Eines schönen Sommermorgens sass ich auf dem Balkon des 14. Stockwerks eines Hochhauses in Ramat Gan mit Blick auf die Skyline von Tel Aviv, die immer mehr derjenigen von Manhattan zu gleichen beginnt, und las in einem Roman von Lars Gustafsson. Als ich das Kapitel zu Ende gelesen hatte, blätterte ich noch einmal zurück zum Titel („Der Hund aus Karbenning“) und wunderte mich: es war gar kein Hund im Kapitel vorgekommen. Oder hatte ich ihn überlesen? Ich las das Kapitel ein zweites Mal, aber da war kein Hund. Was war mit ihm passiert? Hatte er sich gleich nach dem Titel aus dem Staub gemacht?
Später ging ich spazieren und nahm das Buch in meinem Rucksack mit. Das Kapitel mit dem Hund in der Überschrift, in dem dann gar kein Hund vorkam, ging mir nicht aus dem Kopf. Es war nicht so, dass ich die ganze Zeit daran dachte, mein Hirn war ja andauernd mit all den real existierenden Menschen, Katzen Hunden und Dingen beschäftigt, denen ich auf meinem Spaziergang begegnete, aber der nicht im Kapitel vorkommende Hund kehrte immer wieder in mein Bewusstsein zurück. Es war, als würde er in der Nachbarschaft meiner Gedanken umherstreunen und mir dabei immer wieder über den Weg laufen.
Weshalb hatte der Autor den Hund im Titel erwähnt, das Kapitel dann aber gänzlich ohne ihn gestaltet? Es schien mir ein wenig so, als würde man seinem Hund das Halsband anziehen und vielleicht schon die Leine anschnallen und dann ohne ihn aus dem Haus gehen. Wollte Gustafsson, dass man sich als Leser durch sein Kapitel bewegt, seinen Gedanken folgt, und dabei darauf wartet, dass um die Ecke des nächsten Satzes ein Hund erscheint? Diente die Ankündigung des Hundes dem Zweck, eine Bereitschaft zu erzeugen, die Erwartung des Lesers auf etwas zu lenken, was dann nicht eintraf, um ihn etwas anderes, was währenddessen passierte, nicht bemerken zu lassen? Wäre es nicht seltsam, wenn ein Autor etwas schreiben würde, wovon er gleichzeitig ablenkte, damit es niemand bemerkt?
Ich las das kurze Kapitel ein drittes Mal und verdrängte den Hund dabei ganz aus meinen Gedanken, versuchte es jedenfalls, um ihn mir nicht einzubilden. Ich wusste ja, dass er nicht da sein würde. Aber ich konnte auch so nichts entdecken, was ich vorher in Erwartung des Hundes übersehen haben könnte. Da war nichts, was der Autor vielleicht an meinem Bewusstsein vorbei in die Geschichte schmuggeln wollte, damit es sich in meinem Unterbewusstsein einnisten und sich zu einem späteren Zeitpunkt bemerkbar machen würde. Jedenfalls fiel mir nichts auf. War ich also auf der falschen Fährte? Hatte er mich wie den Hund im Titel losgeschickt um nach etwas zu suchen, was gar nicht vorhanden war, wie wenn man einem Hund einen Stock wirft, ihn aber nicht loslässt, und der Hund rennt ihm trotzdem hinterher?
Mir kam ein Rabbiner in den Sinn, aus dessen Briefen einst ein Dichter die Anwesenheit einer Katze lesen konnte, während der Rabbi sie schrieb, ohne dass dieser die Katze auch nur mit einem Wort in einem seiner Briefe erwähnt hätte. Ich nahm mir vor, nach dem Gedicht zu suchen, sobald ich wieder zuhause war, und tat das auch, aber vergeblich. Ich dachte, vielleicht wäre es ein Gedicht von Krolow, aber im einzigen Gedichtband, den ich von Karl Krolow besitze, kommt lediglich ein Hund vor, der sich in einem Steinbruch verlaufen hat. Es konnte nicht meiner sein. Aber ich sagte mir: Wenn man die Anwesenheit einer Katze aus Schriftstücken erahnen konnte, in welchen sie nicht erwähnt wird, musste es auch möglich sein, dass ein Hund durch ein Kapitel streunt, ohne dass er darin vorkommt. Besonders dann, wenn ihn der Titel angekündigt hat.
