Ein wirklich gutes Jahr

Von Sri Lanka nach Ceylon

Hast Du den alten Mann im Rollstuhl gesehen?
Ja, warum?
Was für ein Leben. Er ist gelähmt, kann jedenfalls nicht mehr selber gehen, wird von seiner Pflegerin jeden Morgen, nachdem sie die Hausarbeit erledigt hat, in diesen schäbigen Park gefahren, wo er wahrscheinlich gar nicht hin möchte, aber sprechen kann er ja nicht, und nun sitzt er stundenlang da und muss auch noch zuhören, denn hören kann er leider noch, wie sie in einer Sprache, die er nicht versteht, in einem nicht endenden Wortschwall mit ihrem Boyfriend spricht, der sie unbedingt davon überzeugen will, mit ihm zurück nach Sri Lanka zu gehen.
Was für ein Leben. Wenn er könnte, würde er dem Ganzen wahrscheinlich ein Ende machen. Lieber heute als morgen.

Was weisst Du, vielleicht gefällt es ihm ja. Vielleicht sitzt er gerne da und schaut den Menschen im Park zu. Und die Sprache seiner Pflegerin ist für ihn vielleicht wie eine schöne Musik aus einem fernen Land.

Ich möchte jedenfalls nicht so leben. Was ist das für ein Leben. Das ist doch kein Leben mehr.

Wenn Deine Eltern noch leben würden, und Deine Mutter oder Dein Vater sässen im Rollstuhl, würdest Du auch nicht wollen, dass ihr Leben zu Ende wäre.

Er hat keinen eigenen Willen mehr, verstehst Du? Vielleicht hat er ihn noch, aber er kann ihn nicht mehr äussern. Vielleicht kann er ihn noch äussern, aber er kann ihn nicht mehr durchsetzen. Vielleicht sagt er jeden Morgen, wenn sie ihn in den Rollstuhl hievt, ich will nicht in diesen Park, aber sie rollt ihn trotzdem in den Lift und fährt ihn in den Park, wo ihr Boyfriend bereits auf der Bank sitzt und es nicht erwarten kann, sie von der gemeinsamen Rückkehr nach Sri Lanka zu überzeugen.

Vielleicht gefällt es ihm aber auch, sagte Ellen. Vielleicht hat er ein schönes Leben hinter sich. Seine Grosskinder kommen ihn ab und zu besuchen, klettern auf seinen Rollstuhl und er ist dankbar, sie noch sehen und erleben zu können.

Es mochte sein, dass Ellen Recht hatte. Ebenso gut konnte aber seine Version zutreffen. Was war das für ein Leben. Hilflos im Rollstuhl den Launen und Plänen seiner Pflegerin ausgeliefert. Was kostete ein Flug nach Colombo?

Es war das erste Mal seit vielen Jahren, dass Ellen und er zum jüdischen Neujahr nach Israel gekommen waren, um mit ihrer Familie zu feiern. Sie hatten sogar die Hunde mitgenommen, die nun zusammen mit dem Hund von Ellens Mutter den kleinen Park in ihrer Nachbarschaft in Ramat Gan ausschnüffelten.

Der Flug war grauenhaft gewesen. Nicht wegen den Hunden. Die hatten sich in ihren Boxen erstaunlich ruhig gehalten. Vorbildlich eigentlich. Können Hunde Vorbilder sein? Er hatte trotzdem keine Ruhe und schon gar keinen Schlaf gefunden. Die religiösen Juden, in deren Mitte sie sassen als hätten sie so gebucht, hörten nicht zu reden auf und verlangten jedes Mal Eis mit ihren Getränken, und die österreichischen Stewardessen antworteten jedes Mal genau das Gleiche: Wir haben kein Eis, aber die Getränke sind kalt. Es war wie eine Endlosschlaufe aus der sich niemand befreien konnte.

Als sie schliesslich in der Wohnung von Ellens Mutter angekommen waren, war es zwei Uhr Morgens, und bis sie im Bett waren halb vier.

Was wusste er über Sri Lanka? Ohne Wikipedia wenig, obwohl er einmal da war. An einer Konferenz in Colombo, die er Anfang der 2000er Jahre organisiert hatte.

