Vom Luxemburgischen Autor Guy Helminger gibt es einen Gedichtband mit dem Titel «Die Tagebücher der Tannen». Ich war aus zwei Gründen skeptisch, habe ihn dann aber doch bestellt. Erstens weil ich «Irgendetwas fehlt immer» angelesen hatte und es nicht halb so toll geschrieben fand, wie ich es aufgrund des starken Titels und der Besprechung, die ich gelesen hatte, erwartet hatte. Und zweitens, weil ich ziemlich sicher bin, dass Tannen, wenn überhaupt, eher nachts schreiben würden. Ja, ich weiss, aber trotzdem.
Der Titel («Die Tagebücher der Tannen») ist ja wirklich gut. Nicht nur wegen dem Stabreim («Das Tantrum der Tonnen» würde wohl niemand lesen wollen). Der Gedichtband liegt seit seiner Ankunft in einem wattierten Umschlag auf meinem Schreibtisch. Ich habe noch nicht wirklich reingeschaut. Vielleicht ein wenig aus Angst davor, dass der Inhalt beim Lesen wie bei «Irgendetwas fehlt immer» hinter das Versprechen des Titels zurückfällt. Vielleicht ist Helminger ja einer jener Autoren, die gute Titel finden und dann an einen mittelmässigen Text verschwenden.
Am schönsten ist es immer dann, wenn der Inhalt eines Buches das Versprechen seines guten Titels einlöst. «Diesseits des Van-Allen-Gürtels» von Wolfgang Herrndorf war für mich (jeder liest ja anders) ein solches Beispiel. Die Geschichten haben mich zwar nicht restlos begeistert, weder von ihrer Handlung her noch von der Art, wie sie geschrieben sind, aber ich kam nie auf den Gedanken, das Buch nicht zu Ende zu lesen, oder dass der gute Titel vergeudet gewesen wäre.
Als ich den Titel vor ein paar Minuten googelte, weil mir der Autor nicht sofort in den Sinn kam, gab ich irrtümlicherweise «Jenseits des Van-Allen-Gürtels» ins Suchfenster ein, worauf die Suchmaschine «Diesseits des Van-Allen-Gürtels» vorschlug. Sie hat nicht einmal gefragt: Meinten Sie «Diesseits des Van-Allen-Gürtels?». Sie hat einfach «Jenseits» mit «Diesseits» ersetzt. Vielleicht ist das eine subtile Selbstmordbremse. Jemand will ins Jenseits und die Suchmaschine lenkt ihn ins Diesseits um.
Zurück zum Wald. Die vorliegende kleine Kulturgeschichte befasst sich mit dem Wald in Mitteleuropa, weil man den Wald eingrenzen muss, damit nicht gleich alles verwaldet. Nicht nur Landschaften, auch ein Text kann rasch verwalden, wenn man ihn sich selber überlässt. Es wächst dann alles mit Interpretationen zu und die Kultur wird von einer besitzergreifenden Pseudokultur überwuchert, in der ein oft hermetischer Fachjargon um sich greift und Unwörter ins Kraut schiessen.
Unter Mitteleuropa verstehen wir hier (es braucht diese Präzisierung, denn anderswo versteht man darunter etwas Anderes) den Bereich zwischen Nordsee und Alpen sowie zwischen Ostsee und Schwarzem Meer, also ein ziemlich grosses, einst fast vollständig mit Wald überzogenes Gebiet.
Man muss sich das vorstellen, weil man es ja nicht mehr besichtigen kann: eine Luftaufnahme von Europa, oder eben Mitteleuropa, aus einem Aufklärungsflugzeug betrachtet, aus dem immense Flächen von Wald zu sehen sind. Eigentlich fast nichts Anderes als Wald, von ein paar wenigen grossen Flüssen durchzogen (die kleinen werden von der dichten Ufervegetation verdeckt), die sich mäandernd ihren Weg ins Meer suchen, und nur hier und da eine Brandrodung, ein kleines Dorf vielleicht? Wir müssen näher ran.
Bevor wir landen, müssen wir noch ein wenig Theorie abwerfen. Die natürliche Landebahn wird, wenn es überhaupt eine gibt, kurz sein und wir dürfen nicht zu schwer sein, falls wir durchstarten müssen. Das heutige Landschaftselement «Wald», so las ich in Wikipedia, sei eine in Jahrtausenden geschaffene Kulturlandschaft, die (ich zitiere) «fast ausschließlich auf Ersatzgesellschaften» beruhe. Hier musste ich als Leser den Reflex unterdrücken, aus dem Text auszuklinken und bei meiner eigenen Vorstellung von Wald zu bleiben.