Ich las das Kapitel ein weiteres Mal und nahm mir gleichzeitig vor, dass dies das letzte Mal sein würde. Ich wollte endlich weiterlesen im Buch. Ich wollte nicht noch weiter in dieses Kapitel, das mich jetzt schon über Gebühr beschäftigte, hineingezogen werden wie in einen gefährlichen Strudel, aus dem ich mich am Ende nicht mehr befreien und auf der Suche nach dem Hund selber verschwinden würde. In einem Steinbruch womöglich, bei glühender Sonne.
Ich las langsam und aufmerksam und schaute beim Lesen, das mir wie Spazieren vorkam, zwischen die Zeilen, wie man in Seitengassen schaut. Am Ende jeder Zeile spähte ich vorsichtig um die Ecke, bevor ich zum Anfang der neuen Zeile sprang. Die wenigen Seiten, denn es war wie gesagt ein kurzes Kapitel, blätterte ich äusserst langsam und vorsichtig um, um den Hund nicht zu verscheuchen, aber er war nirgends zu sehen, und ich spürte ihn auch nicht. Ein einziges Mal meinte ich ein Bellen zu hören, aber es war nur das Husten eines Fussgängers, den ich erst bei der vierten Lektüre entdeckte. War er neu hier? Oder gab es tatsächlich Dinge, die ich mehrmals überlesen hatte? Was für ein stupides Wort: „Fussgänger“. Soll man etwa auf den Ellbogen gehen?
Ich beschloss, den Hund zurückzulassen, auch wenn mich der Gedanke im selben Augenblick betrübte, als ich den Entschluss fasste. Ihn hinter dem Titel winseln zu hören wie hinter einer verschlossenen Türe, schien mir grausam. Sollte ich sie einen Spalt offenlassen, damit er vielleicht in einem späteren Kapitel erscheinen könnte? Die Überschrift wäre dann eine frühe Ankündigung gewesen von etwas, was nicht unmittelbar, sondern erst später erscheint. Im Flughafen würde es an der Anzeigetafel hinter dem Herkunftsort grün blinken: verspätet.
Oder spielte der Autor ein Spiel mit seinen Lesern? Gab er seinen Kapiteln hin und wieder Titel, die gar nichts mit deren Inhalt zu tun hatten? „Der Körper des Himmels“ etwa, und dann ging es nur um die Seele der Erde? Oder „Nach dem nach Hause kommen“, dabei war im ganzen Kapitel niemand weggegangen und es war auch keiner unterwegs?
Tat er es, weil er es satt hatte, dass die meisten Leser den Überschriften nicht wirklich Beachtung schenken? Dass sie sie schon nach wenigen Zeilen vergessen haben und es deshalb überhaupt keine Rolle spielt, wie eine Überschrift lautet? Ich nahm mir vor, mir von nun an die Kapitelüberschriften zu merken und sie während dem Lesen der Kapitel stets im Kopf zu behalten. Wenn Gustafsson tatsächlich ein Spiel mit mir spielte, hatte er sich den Falschen ausgesucht. Ich würde den Hund finden, auch wenn, einmal abgesehen von der einen Kapitelüberschrift, vielleicht gar keiner vorkam in diesem verflixten Buch, das ich nun endlich zu Ende lesen wollte.
4. Mai 2023 um 09:09
Walti ist auf den Hund gekommen.
Es wird bald besser – du wirst
Ihn finden (wenn auch nur zu Hause….)