Er hatte damals ein paar Kollegen dazu gebracht, nach der Konferenz noch einen Tag anzuhängen und in den Norden zu fahren, zu einer Elefantenfarm, von wo er dann seinen Kindern aus Elefantendung hergestelltes Briefpapier mit nachhause gebracht hatte. Das war immerhin besser als der künstliche Papyrus, den er ihnen ein paar Jahre zuvor aus Ägypten mitgebracht hatte.

Und sonst? Eine Insel südlich (oder östlich?) von Indien, die früher einmal Ceylon geheissen hatte, wie der Tee. Wann war dieses Früher? Vor oder nach 1986?
1986/87 war die Wasserscheide. Wenn die Namensänderung vorher erfolgt war, hatten seine Eltern noch von der Existenz eines Landes namens Sri Lanka gewusst. Wenn sie nach 1986/87 erfolgt war, gab es in der versunkenen Welt seiner Eltern nur Ceylon und kein Sri Lanka.

Als er selber noch Kind war, musste sein Vater einmal ein paar Kisten Tee aus Ceylon importiert haben. Seine Schwester und er spielten jedenfalls mit dünnen Sperrholzplatten auf denen mit dieser schwarzen Schablonenschrift „Ceylon Tea“ aufgemalt war. Er konnte sich an quadratische Kisten auf dem Estrich erinnern, mit einer Seitenlänge von etwa 60cm und Verstärkungen aus dünnem Blech an den Ecken.

Natürlich konnte sein Vater die Kisten auch in der Schweiz gekauft haben, aber die Wahrscheinlichkeit war viel grösser, dass Tee aus Ceylon importieren eines seiner Projekte war, mit denen er sich selbständig machen wollte. Vielleicht in Zusammenarbeit mit Ramesh, einem Inder, der als Student im Elternhaus seines Vaters ein und aus gegangen war.

Ramesh stammte aus einer reichen Familie und jedes Mal, wenn er – inzwischen ein erfolgreicher Geschäftsmann – einen seiner seltenen Besuche in der Schweiz machte, manchmal begleitet von einer seiner Töchter, befürchtete seine Mutter, er würde seinen Vater wieder in irgendein halblegales Geschäft hineinziehen. Was hiess „wieder“? Vielleicht gab es nie irgendein Geschäft, legal oder halblegal. Vielleicht war da nur die Angst seiner Mutter. Und der kleine Elefant aus einem gut duftenden tropischen Holz. Er musste noch irgendwo vorhanden sein. Ob man den Duft noch riechen konnte?

Eine andere Idee seines Vaters war, Pogo Sticks aus den USA zu importieren. Sein Vater hatte immer wieder solche Ideen, kleine Träume der Selbständigkeit, die auf dem Asphalt seines Berufsalltags verdampften wie leichte Sommerregen. Trotzdem bewunderte er ihn dafür, als er selber erwachsen war und Kinder hatte, für diese kleinen, zum Scheitern verurteilten Versuche. Bei den Pogo Sticks war er nie zur Tat geschritten. Heute kann man sie wie alles andere auf Amazon bestellen.

Die kürzeste Entfernung zwischen Indien und Sri Lanka betrug damals wie heute 54,8 km. Seine Eltern hatten das Internet nicht erlebt. Sie hätten das in Meyers Grossem Konversationslexikon nachschauen müssen, und vor dessen Erwerb (etwa 10 Jahre vor ihrem Tod für den Preis eines kleinen Gebrauchtwagens) im Grossen Brockhaus, Jahrgang 1956, den er nach ihrem Tod noch zwei Jahrzehnte behalten hatte, ohne je wieder etwas nachzuschlagen. Er hatte die schweren Bände unter anderem deshalb behalten, weil er vorgehabt hatte, einmal einen Vergleich zu machen. Wie wurde etwas im Jahr 1956 erklärt und wie heute? War die eine Erklärung nützlicher oder verständlicher als die andere? War die alte unterdessen falsch geworden?

