Texte, die sich zum Lesen eignen, während man im Ofen Teigwaren aufwärmt  

 

Wenn Charles Bukowski über Hollywood schreibt, so kann man es im Vorwort zu dessen 2019 neu aufgelegtem Roman Hollywood lesen, das ein gewisser Howard Sounes zu verfassen sich bemüssigt gefühlt hat, meine er damit üblicherweise nicht das Hollywood der Filmindustrie, sondern den als East Hollywood bekannten, schäbigen Wohndistrikt am unmodischen Ende des Sunset Boulevards, wo er mehrere Jahre gelebt habe. Nur im vorliegenden, 1989 zum ersten Mal erschienen Buch, dem fünften seiner sechs Romane, führt Sounes in seiner Einführung aus, gehe es Bukowski tatsächlich um die Filmindustrie.   

Ich bin als jemand, der in seinem Berufsleben oft und immer wieder einführende Worte für Darbietungen von Repräsentanten aller Künste zu sprechen hatte, kein Freund von Vorworten, auch nicht von Nachworten, wenn wir dabei sind. Ich finde beides lästig. Ein unnötiges und leidiges Hinauszögern das eine, ein ebenso mühsames wie überflüssiges Verlängern das andere, während der Weisswein und die Häppchen warten.    

Wenn Walter Haffner über Wien schreibt, so wird man es hoffentlich nie lesen (ich meine den Satz, in dem wir uns befinden, nicht, was ich allenfalls noch über Wien schreibe), meint er damit üblicherweise nicht das Wien der Konzertsäle, sondern den als 3. Bezirk bekannten 3. Bezirk, wo er nach seinem Transfer ins Privatleben mehrere Jahre mit seiner Frau und seinen zwei Hunden schrieb, zeichnete, malte und lebte.

Auch in seinem angeblich gleich nach dem vierten geschriebenen aber ebenso wie die ersten drei Romane (Die Trilogie des Verschwindens) nie veröffentlichten fünften Roman mit dem Titel Wien, sei es ihm nicht um das klassische Wien gegangen, sondern hauptsächlich um Personen, die sich in seinen Wiener Jahren in seinem Kopf aufgehalten haben und dringend raus mussten.  

Walter Haffner ist ein literarisches Phänomen. Er schreibt alle zwei bis drei Monate über irgendetwas, praktisch immer ohne gelesen zu werden, und die wenigen, die hin und wieder einen Text von ihm lesen, rufen ihm zu: „Vielleicht hättest Du das besser gemalt“, bevor sie wieder in ihren Alltag flüchten.  

Es lässt sich nicht alles malen, ruft er ihnen nach , als sie schon wieder weg sind, auch wenn er das eine oder andere Vor- oder Nachwort lieber gemalt auf dem Buchdeckel gehabt hätte. Nehmen wir als Beispiel die Suche nach Janet McCann, zu der ich gleich komme, und Ihr sagt mir dann am Ende, ob man das auch einfach hätte malen oder als Cartoon zeichnen können.

Schon ihren schmalen Gedichtband in meinem Büchergestell zu finden, war nicht ganz einfach. Fast hätte ich zuerst in meinen Kisten und Mappen gesucht, weil ich in Erinnerung hatte, dass ich ihren Gedichtband zusammen mit meinen Übersetzungen ihrer Gedichte aufbewahrte.

Dann schaute ich zum Glück doch zuerst in den Regalen mit meinen Gedichtbänden, denn die waren im Gegensatz zu meinen Mappen und Kisten im Stehen erreichbar. Ich wusste, dass ich nach einem schmalen Band suchte. Zuerst zog ich Godzilla Attacks a Truck von Louis Cuneo aus dem Regal.

Das dünne Heft, erschienen 1981 in einer Reihe von Publikationen, von denen der Verlag auf den hinteren Seiten gegen Einsendung von einem Dollar weitere anbietet, enthält ausgewählte Haikus in freier Versform aus den Jahren 1972-80 und hat nur 19 Seiten. Ich las das Heft (zum zweiten Mal, denke ich, obwohl ich ausser an den Titel keinerlei Erinnerung daran hatte), während ich im Ofen den Hörnchen Auflauf nach dem Rezept meines Schwiegersohns aufwärmte, den ich mir gestern gekocht hatte. Vielleicht erstelle ich eine Liste mit Texten, die sich zur Lektüre eignen, während man im Ofen Teigwaren aufwärmt.   

