Zweimal Bern retour (einfach ist das nicht)

1

Kann man sich verlaufen, wenn man nicht weiss, wo man hin will?
Ich spaziere durch diese Stadt, die ich ein wenig kenne, weil ich vor Jahren einmal hier gelebt habe (etwa 3 vor ungefähr15). Ein wenig kennen kann hilfreich sein, oder auch nicht. Man meint man weiss, wo man ist und was um die Ecke folgt, aber es ist dann nicht ganz so, weil die Stadt in der Nacht, als man wegzog, die Strassen und Häuser verschoben hat. Nicht alle, nur ein paar. Und absichtlich natürlich, um die zu bestrafen, die der Stadt den Rücken gekehrt haben. Meint ihr nur, euch auszukennen. Habt ihr jetzt vom Weggehen.

Eine Gruppe von alten Männern, um die siebzig, schätze ich, sitzt an einem Tisch in einem Strassencafé. Viel weisses Haar. Ich kann im Vorübergehen nicht hören, worüber sie reden.
Ich schnappe lediglich auf, wie einer sagt: „Er hatte alles bereitgelegt….“
Was? Und wofür?
Seine sieben Sachen, um ins Heim zu gehen?
Seine Papiere, bevor er aus dem Fenster sprang?
Worüber sprechen alte Männer, wenn nicht über Krankheiten, alt werden, eingeliefert und sterben?
Warum ist eigentlich Ernst nicht gekommen?
Ist er wieder gestorben?

Ich muss hier nicht lange spekulieren. In ein paar Jahren werde ich wissen, wovon alte Männer in Strassencafés bei ihrem Wochenstammtisch reden. Ich kann es dann ja aufschreiben, Wenn ich es nicht auf dem Heimweg vergesse.
Vielleicht muss ich es gleich am Tisch notieren.
Was schreibst Du da andauernd, Paul? Führst Du Protokoll?
Ich heisse nicht Paul.

Ich denke ich sollte, wenn ich mich in zehn Jahren noch daran erinnere, den Freunden eine Regel vorschlagen. Es wird nicht über Krankheiten, alt werden und sterben gesprochen. Das sind Tadaa!-Themen. Jedes Mal, wenn einer mit Krankheit, alt werden oder sterben anfängt, ruft der erste, der es mitkriegt: Tadaaaa! und der, der davon angefangen hat, muss dann eine Runde bezahlen. So werden wir alle rasch betrunken sein und können wieder nach Hause gehen oder ins Heim.

Eine andere Regel, die mir spontan einfällt, wäre, dass man nicht von der Vergangenheit reden darf. Nur von der Gegenwart und der Zukunft. Für alte Männer wäre das etwa so, als würde man einem Schwarm Fische verbieten, von Wasser zu sprechen. Wasser ist alles, was sie haben. Sollen sie von Luft sprechen? Ok, es ist mir klar dass der Vergleich hinkt. Ich mach ihm eine Krücke. Ein Fisch hat viel Wasser hinter sich und wenig Wasser vor sich. Er weiss aber nicht, wieviel Wasser er noch ach vergiss es.

Es ist einfacher in einer fremden Stadt. Man meint nicht, sich auszukennen. Aber mit dem Alter (Tadaaaa!) verwischen sich die Unterschiede zwischen Städten, in denen man gelebt hat (Tadaaa!), und völlig fremden Städten zunehmend. Ich fuhr gestern und heute zweimal mit der Strassenbahn am Haus vorbei, in dem ich im vierten Stock lebte. In zehn Jahren wird es wie ein Vergleich sein, der mir jetzt gerade nicht einfällt. Jedenfalls wunderbar. Ich werde fast in jedem Haus gewohnt haben. Und in keinem. Fast freue ich mich darauf. Dann beschliesse ich, noch zuzuwarten.

