Anmerkungen zum Verlassen

Auf den ersten Blick scheint alles einigermassen klar. Die, welche fortgehen, lassen etwas zurück und nehmen etwas mit sich fort. Dinge, gemeinsame Pläne, mindestens sich selber. Sie können als Reisende weder alles mitnehmen noch alles dalassen. Das leuchtet uns ein. Das erste aus Platzgründen nicht und weil sonst ja kein Grund zum Fortgehen bestünde. Das Zweite weil sie ganz ohne etwas von sich für unterwegs nie wüssten, wo sie angekommen wären, falls sie so überhaupt noch irgendwo landen könnten. Und auch weil wir wirklich nicht möchten, dass sie gehen und einfach alles dalassen. Einen Teil muss man schon mitnehmen, wenn man uns verlässt. Das sehen sie in der Regel auch so. Also nehmen sie immer etwas mit. Sachen, Eigenheiten, nie alles, mindestens aber sich, und lassen in der Regel etwas da, was sie nicht mehr wollen oder wovon sie meinen, dass wir noch Verwendung dafür haben könnten. Die einen lassen mehr zurück, die anderen weniger, immer den Rest und die Ungeschickten sogar sich selber. Und wenn sie es noch früh genug merken, kehren sie um und vielleicht sind wir noch da. Glück gehabt. Wenn nicht, finden sie so manchmal sich selber, können aber dann oft wenig mit sich anfangen.
Und die, die zurückbleiben, verlieren etwas, müssen etwas loslassen. Sachen, Zukunftspläne, mindestens einen Menschen und manchmal ein Stück von sich selber. Die am schlimmsten Getroffenen passen nicht auf und lassen sich selber mitgehen und haben dann grösste Mühe, sich irgendwann wiederzufinden, während Sture noch jahrelang ein zweites Gedeck auftischen.

Bei genauerem Hinsehen vernebelt sich der Blick. Die Umrisse der Figuren verwischen und die Rollenverteilung, ob sie uns passte oder nicht, wird unklar. Hat dieser Mensch, der fortging, wirklich etwas mitgenommen? Wenn ja: Was war es genau und was fiel ihm eigentlich ein? Und wenn es uns jetzt so fehlt, ist es dann nicht noch da?
Falls wir nur im ersten Schock gemeint hatten, etwas sei weggekommen, und mit etwas Abstand beim Inventar feststellen: Gottseidank – ausser ihr fehlt nichts! – was war es dann, was wir vorher zu haben meinten mit und an ihr? Und hat sie das, was wir lange für sie waren, weil sie es in uns sehen wollte, nicht zwangsläufig mitgenommen und uns also gar nicht zurückgelassen, weil wir so gar nie waren und nun endlich wieder da sind?

Wir holen den Fahrplan hervor und schauen nach, wo wir selber unterdessen sein könnten, wenn wir es gewesen wären, die fortgegangen wären. Das können wir auch, einfach Fortgehen. Schon lange und womöglich besser. Das, was die, die fortging, mitgenommen hat, falls wirklich etwas fehlt, hätten wir jedenfalls auch dagelassen, und es käme auf dasselbe heraus. Dort, wo sie womöglich hingereist ist, würden wir nicht einmal per Preisausschreiben hinwollen. Die Gefahr, dass man sich zufällig trifft, besteht kaum, auch wenn die Welt klein ist und wir im ersten Trennungsschmerz meinten, sie sei noch kleiner geworden, was natürlich ein Unfug ist, weil sie immer gleich gross ist, egal wo wir sind. Gepackt war jedenfalls schnell. Dies und das und das Nötigste. Und vielleicht noch jenes, als Lückenfüller. Wie ein Paar Socken, als Stopfmaterial. Damit das Notwendigste an Ort bleibt und nicht hin und her rutscht.

Am Schluss hat man bei aller Sorgfalt beim Packen doch meistens das vergessen, was man am dringendsten braucht. Wie konnten wir nur. Tragisch ist das aber auch nicht, weil dort, wo wir ankommen würden, nicht das Ende der Welt ist, sondern wieder irgendein Anfang, wenn auch nicht ein völlig neuer, weil wir ja nun da sind. Auch deshalb ein fraglicher Entschluss und am Ende der Entscheid doch richtig, auch wenn wir es nicht waren, die ihn trafen, hierzubleiben und sie gehen zu lassen. Geh Du nur. Oder ihn. Soll er doch gehen. Sie auch. Bitte nach Dir. Soll doch gegangen sein. Das Ganze möglichst geschlechterneutral. Abschiede machen uns gleich. Vor allem, wenn man die Hand nicht schüttelt, weil man sie nicht schütteln kann oder will, wenn der Aufbruch bei Nacht erfolgt und die einen noch schlafen oder der andere gleich wegstirbt.
Bei Beziehungen sollte es das gar nicht geben, die Begriffe des Verlassers und des Verlassenen. Eine Beziehung sei wie ein Raum, haben uns die Psychologen zu erklären versucht, den der eine Mensch nur verlassen könne, wenn ihm der andere die Türe geöffnet habe, mindestens einen Spalt weit. Manchmal steht die Türe aber auch sperrangel weit offen, tage- und wochenlang, und die Nachbarn reklamieren schon wegen dem Durchzug auf der Etage, und doch geht keiner fort. Oder die Türe ist fest verschlossen, alle Riegel geschoben und das Kettchen vorgehängt, und dann geht eine einfach durch die Wand oder einer springt aus dem Fenster. Alles, was man dazu sagen kann, ist dass es alles gibt in dieser Beziehung. In jeder Beziehung. Darauf verlassen wir uns.

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