Die Namensänderung von Ceylon zu Sri Lanka war noch zu Lebzeiten seiner Eltern erfolgt, im Jahr 1972. Die kürzeste Zeitreise zwischen Sri Lanka und Ceylon betrug demnach heute 47 Jahre. Nächstes Jahr würden es 48 sein, übernächstes Jahr 49, dann ein halbes Jahrhundert…

Nimm sie weg da!
Wie?
Nimm sie weg da, sie isst wieder irgendeinen Scheiss. Siehst Du das denn nicht?
Du musst achtgeben, was sie tun. Alles müssen sie in den Mund nehmen.
Vielleicht müssen wir ihnen die Maulkörbe anziehen zum Spazieren.

Das fehlte noch. Ein Maulkorb. Er würde es nicht zulassen, dass seine Hunde zum Spazieren einen Maulkorb tragen mussten.
Zwergpudel mit Maulkörben. Das fehlte noch.

 

Von Ramat Gan zum Mond

Wie viele Neujahrsabende würde er noch erleben? Noch zwei? Noch drei? Oder war dies bereits sein letzter? Sicher keine weiteren 5000, dachte er, und fragte sich, ob man es seinem Gesicht ansah, dass er gerade schmunzelte. Aber niemand schaute ihm ins Gesicht.

Nilany sass neben seinem Rollstuhl auf der Parkbank und sprach in aufgeregtem Tonfall mit ihrem Landsmann, den sie seit zwei Wochen jeden Morgen hier antrafen, was bestimmt kein Zufall war, und die wenigen Menschen, die sich am letzten Nachmittag des jüdischen Jahrs im kleinen Park zwischen der Atarot- und der Uzielstrasse aufhielten, waren mit anderem oder sich selber beschäftigt.

Eine etwa vierzigjährige Frau sass auf einer der Parkbänke, vor sich am Boden ihr angeleinter deutscher Schäfer, der zu schlafen schien, und tippte etwas in ihr Telefon. Eine Frau um die Fünfzig und ein etwas älterer Mann spazierten mit ihren drei Zwergpudeln an ihm vorbei. Er konnte hören, wie sie auf dem Stück Rasen hinter ihm die Hunde ermunterten, ihr Geschäft zu verrichten.
Auf einer anderen Parkbank unterhielt sich eine Frau mit einem Kinderwagen angeregt mit einem Mann in ihrem Alter, der nicht ihr Mann war. Er konnte so etwas sehen.

Er hatte stets nach wenigen Sekunden gewusst, ob zwei Menschen zusammen waren oder zusammengehörten, wenn er sie sah, oder ob sie sich nur unterhielten. Und er wusste es immer noch. Seine Augen waren vielleicht nicht mehr ganz so gut, wie sie es einmal waren, aber sie sahen noch immer vieles, was andere auch mit besseren Augen nie sehen konnten.

Er hatte Malka immer damit verblüfft, schon als sie ein junges Paar waren und nicht einmal davon geträumt hatten, einmal über 60 Jahre verheiratet zu sein.

Die zwei da drüben, mit ihren Teetassen: frisch geschieden. Maximal zwei Jahre.
Wie willst du das wissen? Hast Du gehört, was sie reden?
Wie soll ich hören, was sie besprechen, bei diesem Lärm, Malkele?
Schau sie Dir nur an. Sie sind geschieden, vielleicht ein Jahr, maximal zwei. Er hat abgeschlossen damit, aber an ihr nagt etwas. Sie will etwas von ihm, was er ihr nicht geben kann.
Sex?, kicherte Malka.
Nein, keinen Sex. Ihre Vergangenheit. Ihre Jugend vielleicht. Was weiss ich.
Aha, alles weiss er also doch nicht, der grosse Seher, sagte Malka, und schmiegte sich an ihn. Wie jung sie damals war. Und wie schön.

Zwei Kinder mit ihren Tretrollern umrundeten unermüdlich den Parcours, der mit geteilten Fahrbahnen auf den Weg zwischen den verschiedenen Abteilen des Spielplatzes aufgemalt war. Es war eine Art Lehrpfad mit farbigen Stoppsignalen und Kein-Vortritt Zeichen, aber die beiden Kinder, ein Mädchen und ein Junge, kümmerten sich nicht darum, sie überfuhren sämtliche Stoppsignale.

