich einen, der mich kommentiert, / und in New York. / Das sind schon zwei.“ – und es würde ihm Zuversicht geben.

Mein Engel braucht weder Erklärung, Ablehnung noch Bestätigung. Er braucht nicht einmal Aufmerksamkeit. Er ist völlig bedürfnislos. Er ist ein Engel.
Und wenn ich das schreibe, fällt mir sofort wieder auf, wie wenig Sinn das männliche Geschlecht bei einem Engel macht. Ich weiss schon: der Erzengel. Gabriel und Konsorten. Aber schauen Sie sich dieses Bild an, auch wenn sie nicht daran glauben: ist das nicht eine wunderbare Engelin?

Sie kam im Herbst, denn man kann auf der Terrasse vor meinem Schlafzimmerfenster im ersten Stock die welken Blätter sehen. Es war Abend, und sie harrte auf der Terrasse aus, einen halben Meter über dem Boden schwebend, ausser das sind ihre Füsse und keine Regentropfen.

Ich will jetzt nicht sagen, sie wartete auf jemanden oder etwas. Ich glaube nicht, dass Engel warten. Ich glaube auch nicht, dass sie irgendetwas wollen, und es würde mich nicht sehr erstaunen, wenn sie ausser erscheinen überhaupt nichts können.

Das war jetzt mehr ein Gefühl, aber wenn ich es mir überlege, denke ich, es ist so, und dieser Befund erstaunt mich nicht nur nicht, ich finde ihn auch nicht enttäuschend. Engel können nichts ausser Erscheinen. Sie können keine Botschaften überbringen und schon gar nicht beschützen. Es gibt keine Schutzengel, so tröstend die Vorstellung auch ist. Engel sind völlig machtlos. Möglicherweise können sie nicht einmal bestimmen, wem sie wann erscheinen.

Ein einzelner Engel erscheint vielleicht Jahrhunderte lang nicht und dann innerhalb von wenigen Tagen gleich dreimal, wobei ihn vielleicht nur einmal jemand wahrnimmt. Ich mache jetzt keinen Exkurs über die Frage, ob es auch eine Erscheinung ist, wenn niemand sie wahrnimmt, und ich bitte Sie, auch keinen solchen Exkurs zu machen. Bleiben Sie hier, ich brauche Sie noch einen kurzen Moment.

Wahrscheinlich war es bei dieser Engelin genau ein solcher Fall. Sie ist in Charlottenburg erschienen, und niemand hat sie mitgekriegt. Egal ob ich oder meine Tochter das Bild gemacht haben: Ich vermute, ja ich bin mir sicher, dass man sie gar nicht sah. Sie erschien erst später auf dem Bild, als ob es zuerst hätte entwickelt werden müssen. In der digitalen Dunkelkammer.

Ich weiss, dass das völlig idiotisch klingt. Digitale Bilder basieren auf dem binären Prinzip, 0 oder 1. Dazwischen kann sich kein Engel entwickeln, auch wenn man die Aufnahme lange unbeachtet im Speicher des Computers lässt.

Und trotzdem ist der Engel erst später auf dem Bild erschienen. Ich kann es nicht mehr genau datieren, ich weiss nicht einmal mehr das Jahr, aber es war in meinem nächsten Land, nachdem ich von Deutschland nach Israel umgezogen war. Irgendwann habe ich dann an einem Sonntag beim Durchklicken durch mein Fotoarchiv das Bild mit dem Engel entdeckt. Ich dachte zuerst: das Spiegelbild meiner Tochter, wie sie den Blick aus meinem Schlafzimmer fotografiert, als sie knipsend von Zimmer zu Zimmer ging.

Dann sah ich die leicht vom Körper abgespreizten Arme an beiden Seiten und realisierte, dass das grelle Licht auf Kopfhöhe nicht das Blitzlicht ihrer Kamera sein konnte. Und dann begriff ich, dass diese Gestalt im weissen Hemd nicht meine Tochter war.