Ersatzgesellschaften? Weshalb sollte eine Gesellschaft, die sich erst gerade in kleinen, mühsam der Wildnis entrissenen Rodungen entwickelt hatte, bereits ersetzt worden sein? Und von wem? Und warum sollte der «Wald» als Kulturlandschaft auf diesen Ersatzgesellschaften beruhen, die ihn zu roden versuchten? Und warum „Wald“? Was bedeuteten die Anführungszeichen? Standen sie für den Waldrand?
Mein Problem mit den meisten Wikipedia-Artikeln sind neben den oft wirren Formulierungen die andauernden Querverweise. Man möchte einen Begriff erklärt haben (versuchen Sie es an einem freien Abend ruhig einmal mit Kolonialisierung) und kommt, um die Erklärung einigermassen zu verstehen, per Link von einem Begriff zu so vielen anderen, dass man relativ rasch vergisst, was man eigentlich wissen wollte. Man weiss nur noch, was man alles nicht weiss und dass man es noch weniger versteht, wenn es einem erklärt wird.
Wissend, dass es mich von meinem Ziel entfernen würde, klickte ich dann doch noch auf den Begriff «Ersatzgesellschaft», weil es mich wirklich wunder nahm, was sich dahinter verbergen mochte, und ich las, dass damit Pflanzengesellschaften gemeint sind, die «unter anthropogenen Einflüssen entstanden sind, erhalten werden oder sich als direkte Folge aktueller oder ehemaliger Nutzungen einstellen.»
Was für ein wunderbarer, alles enthaltender Satz. Und weil ich nun schon so nahe am Verstehen war, nahm ich diesen einen Satz auch noch mit: «Der ursprüngliche natürliche Zustand und Grad der Beeinflussung durch den Menschen (Hemerobie) sind schwer abzuschätzen.».
Eine anthropogene Hemerobie also. Das erklärt alles. Daher also der viele Wald. Damit wird dann auch gleich die auffällige Dominanz von Buche Eiche, Fichte und Kiefer verständlich. Künstlich angelegte Forste soweit das Auge reicht, durch menschliche Eingriffe entstanden. Sind wir zu weit geflogen? Ich wollte das Frühmittelalter besichtigen. Brandrodungen. Vereinzelte Siedlungen, umgeben von Urwald, der heute in Mitteleuropa kaum mehr zu finden ist.
Der ursprüngliche Grund für die sich nun leider verirrende Expedition liegt weit zurück, in meiner Studienzeit, als ich auf eine Karte Frankreichs im 5. oder 6. Jahrhundert stiess. Man sah darauf nur Wald. Wald, ein paar grosse Flüsse und hier und da, wie eine kleine Insel, eine Brandrodung.
Es war keine richtige Karte, es war lediglich eine schematische Abbildung in einem Buch, und es war natürlich auch nicht Frankreich, das es damals noch gar nicht gab, aber es war Wald, unheimlich viel Wald, und es war mir augenblicklich klar, dass dieses Gestern genau das Gegenteil von meinem damaligen Heute zeigte, wo eine Luftaufnahme Frankreichs, das unterdessen entstanden war, nur noch ein paar vereinzelte Waldflächen zeigen würde, wie Inseln in einer viel zu gross geratenen Rodung.
Es kam dann leider wirklich so, wie ich befürchtet hatte. Anstatt wie geplant Ballast abzuwerten, hatten wir uns durch die schwerfälligen und viel zu langen Definitionen aus Wikipedia ein Übergewicht eingehandelt, das ein Durchstarten auf der kurzen Naturpiste zum aussichtslosen Unterfangen machte. Unser Pilot riss die Maschine hoch, als sich der Waldrand mit der Geschwindigkeit einer zweimotorigen Propellermaschine näherte und wir immer noch nur ein paar Meter vom Boden weg gekommen waren, aber es nützte nichts.
Ich rief noch „Es tut mir leid!“, denn ich fühlte mich verantwortlich, aber noch bevor die Maschine ins Unterholz krachte, war mir klar, dass ich es wieder versuchen würde. Mit neuem Personal. Ohne Wiki..
29. Dezember 2019 um 14:22
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