Er dachte oft an Malka, wenn er im Park sass, obwohl es in der Wohnung an der Shrugin, in der sie zusammen über 40 Jahre gelebt hatten, viel mehr Gründe gab, an sie zu denken.

Er konnte sich nicht erinnern, je mit Malka in diesem Park gewesen zu sein, obwohl sie gleich um die Ecke wohnten. Wozu auch? Es war kein besonders schöner Park, nie gewesen, auch nicht bevor sie ihn erneuert und all die farbigen Spielgeräte aufgestellt und den Parcours angelegt hatten. Hatte Malka das noch erlebt?

Als ihn Nilany zum ersten Mal hierher gerollt hatte, hatte er gedacht, warum fährt sie mich hierher? Was soll ich hier? Was soll ich in diesem trostlosen Park? Es gibt nichts zu sehen für mich hier. Ich habe nichts, was mich hier an irgendetwas erinnert. Er hätte ihr sofort gesagt, sie solle Kehrt machen, er wolle wieder nachhause, aber seit seinem zweiten Schlaganfall konnte er nicht mehr sprechen.

Was er wollte oder nicht wollte konnte er nur noch auf einen Block notieren, mit seiner linken Hand, die er im Gegensatz zu seiner Rechten, seiner guten Hand, noch bewegen konnte, und das Schreiben fiel ihm so schwer, dass er es nur tat, wenn wirklich Not herrschte. Zudem hatte er das Gefühl, Nilany würde ihm den Schreibblock und den Stift nur dann hinhalten, wenn sie wollte, dass er sich äussern konnte. Wenn sie Grund zur Annahme hatte, dass er etwas wollen oder nicht wollen würde, was sie nicht wollte oder wollte, blieben der Stift und der Block in ihrer Tasche.

Er nahm es ihr nicht allzu übel, denn sie behandelte ihn gut und tat ganz selten etwas, was er wirklich nicht gewollt hätte. Auch dieser Park erwies sich ja als ein Glücksfall, mit all den Erinnerungen, die er ihm ohne erkennbaren Anlass zurückbrachte. Es waren Bilder aus seinem früheren Leben, obwohl es keine Aufhänger für sie zu geben schien. Bilder, die er nie gesehen hätte, wenn ihn Nilany nicht hierhergeführt hätte. Wenn er sich hätte äussern können, wären sie keine Minute hiergeblieben und nie wieder hergekommen.

Wo Nilany herkam, bedeutete Nila Mond. Wie der Mond das Meer bewegte, bewegte Nilany ihn. Sie brachte ihn in diesen Park, der ihm jeden Tag eine Flut von Erinnerungen zurückbrachte, die erst wieder verebbten, wenn er früh morgens in seinem Bett endlich Schlaf fand. Sie gab ihm die Möglichkeit, Vergangenes ohne das Gefühl des Verlustes zu sehen. Ohne Nilany würde er die meiste Zeit in seiner Wohnung verbringen und jeder Gegenstand würde ihm von Malkas Berührungen erzählen, und davon, dass sie nicht mehr bei ihm war.

Was ist der Unterschied zwischen mir und dem Säugling da drüben, fragte er sich. Seine Mutter bettet ihn in den Kinderwagen und rollt ihn in den Park, ob er will oder nicht. Dann liegt er in seinem rollenden Bettchen und schläft oder blickt in einen Himmel, in dem er keine einzige Wolke erkennt. Hat ein Baby bereits Erinnerungen, denen es nachhängen kann? Denkt es an die Zukunft? Ist der Unterschied zwischen einem Säugling und einem Greis die Richtung der Erinnerungen?

Das Paar mit den drei Pudeln trat aus dem Gras hinter ihm wieder in sein Sichtfeld. Sie gingen nahe an ihm vorbei in Richtung des unteren Ausgangs des Parks. Er redete auf sie ein, und obwohl sie bereits ausser Hörweite waren, hatte er das Gefühl, es wäre dabei um ihn gegangen.

 

 
Vom Merkazi Schuster nach Even Yehuda

Zum Neujahrsabend war die ganze Familie bei Ellens Schwester und ihrem Mann in Even Jehuda eingeladen. Ellens Beitrag zur Feier würden die Kuchen sein. Also machten wir uns auf den Weg zum Merkazi Schuster, nahe bei der Tel Aviv Universität, wo sich die Boutique Central Filiale befand, die angeblich den besten Kuchen in ganz Tel Aviv hatte.