Ich weiss, dass man Haikus nicht kurz nacheinander lesen sollte, praktisch am Stück. Man sollte sie einzeln lesen und auf sich einwirken lasse, bis die Silben zu tanzen beginnen und sich nicht mehr zählen lassen. Hinten und vorne keine 5 und in der Mitte keine 7.

Aber ich konnte es noch nie lassen, mehrere Haikus nacheinander zu lesen, oft den ganzen Sack wie bei gerösteten Erdnüssen. Dazu kommt, dass die Haikus Last Trip To You eine Kurzgeschichte in Haikus sind, wie der Untertitel sagt, man sie also nacheinander lesen muss, bis Cuneo im Flugzeug über New York sitzt, während sein Vater kremiert wird.    

Aber verlassen wir New York, verlassen wir Cuneo und seine Haikus. Haikus sind, so erinnert Cuneo am Anfang des Hefts daran, gemäss Meister Basho ganz einfach das, was diesen Augenblick an diesem Ort geschieht. Was also geschieht hier, gerade jetzt? Und was wäre alles geschehen, wenn Haikus eine Vergangenheitsform hätten?

In den Sinn gekommen war mir Janet McCann, als ich heute Morgen anstatt zu malen in meinem Computer nach einem Text suchte, an dem ich weiterschreiben wollte, und dabei unversehens in die Rubrik Übersetzungen geriet, wo auch das halbe Dutzend Gedichte von ihr abgelegt ist, die ich vor bald drei Jahrzehnten übersetzt habe.

Bevor ich mich auf die Suche nach ihrem Gedichtband machte, wollte ich nachschauen, ob sie noch lebt. Nicht, dass ihre Gedichte mit ihrem Tod etwas verloren hätten – Gedichte sind Konserven, sie halten sich ohne Autor ausgezeichnet – aber ich wollte es wissen, bevor ich sie wieder las. Zuletzt waren mir eine ganze Anzahl von Menschen, die oder deren Werk ich schätzte, einfach weggestorben, als ich ein paar Jahrzehnte nicht hinschaute.

Eine Google-Suche ergab innerhalb von Sekundenbruchteilen, dass Janet Mary McCann im Alter von 68 Jahren am 19. Dezember 2021 in Sioux Falls, South Dakota gestorben war. Sie diente in der US Army, arbeitete danach in einem Pflegeheim und liebte Katzen und Surfen im Internet. Sie wurde überlebt von ihrem Vater und ihren Geschwistern. Ihre Mutter und mehrere Katzen gingen ihr im Tod voraus. Kein Wort von Gedichten.

Sieben Monate später starb am 29. Juli 2022 Janet “Janice” McCann. Sie hatte mit ihrem ersten Mann Don fünf Kinder, zehn Grosskinder und neun Urgrosskinder und sie malte. Nach Dons Tod heiratete sie wieder und hatte mit ihrem zweiten Mann noch einmal fünf Kinder, die ihr elf Grosskinder und zweiundzwanzig Urgrosskinder schenkten, die sie überlebten. Die Liste der ihr im Tod Vorausgegangenen ist lang.  

Als ich runterscrollte und sah, wie viele Nachrufe auf Janet McCann es gab, beschloss ich, anstatt sie mir alle anzuschauen, samt Hinterbliebenen und vorausgegangen Katzen, was Stunden gedauert hätte und mir zudem voyeuristisch oder pietätlos vorgekommen wäre, dass sie noch am Leben sei.  

Beim Blättern in Looking for Buddha in the Barbed -Wire Garden fiel mir ein, dass ich Janet McCann schon einmal in meinem Blog erwähnt hatte. Ich ging nachschauen und fand, dass es mehr als 12 Jahre her ist. Der Beitrag hiess Ein Gedicht mit Vierzehn Jahren Verspätung.  

Meine Frau hat mich neulich darauf aufmerksam gemacht, dass ich zuletzt oft über mein lange zurückliegendes Leben in den USA geschrieben habe. Sie hat Recht damit. Nur, in diesem Fall konnte ich es nicht kontrollieren.

Als ich das Gedicht von Janet McCann am 10. Januar 2010 in den Blog stellte, war es mir noch so vorgekommen, als sei es wie ein Pottwal aus den Tiefen des Speichers meines Computers aufgetaucht. Jetzt bin ich mir sicher, dass es ein Pottwal ist. Er taucht alle zwölf bis vierzehn Jahre auf. Cuneo hat ihn mir heute angekündigt, während der Hörnchen Auflauf im Ofen war:

Falling asleep / while watching a / whale documentary

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