Die Sondierung von Möglichkeitsräumen oder das plötzliche Verstummen der Grillen

Etwa vor einem Jahr wohnte ich einer interessanten Präsentation eines Think Tanks einer Grossbank bei. Beiwohnen, als hätte ich kurz dort gewohnt.

Der Think Tank besteht aus einem IT-Mitarbeiter der Bank und Universitätspraktikanten, die alle sechs Monate ausgewechselt werden, damit es sich niemand in der Zukunft gemütlich machen kann, denn damit befasst sich der Think Tank: mit der Zukunft.

Im Vordergrund steht die Frage, wie die Welt in 30 Jahren aussehen wird. Nicht in 10 oder 50 Jahren, in 30. Das hat mit verschiedenen Faktoren zu tun, die einleitend erläutert wurden (Anlagezyklen? Vererbung?), mir aber entfallen sind.

Jedenfalls weiss die Bank genau, was sie mit ihrem Think Tank will. Durch Zukunftsforschung sollen ihr Möglichkeitsräume für ihre Aktivitäten in der Zukunft eröffnet werden. Für die Vermögensverwaltung. In 30 Jahren.

Niemand wisse, so der Leiter des Think Tank zu Beginn der Präsentation, wie die Welt in 30 Jahren aussehen werde. Aber man könne durchaus eine Vorahnung haben.

Die Bank betreibt den Think Tank nicht zum Spass. Man will voraussehen und dann etwas Grosses auf die Beine stellen. Für die Vermögensverwaltung der Zukunft.

Vorbild ist John F. Kennedy, der sich 1961 vornahm, noch im selben Jahrzehnt einen Menschen zum Mond und zurück zu bringen, was er dann ja auch geschafft hat.

Nicht alleine natürlich, wie wir seit Bertold Brechts „Fragen eines lesenden Arbeiters“ wissen. Es haben noch ein paar andere Menschen mitgearbeitet. Aber wir reden ja hier von einer Grossbank. Die kann sich den Mond zum Ziel setzen.

Der Think Tank arbeitet mit Annahmen, die man sich ausdenkt oder die man sich von irgendwo ausgeliehen hat. Zinsfrei. Eine dieser Annahmen lautet, dass es in 30 Jahren möglich sein wird, gleichzeitig an zwei Orten zu sein.

Das klingt ziemlich unwahrscheinlich und dürfte schwierig werden, wenn man an die vielen Menschen denkt, die schon mit dem längeren Aufenthalt an einem Ort Mühe haben und möglichst rasch weiter wollen.

Obwohl es neulich Physikern gelungen sein soll, die gleichzeitige Präsenz eines winzigen Teilchens an zwei Orten nachzuweisen, dürfte der Schritt, den es noch braucht, bis sich ein ganzer Mensch gleichzeitig an zwei Orten aufhalten kann, ohne sein Telefon zu verlieren, noch ein sehr grosser sein.

Aber vielleicht habe ich auch etwas falsch verstanden und es geht lediglich um gleichzeitige virtuelle Anwesenheiten. Nur sind wir da ja schon längst. Wozu also die 30 Jahre?

Sei‘s drum. Vielleicht lassen sich ja auf dieser Annahme tatsächlich ein paar Gedanken aufbauen (oder aus ihr ableiten), die Möglichkeitsräume für die Vermögensverwaltung eröffnen. Relevant ist das allerdings nur, wenn man Vermögen hat, das es zu verwalten gilt.

Ich sitze gerade in meinem Garten in Wien, der mir natürlich nicht gehört. Ich darf ihn mit Auflagen benutzen. Unsere Hunde liegen flach auf dem nach einem heissen Spätsommertag endlich etwas abgekühlten Steinboden.

Es ist bereits am eindunkeln, die Grillen zirpen und erinnern mich an ihre fleissigen Artgenossen, die wir noch vor drei Tagen in der Provence gehört hatten.

Eines Abends, es war bereits dunkel, sagte meine Frau zu mir, hörst Du? Ich höre nichts, antwortete ich. Genau – sie haben aufgehört. Ganz plötzlich, wie auf Kommando. Ist das nicht seltsam?

Es war tatsächlich auf einen Schlag still geworden. Als hätten die Grillen nach ihrer Zirpschicht ausgestempelt und wären nun auf dem Heimweg, jede für sich.

Ich versuchte mich zu erinnern, wie und warum die Grillen zirpen. Irgendwann wusste ich das. Sind es die borstigen Hinterbeine, die sie aneinander reiben? Und was ist der Zweck? Verschafft es ihnen auf irgend eine Art Kühlung?

Damit würde sich erklären lassen, warum das Zirpkonzert nach dem Eindunkeln aufhörte, aber machte es Sinn, mit Reibungswärme?

War es ein Zirpen ganz ohne Sinn und Zweck? Gab es in der Natur zwecklose Dinge? Und warum hörte es dann ganz plötzlich auf? Ging das Sinnlose nicht endlos weiter?

Später schaute ich nach. Und natürlich: es sind die Männchen, die den ganzen Krach veranstalten, und – ebenso klar – mit dem einzigen Zweck, Weibchen anzulocken. Weibchen, die offenbar kein Gehör, aber ein Trommelfell haben, mit dem sie die Schwingungen aufnehmen.

Hatten also im Moment, als das Zirpen verstummte, alle Männchen gleichzeitig ein Weibchen angelockt und nun waren sie unterwegs zur Massenhochzeit? Oder hatten sie es gemeinsam aufgegeben, nach langen Stunden des erfolglosen Zirpens?

Das wird nichts mehr heute, Jungs. Lasst uns noch etwas trinken gehen. Wir zirpen morgen weiter.

Niemand kann die Zukunft voraussehen. Aber nehmen wir einmal an, dass es mit den Menschen noch nicht klappen wird, dass der Schritt vom Teilchen zum Menschen doch etwas zu gross war, auch wenn man wie Kennedy denkt, dass Grillen hingegen in 30 Jahren ohne Weiteres an zwei Orten gleichzeitig zirpen können.

Was heisst das dann für die Vermögensverwaltung? Eröffnet es Möglichkeitsräume?

Oder heisst es ganz einfach, dass es nicht mehr notwendig sein wird, in die Provence zu reisen? Würde ich das überhaupt noch wollen mit 92? Würde ich es nicht vorziehen, zuhause und gleichzeitig bei mir zu sein?

Wer kein Vermögen zu verwalten hat, muss sich ja nicht auf das Beklagen seines Unvermögens beschränken.

Man kann zum Beispiel irgendwo in einem gemieteten Garten sitzen und den Lockrufen der Grillen zuhören, wie sie langsam und fast unmerklich leiser werden, wenn einzelne Männchen gefunden wurden, oder wie sie ganz plötzlich alle zusammen verstummen, Gott weiss warum

Eine Antwort to “Die Sondierung von Möglichkeitsräumen oder das plötzliche Verstummen der Grillen”

  1. Roger Says:

    ich befürchte, dass sie schon im Winterschlaf sein werden, wenn wir uns sehen…

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