Weshalb der Kuchen dort besser sein sollte als in einer der anderen Filialen der Kette, wovon die eine oder andere sicher näher bei der Wohnung von Ellens Mutter lag, war mir ein Rätsel, aber ich eröffnete deswegen keine Diskussion. Nicht zuletzt deshalb nicht, weil es mir die Gelegenheit geben würde für einen Sprung in den Studentenladen der Universität, wo ich schon zweimal ein Buch mit wunderbaren Karikaturen gekauft hatte.

Wir liessen die Hunde also bei Ellens Mutter und fuhren los. Die Strassen waren erstaunlich leer. Nicht leer, aber angesichts der Tatsache, dass jedermann um diese Zeit unterwegs war, um letzte Neujahrsgeschenke oder Essen und Getränke für die Feier zu kaufen, herrschte ein ausgesprochen normaler Verkehr. Nach kurzer Zeit bogen wir auf den Parkplatz ein, wo wir immer parkierten, wenn wir hier einkaufen gingen, und bereits nach wenigen Minuten wurde ein Parkfeld frei.

Im Merkazi Schuster wimmelte es von Leuten, die letzte Besorgungen für die Feierlichkeiten tätigten, die kleinen Restaurants und Cafés waren voll und von überall her hörte man die Leute einander ein gutes Jahr und frohe Feiertage wünschen. Shana tova, hag sameach, shana tova.

Die Frau, die uns in der Boutique Central bediente, erinnerte sich an Ellen, obwohl wir sicher mehr als ein halbes Jahr nicht mehr hier waren, und überraschenderweise auch an mich, „den Schweizer“. Sie war sehr nett und als wir den kleinen Laden verliessen, schenkte sie uns ein Cupcake und wir wünschten ihr ein frohes neues Jahr.

Auf dem Weg zurück hielt Ellen am Strassenrand an. Es war kein richtiger Parkplatz, aber da ich nicht vorhatte, lange im Studentenladen zu bleiben, wollte sie im Auto warten. Ich gab ihr einen Kuss und stieg aus. Beinahe hätte ich ihr gesagt, fahr weiter, ich muss nicht unbedingt jedes Mal in den Studentenbuchladen. Ich würde, wenn überhaupt etwas, nur zum dritten mal dasselbe Buch mit Karikaturen kaufen, das ich einmal für mich und einmal für einen meiner Söhne gekauft hatte. Würden sie es immer noch haben? Und wem sollte ich es diesmal schenken?

Aber ich sagte nichts, Ellen hielt an und ich stieg aus. Diesmal hatte sie näher beim Buchladen anhalten können als das letzte Mal. Ich überquerte die beiden Fahrspuren, den Grünstreifen in der Mitte und dann die beiden Fahrspuren der Gegenfahrbahn.

Als ich durch die Passage neben dem Japanica-Restaurant ging und die Roller der Ausläufer sah, die in einer Reihe mit an den Strom angeschlossenen Kältezellen parkiert waren, dachte ich, vielleicht ist nicht nur das Restaurant, vielleicht ist auch der Studentenbuchladen am Vorabend des neuen Jahrs geschlossen.

Und ich hatte Recht. Die Türe und die Fensterfront waren von innen her mit Papier verklebt und die Türe war mit einer dicken Kette verriegelt. Vielleicht war der Studentenladen sogar umgezogen. Ich machte auf dem Absatz kehrt und rammte eine junge Frau, die direkt hinter mir stand.

Mein Gott, entschuldigen Sie bitte! Das tut mir wirklich leid.
Ich hätte Sie fast umgestossen.

Sie sah verwirrt und erschrocken aus.
Sie sagte etwas auf Hebräisch, was ich trotz meiner mangelhaften Kenntnisse der Sprache als „Laden geschlossen?“ verstand.

Ken, sagte ich. It’s closed. Sorry.
Dann machte ich mich auf den Weg zurück zum Auto.