Dann machte ich etwas völlig Idiotisches. Ich versuchte, smarter zu sein, als ich bin. Ich begann, das Bild mit Fotoshop zu verändern. Wenn ich die Belichtung, den Kontrast, die Farbintensität und alles andere veränderte, so dachte ich, vielleicht würde ich dann das Gesicht des Engels sehen können.

Ich spielte also eine Weile mit sämtlichen Filtern und Parametern herum, bis ich einsah, dass es nicht funktionierte. Nur vergass ich am Ende, das unveränderte Original abzuspeichern, und speicherte stattdessen eine völlig verunstaltete Version ab, auf der man vom Engel nur noch Umrisse sah.

Ich ärgerte mich noch tagelang über meine Dummheit und jedes Mal, wenn ich in den nächsten Jahren wieder auf das bis zur Unkenntlichkeit bearbeitete Bild des Engels traf, ärgerte ich mich erneut.

Unterdessen sind einige Jahre vergangen. Ich war inzwischen ein paar Monate in Lettland stationiert und in einem halben Jahr werde ich bereits das Land verlassen, in das ich nach meiner kurzen Zeit in Lettland weitergezogen bin.

Vor ein paar Wochen habe ich in meiner Fotoschachtel gewühlt, und damit meine ich jetzt eine richtige Schachtel aus Karton, in der ich ein wildes Durcheinander von Fotos aufbewahre. Ich suchte ein bestimmtes Bild von meiner älteren Tochter, zu deren bevorstehender Hochzeit ich ein Album machen möchte.

Aber anstatt das Bild zu finden, das ich gesucht hatte, fand ich das Bild des Engels, der in Charlottenburg erschien. Es war ein absolut unerwarteter Augenblick des Glücks.
Ich war mir nicht bewusst gewesen, dass ich vor der missglückten Veränderung der Aufnahme ein Exemplar des Originals ausgedruckt hatte. Was für eine wunderbare Fügung.

Der Engel ist, wenn man so will, zuerst in Charlottenburg umsonst oder zumindest unbemerkt erschienen. Dann ist er ein zweites Mal in Ramat Gan erschienen, als ich ihn beim Durchklicken der Fotos entdeckte. Dann hat ihn der Versuch, sein Gesicht zu erkennen, wieder zum Verschwinden gebracht. Und jetzt ist er in Ankara ein drittes Mal erschienen, und ich bin unheimlich dankbar dafür.

Ich habe das Bild schon zweimal eingescannt und an verschiedenen Orten abgespeichert und ich hatte eigentlich vor, eine Reihe von Abzügen zu machen und an meine Kinder und Freunde zu versenden, damit ich den Engel nie mehr verliere, diese Lichtgestalt, die mir in drei Länder gefolgt ist.

Nun wird mir klar, wie sinnlos das gewesen wäre, und wie unnötig. Ich habe das Bild verpasst, verlegt und verloren und ich werde es wieder verlieren, egal, wie oft ich es abspeichere und kopiere. Der Engel aber reist mir nach, ob ich es merke oder nicht.

Eine Antwort to “Reisendes Licht”

  1. Andi Says:

    Engel lassen sich nicht verändern, auch nicht durch Basteleien an ihrem Bild; das habe ich eben gelernt. Es ist (auch das war mir nicht unbedingt klar) ein Glück, sie zu finden, und diesem Glück fügt keine Veränderung etwas hinzu. Und auch wenn sie bleiben, reisend über Länder hinweg, sind sie nicht anhänglich, sondern einfach da. Vielleicht sehen wir sie. In Ankara, in New York, in St. Gallen, wo immer sie leuchten mögen. Und dann auch, irgendwo zwischen den Blicken des Paares, an der Hochzeit Deiner Tochter.

    P.S. Das Haus in Charlottenburg – es war auch für mich ein wunderbarer Ort. Das muss auch mit einem wunderbaren Freund zu tun haben.
    P.P.S. Das passt nun zwar nicht ganz, aber eben habe ich an das Hawkline Monster gedacht: kein Engel, weit weniger zart, aber doch ein entfernter Verwandter, vielleicht.

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