Lawinchen

„Ich muss jetzt da runter“, sagte Lawinchen zu sich selbst und blickte grimmig talabwärts.
„Willst Du es Dir nicht noch einmal überlegen?“ hielt der Bannwald dagegen.
„Hier oben ist es doch am Schönsten. Und die paar mickrigen Hütten dort unten, die sind doch einer Lawine wie Dir gar nicht würdig…“
„Das haben wir doch alles schon hundertmal diskutiert“ antwortete Lawinchen mürrisch. „Meine Eltern finden, ich sei gross genug und die Zeit für den ersten Niedergang sei überreif. Ich muss jetzt wirklich da runter. Also mach Platz oder ich mach Dich platt!“
„Und was wird dann aus uns?“ riefen die Bäume des Bannwalds verängstigt. „Ist dir das völlig egal, was mit uns geschieht?“
„Klappe!“ fuhr ihnen der Bannwald über’s Maul. „Hier spricht nur einer mit Lawinchen, und das bin ich!“
„Alter Miesmacher…“ motzten die Bäume. „Despot!“, tönte es aus den unteren Reihen des Bannwalds. Und eine ganz kühne Föhre rief: „Macho!“.

“Platz da!“ rief Lawinchen, denn es hatte sich tatsächlich ein Herz gefasst und losgelassen. Mit viel Holterdipolter begann es, zu Tal zu donnern.
Die Bäume des Bannwalds reagierten sofort. Wie auf ein abgesprochenes Zeichen hin und ohne ein Kommando des Bannwalds abzuwarten (der ohnehin nur „Strammstehen!“ oder sonst so einen Scheiss gerufen hätte) legten sie sich alle talwärts flach an den Hang und hielten ihre Äste fest, als Lawinchen kreischend über sie hinweg schlitterte.
„Buaahhh…“ sagte die eine Föhre zur anderen, als sie sich wieder aufgerichtet hatten und Lawinchen nachschauten, wie es mit viel Getöse zu Tal ging. „…jetzt will sie es aber wissen…“
Lawinchen hatte tatsächlich bereits eine beachtliche Geschwindigkeit erreicht und zwei fiepende Murmeltiere mussten sich rasant in Sicherheit bringen, um nicht mitgerissen zu werden.
„Wenn sie so weiterrast, kriegt sie die Kurve nicht. Sie ist viel zu schnell…“
„Das wär dann aber echt blöd. Ich meine, wozu…“
„Ruhe im Baumbestand! Und stillgestanden“ schrie der Bannwald entnervt. Er musste irgendwie die verlorene Autorität wiedergewinnen.
„Heiissssaaaa!“ jauchzte Lawinchen und versuchte, die Kurve zum Dorf zu kriegen. Es verlagerte alles, was es nach dem Steilhang noch an Schnee und Eis zu bieten hatte, nach links. Ein klein wenig ging es dann auch gegen links, aber es reichte bei Weitem nicht. Seine Geschwindigkeit war noch viel zu gross, um die Richtung entscheidend zu ändern. Anstatt auf das Dorf zuzudonnern, wie es sich gehört hätte, fegte Lawinchen im Affentempo den gegenüberliegenden Hang hoch.
„Hab ich es gesagt oder nicht?“ flüsterte die eine Föhre zur andern. „Viel zu schnell.“

Die Verwunderung am Gegenhang war gross, als Lawinchen hangaufwärts rutschte.
„Heeeh!“ rief der Lerchenwald, als er von hinten zu Boden gedrückt wurde. „Was soll das?“
Und ein Schwarzbeerstrauch motzte Lawinchen frech an, obwohl es ihn kaum gestreift hatte: „Bist Du völlig übergeschnappt? Lawinen gehen runter, nicht hoch. Hat Dir das keiner gesagt?“

„Tut mir leid…“, rief Lawinchen, und schaute über seine stiebende Schulter nach hinten. „Hab ich Dir weh getan?“
Aber das hätte es lieber nicht getan, nach hinten geschaut. Mutter hatte es ihm hundertmal gesagt. „Wenn Du niedergehst – nach vorne schauen. Immer nach vorne schauen. Nie zurück blicken. Auf das was vor dir steht kommt es an – nicht auf das, was hinter Dir liegt.“
Aber dieser gutgemeinte Ratschlag war umsonst. Der Schwarzbeerstrauch machte Lawinchen eine lange Nase und als es wieder nach vorne schaute, stand eine verwitterte alte Föhre mit ausgestreckten Ästen vor ihm und rief „Haaaalt! Baumgrenze!“
Lawinchen hatte nicht mehr allzuviel Tempo drauf, aber es war immer noch zu schnell und die alte Föhre schon zu nahe. Der Aufprall war nicht mehr zu vermeiden.
„Au Backe!“ Flüsterte eine Föhre an Lawinchens altem Hang zu ihrer Nachbarin. „Sie hat den alten Grenzwächter umgerannt… das wird Ärger geben.“

„Himmel, Arsch und Wolkenbruch…“ fluchte die alte Grenzwächterföhre, als sie ihren Kopf freikriegte und sich die Bescherung anschaute. Lawinchen hing als kleines, kümmerliches Häufchen schmutzigen Schnees an der Baumgrenze und schluchzte leise vor sich hin.