Das Buch, das ich ein drittes Mal gekauft hätte, wenn es an Lager gewesen wäre, war ein Buch mit Karikaturen, die allesamt nicht schlecht waren, aber eine einzige war den Preis des Buches alleine wert. Auf drei Bildern waren zwei Hügel im Laufe der Zeit zu sehen. Auf dem ersten Bild sagte der eine Hügel zum andern: „Hey, Frank.“. Auf dem zweiten Bild sagte der andere Hügel: „What?“ und auf dem dritten Bild sagte der erste Hügel: „Never mind. You had something on your head, but it´s gone now.“ Auf dem ersten Bild war eine kleine Burg auf dem einen Hügel, auf dem zweiten war rund um die Burg eine Stadt entstanden und auf dem dritten war der Hügel leer.

Als ich aus der Passage auf die Strasse hinaustrat, hielt direkt vor meiner Nase ein Linienbus. Was, schoss es mir unvermittelt durch den Kopf, wenn ich einsteigen würde?

 

 

Von Tel Aviv nach Tahiti

Naomi Steinfels.
Und ihr Mann?
Aaron Steinfels.
Und wie genau soll er verschwunden sein?
Das habe ich Ihnen doch gerade erzählt.
Ich habe auf dem Rückweg vom Markezi Schuster im Auto auf ihn gewartet, während er im Studentenbuchladen noch ein Buch abholen wollte, das er bestellt hatte, und als ich nach ein paar Minuten von meinem Telefon hochschaue, sehe ich, wie er auf der anderen Strassenseite in einen Bus steigt, der in der Gegenrichtung davonfährt.
Und wann soll das passiert sein.
Gestern, und ich mag ihren Ton nicht. Es ist genauso passiert, wie ich es Ihnen gerade gesagt habe.
Vielleicht ist ihm ja nur etwas eingefallen und er wollte rasch zurück zum Markezi Schuster um noch ein Geschenk zu kaufen. Für Sie. Etwas, womit er sie überraschen wollte.
Blödsinn. Dann wäre er doch nicht verschwunden. Er wäre gleich zurückgekommen.
Und was soll ich jetzt Ihrer Ansicht nach tun?
Eine Vermisstenanzeige aufnehmen, herrgottnochmal, ihn ausschreiben.
Das kann ich nicht, Frau Steinfels. Wir können jemanden frühestens nach drei Tagen als vermisst ausschreiben. Wissen Sie, wie viele Leute jemanden als vermisst melden wollen, der am nächsten Tag wieder auftaucht?
Nach drei Tagen? In drei Tagen ist er möglicherweise in Tahiti.
In Tahiti? Warum in Tahiti?

Ach, vergessen Sie es.
Naomi nahm ihre Handtasche vom Pult des Polizisten und verliess wütend den Polizeiposten.

Als sie am Vortag gesehen hatte, wie Aaron in den Bus einstieg, hatte sie ihren Augen nicht getraut. Was machte er da?
Stieg er gerade in einen Linienbus ein?
Sie riss die Wagentüre auf, was den sich von hinten rasch nähernden Fahrzeuglenker zu einem wilden Schlenker zwang, und schrie „Aaron!!!“ aber er war bereits im Bus verschwunden, der sich nach einem kurzen Stop wieder in Bewegung gesetzt hatte.
Nachdem sie ein paar Minuten unter Schock mit offener Autotüre dagesessen war, stieg sie aus, schloss den Wagen ab und überquerte die Strasse.

Sie ging durch die Passage beim Japanica-Restaurant die in den Innenhof zum Studentenbuchladen führte, und sah schon von weitem, dass er geschlossen war. Ein Mann stand mit dem Rücken zu ihr vor der geschlossenen Türe. Hatte er den Laden gerade abgeschlossen und Aaron vielleicht gesehen? Sie ging auf ihn zu und als sie fast hinter ihm stand, drehte er sich abrupt um und hätte sie fast über den Haufen geworfen.
Er entschuldigte sich und sie fragte ihn (eine völlig idiotische Frage, sie konnte es ja selber sehen), ob der Laden geschlossen sei.

Was wollte sie hier? Aaron war in den Bus eingestiegen. Auch wenn der Buchladen geöffnet gewesen wäre, hätte sie ihn hier nicht mehr angetroffen.

Sie ging zurück zur Bushaltestelle und begann die Routen der Buslinien zu studieren, die hier anhielten. Es gab vier Linien, also vier Endstationen. Aber was half das? Er konnte ebenso gut an der nächsten Haltestelle aus- oder umgestiegen sein, wie er bis an eine der Endstationen gefahren sein konnte. Aber an welche? Und warum?

Warum war Aaron vor dem Neujahrsabend vor ihren Augen in einen Bus gestiegen und verschwunden? War er gefallen und hatte sich den Kopf gestossen? War er verwirrt und wusste nicht mehr, wer er war und wo er hingehörte? Irrte er irgendwo herum? Hatte er sie gerade verlassen?

Nein, Ima, wir werden heute Abend nicht kommen. Aaron ist in einen Bus gestiegen.
Maze?
Aaron ist fort, Ima. Ich glaube, er hat mich verlassen.

Ich weiss, ich glaube es selber nicht, aber der Scheisskerl ist ganz offensichtlich abgehauen.
Nein, ich komme nicht alleine. Ich kann das nicht. Was soll ich denn sagen, wenn alle mich fragen, wo Aaron ist. In Tahiti mit seiner Geliebten? Nein, ich werde zuhause bleiben.
Nein, ich will nicht, dass Du herkommst, Ima. Hörst Du? Auf keinen Fall. Ich muss jetzt alleine sein.
Ich werde seinen Krempel ausräumen. Das wird mich beschäftigen. Ich will, dass alles hier weg ist, wenn das neue Jahr beginnt. Es soll ein wirklich gutes Jahr werden.
Ich werde seine Sachen auf die Strasse hinunter tragen. Nein, ich brauch keine Hilfe. Ich will das alleine machen.
Shana tova, Ima. Bye.

Warum? Warum hatte er sie verlassen? Er schien glücklich mit ihr. Gab es wirklich eine andere?
Oder hatte er den Verstand verloren? Tat sie ihm Unrecht, wenn sie ihn verfluchte? War es eine geplatzte Ader in seinem Gehirn, ein Blutgerinsel, das sein Gedächtnis blockierte? Würde er sich je wieder erinnern? Und an was? Auch an Sie?

Ich öffnete die Autotüre. Ellen blickte von ihrem Telefon hoch. Das ist aber schnell gegangen. Hast Du das Buch?
Der Laden ist geschlossen, antwortete ich. Aber der Stop war nicht umsonst. Ich habe eine Idee für eine Geschichte.

 

 

Von Even Yehuda nach Even Yehuda

Am Abend vor dem letzten Tag des jüdischen Neujahrs waren wir beim Bruder meiner Frau in Even Yehuda zu Besuch. Aus irgendeinem Grund, an den ich mich nicht mehr erinnere, verbrachten wir einen guten Teil des Abends damit, über Menschen aus unserem Bekanntenkreis zu sprechen, die jung verstorben oder im Alter schwer erkrankt waren.

Das war irgendwie seltsam, denn der Bruder meiner Frau und seine Frau sind 10 Jahre jünger als ich. Sie haben Kinder, die zur Schule gehen, und es gibt für sie eigentlich keinen Grund, sich mitten im Leben mit dem Tod zu beschäftigen, auch wenn er natürlich auch in ihrem Umfeld nicht fremd war.

Die Frau des Bruders meiner Frau erwähnte den Chef ihrer Firma, der eines Tages die Mitglieder seiner Geschäftsleitung zusammengerufen habe, um ihnen mitzuteilen, wie es mit der von ihm gegründeten Firma weitergehen soll, wenn er tot sei. Er habe die Sitzung mit den Worten „In einer Woche werde ich tot sein“ begonnen, was er dann auch war.

Mir sind ob der Ankündigung sofort die Eltern eines guten Freundes in den Sinn gekommen, die ihrem Leben durch begleiteten Suizid ein Ende gesetzt haben. Sie haben sich von ihren beiden Söhnen verabschiedet und alle wussten, am Tag X würden sie begleitet sterben. Es war ein fürchterlicher Tag für meinen Freund, dieser Tag X. Er ist an jenem Morgen zu besagter Zeit im Wald joggen gegangen und hat geschrien, aber sie haben ihn bereits nicht mehr gehört.

Wo hört ein Leben auf? Am letzten Tag des Lebens oder bereits viel früher? Und wenn es früher aufhörte, merkte man es, oder merkten es nur die andern?

Ich erwähnte die Eltern meines Freundes nicht. Der Tod und das Sterben waren ohne Selbstmord schon schwer genug für diese laue Spätsommernacht, denn der Abend war längst und mit der für Länder nahe am Äquator typischen Plötzlichkeit in eine dunkle Nacht übergegangen.

Ich trug lediglich eine ehemalige Freundin zum Gespräch bei, die vor einigen, vielleicht zehn oder 15 Jahren, gestorben war (Es ist ein seltsamer Gedanke, dass jemand, mit dem man einmal intim war, nicht mehr lebt, dass es diesen Körper nicht mehr gibt, den man einmal voller Lust verzehrt hat, während die Seele noch durch die Erinnerungen der Überlebenden streift), sowie einen Freund meines besten Freundes, der vor einigen Jahren an Parkinson erkrankt war.

Dabei hätte ich als der Älteste in der Runde problemlos noch einige Tote und Alterskranke erwähnen können. Von zwei jung verstorbenen Schulkameraden bis hin zu meinen früh verschwundenen Eltern. Aber ich liess sie unerwähnt. Ich sass unter dem Stoffdach auf der Veranda und spürte, dass die meisten meiner Toten nicht erwähnt werden wollten. Nicht hier, nicht jetzt.

Ich hörte zu, wie der Bruder des Exmanns meiner Frau mit 51 tot vom Fahrrad fiel (wir hatten ihn eben erst noch an der Hochzeit der Tochter meiner Frau gesehen), wie die Grossmutter der Frau des Bruders meiner Frau dement wurde, wie die 94-jährige Mutter der besten Freundin der Mutter meiner Frau eines Tages dem jungen Mann, der ihr im Haushalt half, sagte: „Wenn ich sie noch einmal meine Blumen giessen sehe, werfe ich die Giesskanne und alle ihre Kleider aus der Wohnung!“

Das Alter mit seinen Krankheiten und Abbauerscheinungen konnte ja durchaus lustige Momente schaffen, zumindest wenn man sie erzählt erhielt, während der Tod auch beim Erzählen selten eine lustige Gestalt annimmt. Maximal zeigt er ein versöhnliches Gesicht, wenn sich zum Beispiel der 86-jährige Bruder der Schwester einer Bekannten nach dem Mittagessen eine „Krumme“ anzündet und im Liegestuhl auf dem Balkon „friedlich einschläft“, wie man sagt. So hätte ich es auch meinem Vater gewünscht, der ebenfalls „Krumme“ rauchte. Aber friedliches Einschlafen stand nicht in seinem Buch.

Bei Büchern kommt das Ende auf Seite 362 oder auf Seite 178 oder auf einer der allerletzten Seiten, die manchmal bereits keine Seitenzahl mehr trägt, bevor dann noch zwei leere Seiten folgen (für Notizen?) und am Ende vielleicht noch ein paar Abbildungen und Titel weiterer Bücher des selben Autors, die der Verlag anbietet, oder von anderen Autoren, die er einem schmackhaft machen möchte (Bernard Malamud).

Man weiss also beim Lesen an der Dicke oder Dünne des noch zu lesenden Teils des Buchs, wann es ungefähr kommt, das Ende, und ob es noch lange oder nicht mehr lange dauert, bis es kommt. Wenn ich mich dem Ende eines Buches nähere, blättere ich ans Ende und schaue, auf welcher Seite die Erzählung zu Ende geht – vorsichtig, damit ich auf keinen Fall ein Wort lese, was den Ausgang der Geschichte verraten könnte – damit ich weiss, wie viele Seiten ich noch habe. Im Leben weiss man nie, was noch bleibt. Man kann höchstens zurückblättern.

Um das Thema endlich von den Toten und Alterskranken weg zu lenken, die missmutig rund um den Tisch sassen und nach mehr Wein verlangten, sagte ich: ist es nicht verrückt, wie manchmal Leute einfach verschwinden, als hätte sie der Erdboden verschluckt?

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