(Bern, 17.08.17)

 

2

Gestylt würde das wohl jetzt „Berner Impressionen, Teil 2“ heissen, aber auch dann würde niemand auf den dritten Teil warten. „Aufgefallen in Bern“ klingt völlig behämmert und „neulich in der Wüste“ würde überhaupt keinen Sinn machen. Also nenne ich es vielleicht „Muttis Lieblin“, obwohl sich auch andere Überschriften anbieten. Satzteile oder Worte blinken ja manchmal regelrecht und wackeln im Text herum, um sich als Titel zu empfehlen. Und man kann dann ja nur einen nehmen. Plus vielleicht einen Untertitel, mehr geht nicht.
Können wir jetzt anfangen?

Ich verbringe meine Nächte in Bern zum ersten Mal in einer airbnb-Wohnung anstatt im Hotel. Mehr als die Nächte ist denn wirklich auch nicht möglich, wie ich heute festgestellt habe, als ich in einer selber gebastelten Konferenzpause nach dem Mittagessen mein mir lieb gewonnenes Schläfchen machen wollte. Fehlanzeige.

In der Wohnung direkt nebenan nahmen sie die Badewanne raus. Mit dem Presslufthammer, dem Geräusch nach zu urteilen, und als die Badewanne endlich raus war, montierten sie gleich noch das Spülbecken ab und rissen dieTrennwand zum Schlafzimmer ein, weil sich die Wohnung mit offenem Bad viel teurer verkaufen lässt, und ich glaube sie gingen dann dazu über, alle Trennwände niederzureissen, weil ihnen plötzlich klar wurde, dass eine Loft, wo man im gleichen Raum schläft, kocht, kackt und vögelt noch viel mehr Geld einbringt. Ich war froh, dass sie kurz vor der Trennwand zu meiner Wohnung Halt machten, obwohl ich annehme, dass ihnen eine grössere Loft kurz durch ihr durchgerütteltes Hirn gegangen sein muss.

Einen Moment lang dachte ich daran, Stephan anzurufen, der mir seine Wohnung vermietet hat. Nicht um mich zu beklagen, man beklagt sich ja nicht wegen ein bisschen Baulärm, aber um ihn zu fragen, ob er davon weiss, dass sie rund um seine Einzimmerwohnung im Ostring gerade den ganzen Plattenbau auskernen und in eine monströse Loft verwandeln. Vielleicht hat er die entscheidende Eigentümerversammlung verpasst und hätte nun noch aufspringen wollen auf den lukrativen Zug.

Obwohl Zug bei dieser Wohnlage das falsche Verkehrsmittel ist. Der Ostring sieht der grössten Autobahnkreuzung der Welt ähnlich, über die ich vor ein paar Tagen einen kurzen Dokumentarfilm gesehen habe. Zufällig. Ich schaue sonst nie Dokumentarfilme über Autobahnkreuzungen. Die Kreuzung liegt in wo denn sonst China und ist wirklich fast unvorstellbar riesig. Sie hat so viele Zu- und Wegbringer, dass man sich fragt, wo das alles herkommt und hinführt.

Die Dokumentation zeigte einen pensionierten Schriftenmaler, der sich eine kleine Wohnung gekauft hatte, genau dort, wo jetzt seit fünf Jahren an der grössten Autobahnkreuzung der Welt gebaut wird. Obwohl sie schon lange die grösste der Welt ist, bauen die weiter. Wirklich eindrücklich. Das erklärt auch einen Teil des Erfolgs der Chinesen, denke ich. Dass die weiterbauen.

Der Schriftenmaler und seine Frau haben das Angebot der Regierung schliesslich angenommen und jetzt wohnen sie im 28 Stockwerk und schauen auf die Baustelle runter und die Autos, die auf den bereits fertiggestellten Abschnitten pausenlos fahren, in alle Richtungen. Den Ostring muss man sich ein wenig kleiner vorstellen, aber sonst ziemlich ähnlich, obwohl man Vergleiche nicht vergleichen sollte, schon gar nicht mit China.

Ich habe meinen Mittagsschlaf dann aufgegeben (ich kann so nicht träumen) und bin zurück an die Konferenz, die ein paar Busstationen entfernt in einem Fussballstadion stattfindet. Nicht auf dem Rasen natürlich, in der Mantelnutzung. Das ist ein Wort, das mir schon immer gefallen hat. Es zeigt den Fortschritt, wenn man an Mäntel aus der Jugend des Winters denkt (das hab ich gemeint: „aus der Jugend des Winters“ – das blinkt jetzt und ruft „Titel!“ – „Titel!“, und ich muss die ganze Zeile beruhigen und sage nur „sehen wir dann“.

Um fünf habe ich mich dann wieder aus der Konferenz zurückgezogen und wegen dem milden Sommerwetter beschlossen, die paar Stationen bis zum Ostring zu Fuss zu gehen. Mein mit Abstand bester Entscheid heute (habe ich überhaupt andere getroffen?).

Die Papiermühlestrasse ist lange und gerade. Ich bin mir sicher, dass da irgendwo einmal eine Papiermühle stand. Aber irgendwann hat jemand wahrscheinlich eine Loft daraus gemacht. Oder eine riesige Badewanne.

Wenn man am Schlosshalden links geht, also nicht runter zu den Bären, kommt man zum Rosengarten. Genau: ein Garten mit Rosen. Wunderschön, wirklich. Wenn man genug von den Rosen und vom Garten hat, kann man über die Altstadt blicken. Eine junge Frau hält ihren (?) Mann, der auf einer Mauer sitzt und die Beine in Richtung Altstadt baumeln lässt, von hinten fest umklammert, obwohl die Fallhöhe vorne einen halben Meter beträgt und er noch dazu in weiches Gras fallen würde.Die Umklammerung muss andere Gründe haben, aber ich frage nicht nach.

Der Park ist gut besucht, mehrheitlich von asiatischen Touristen die heftig fotografieren. Nach einer Weile bin ich zurück am Ostring. Die Auskerner haben ihr Tagwerk vollendet. Das ununterbrochene Rauschen und Dröhnen von der Autobahn her kommt mir wie wohltuende Ruhe vor, und ich merke wieder, wie relativ alles ist. Ausser China.

Kurz bevor ich an der Giacometti-Strasse angekommen bin, wo mich Stephan gegen ein kleines Entgelt in seiner Wohnung leben lässt, bin ich zum zweiten Mal heute an einem besonderen Tattoo-Shop vorbei gegangen. „Lebende Legend“ steht in grossen, feurigen Lettern quer über das ganze Schaufenster bis hin zur Türe. Als ich es am Morgen las, dachte ich, vielleicht mussten sie irgendwann die Glastüre ersetzen und haben dann vergessen, das „en“ auf die neue zu kleben. Kann ja passieren.

Aber vielleicht meinen die das wirklich so. Lebende Legend. Vielleicht hat mich das Schicksal hierher geführt und es ist dieser Tattoo-Shop, wo ich mir nach der Pensionierung mein erstes Tattoo stechen lasse. Muttis Lieblin. Quer über die Stirn.
Vielleicht wandere ich auch nach China aus und lass mir dort im achtundzwanzigsten Stockwerk eine Kreuzung tätowieren. Oder ich werde in meiner zweiten Karriere Auskerner und Loftdesigner.
Ich möchte mich noch nicht festlegen und hoffe, Sie verstehen das. Es ist einfach noch zu früh.

Ach ja, fast hätte ich es vergessen. Seit ich vor ein paar Tagen in der Schweiz angekommen bin, habe ich schon zwei grosse blaue Plakate gesehen mit Zitaten. Auf dem einen, an dem ich in St. Gallen im Postauto vorbeifuhr, stand: „Der Herr schenkt Dir Frieden“. Und darunter kleiner „die Bibel“. Jemand hatte darauf gesprayt „ noch bis Sonntag drei für zwei“. Auf dem anderen (hier am Ostring) steht: „Jesus ist immer bei Dir“. (die Bibel). Das hat noch keiner kommentiert. Und ich werde mich hüten. Mich und meinen Bruder, der mich morgen besuchen kommt.

Bern, 21. August 2017

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