„Was hast Du Dir dabei gedacht? Hä? Man furzt doch nicht einen Hang runter wie wild und dann den gegenübeliegenden Hang wieder hoch als ob alles bloss ein Spass wäre.“

Lawinchen konnte noch nicht sprechen. Es fühlte sich schrecklich und das Schmelzwasser lief ihm aus den geschlossenen Augen.
„Eine schöne Bescherung hast Du da angerichtet. Mannomann.“

Lawinchen wäre am liebsten auf der Stelle weggeschmolzen. Ich bin die Schande der Bergwelt, dachte es verzweifelt. Eine völlig missratene Katastrophe. Ich bleib jetzt hier liegen und mach nie mehr die Augen auf.

Die Grenzwächterföhre schüttelte ihre Äste frei. „So etwas ist mir in 35 Jahren Grenzwacht noch nie vorgekommen. Eine Lawine, die hangaufwärts geht. So etwas saublödes, also wirklich.“

Lawinchen schluchzte noch mehr. Es wäre jetzt gerne an seinem alten Hang gewesen und hätte sich unter den Ausläufern seiner Mutter versteckt.

„Lawiiiiinchen! Bist Du OK?“ rief eine der jungen Föhren vom Bannwald gegenüber. „Sag doch was!“
„Ruhe im Glied!“ fauchte der Bannwald.

Lawinchen hätte gerne geantwortet, aber es traute sich nicht. Zu gross war die Angst vor der Grenzwächterföhre, die immer noch vor sich hinfluchte. „…vielleicht bin ich einfach zu alt für diesen Job. Ich sollte mich verdorren lassen.“

„Kann ich auch mal was sagen?“ tönte es hölzern unter Lawinchen hervor.

„Wie bitte?“ raunte die Grenzwächterföhre. „Wer spricht da?“
„Hier bin ich. Links von Dir. Wenn Du mal diesen Ast hier etwas anheben könntest…“
„Nicht, das kitzelt…“ Die Grenzwächterföhre hob einen ihrer alten Äste hoch. Als der Schnee runterfiel, kam ein Wegweiser zum Vorschein, auf dem „Schrums – 10 Min.“ stand.
„Danke“. Sagte der Wegweiser, und atmete tief durch. „Wow, das hat echt Spass gemacht.“
„Spass? Spinnst Du?“ fragte die Grenzwächterföhre zurück.
„Nein, ich meine es ernst. Schau mal, ich stehe seit Jahren da unten an der Wegkreuzung und weise den Weg nach Schrums, den ja eh alle kennen, die hier vorbeikommen, weil die, die ihn nicht kennen, hier gar nicht vorbeikommen. Nie passiert etwas. Etwas Aufregendes schon gar nicht. Und ich werde älter und verwittere und es ist dermassen langweilig. Heute ist endlich mal die Post abgegangen. Und wie. Das war einfach megageil.“
Die alte Grenzwächterföhre schüttelte nur den Kopf.
„Auf diese Art Aufregeung hätte ich verzichten können.“
„Du vielleicht. Ich fand es toll.“

„Findest Du das wirklich?“ fragte Lawinchen mit einem leisen Stimmchen. Es hatte zugehört und ein Auge halb geöffnet.
„Find ich echt, ja. Würd ich sonst nicht sagen. War ’ne tolle Leistung. Gratuliere.“
„Und Du machst Dich auch nicht lustig über mich?“
„Aber woher. Ich fand Dich mitreissend. Und wenn ich das finde, dann will das was heissen. Ich weiss, wo’s langgeht, glaub mir.“

Lawinchen machte langsam beide Augen auf. Es blinzelte in die Sonne und schaute sich an, was es angerichtet hatte. Die Grenzwächterföhre rieb sich noch immer missmutig den knorrigen Stamm, hatte sich aber wieder eingermassen beruhigt.
Der Hang, an dem Lawinchen nun hing, hatte sein Kommen relativ gut überstanden. Es war zwar noch mit beachtlicher Geschwindigkeit den Hang hochgesaust, aber seine Masse war bereits so klein gewesen, dass es nicht mehr viel Schaden angerichtet hatte. An seinem Heimathang war eine frischgezogene Schneise zu sehen. Die Mehrheit der Bäume hatte sich aber rechtzeitig geduckt und stand bereits wieder fröhlich im Wind. Alles in allem war der Flurschaden gering.

„Was hast Du jetzt vor?“ fragte der Wegweiser. „Gleich nochmal runter oder erst ein wenig ausruhen?“
„Ich weiss nicht.“ antwortete Lawinchen. „Ich weiss echt nicht, was ich als nächstes tun werde.“

„Auch gut. Dann bleiben wir ein Weilchen hier. Gefällt mir hier oben. Wollte schon immer mal die Baumgrenze aus der Nähe sehen. Sag mir einfach Bescheid, wenn es losgeht, ja? Vielleicht vermisst mich ja auch jemand und sie kommen mich suchen. Oder jemand benutzt mich als Brennholz. Was weiss ich. Wir werden ja sehen…“ Der Wegweiser plauderte munter weiter, aber Lawinchen hörte ihm nur noch mit einem Ohr zu. Mit dem anderen horchte es in sich hinein. Eine zufriedene Stille erfüllte es.

2 Antworten to “Lawinchen”

  1. Fredy Haffner Says:

    Endlich hast du sie fertig geschrieben, die Geschichte. Abgesehen davon, dass Murmeltiere Winterschlaf halten, wahrlich wunderbar :-)
    Grüsse, dein Pruder (ja, ihr Deppen da draussen, Pruder schreibt man unter Haffners mit „P“!)

  2. Clemens Says:

    »Geh deinen Weg und laß die anderen reden.«
    frei nach Dante Alighieri

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s


%d Bloggern gefällt das: