Gines Traum

– die Geschichte am Punkt, bis zu dem sie erzählt wurde

Wenn sich in einem Raum vier Menschen aufhalten und drei von ihnen sind wach, wie gross ist dann die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich im Traum des Schlafenden befinden?

Oder möchten Sie lieber eine andere Frage?

Was ist das Leben eher: ein Taubenschiss auf dem Fensterbrett eines unbewohnten Hauses, der vom Regen weggewaschen wird, bevor er trocknen kann, oder ein bunter Schmetterling, der auf einer Wildwiese von Blume zu Blume flattert, während die Vögel harmlos zwitschern und die Sonne seine Flügel wärmt?

***

Meine Tante ist 86. Vielleicht auch 85. Es läuft auf fast auf dasselbe hinaus. 86 und 85 ist wie Höngg und Wipkingen. Ich meine, sie sei sechs Jahre jünger als ihr Bruder, der im Alter von 28 mein Vater wurde. Er hat sie in ihrer gemeinsamen Jugend in Höngg im Wald an ihren langen blonden Zöpfen an einem Baum festgebunden, wenn er sie an einem schulfreien Nachmittag hatte mitnehmen müssen und auf dem Weg zu einer Massenkeilerei war, zu einer dieser epischen Prügeleien, bei denen sich die Jugend ganzer Schulhäuser, manchmal auch ganzer Quartiere, in den letzten Kriegsjahren gegenüberstand. Ich stelle es mir vor wie die Schotten gegen die Engländer, nur ohne Waffen.

Jetzt liegt sie in einem Spitalbett im Stadtspital Waid, in der Luftlinie keine zwei Kilometer von ihrem Haus mit dem halb verwilderten Garten entfernt, in dem sie ihr ganzes Leben verbracht hat und das nun, an diesem sonnigen Sonntag im Januar, an dem man aus dem Panoramafenster des Spitalzimmers das höchste Gebäude der Stadt und dahinter den Zürichsee sehen kann, unendlich weit weg ist für sie, vielleicht fast schon unerreichbar. Ihre Hühner gehen lautlos gackernd im Garten umher.

Mein Bruder ist da, der vor anderthalb Jahrzehnten in diesem Spital gearbeitet hat, und ich bin mit meiner Frau am Sonntagmorgen von Wien nach Zürich geflogen, als wir erfuhren, dass Gine am Tag zuvor in die Notfallstation eingeliefert worden war. Es klang nicht gut. Es klang, als würde es gleich zu regnen beginnen. Es klang, als wäre das Vogelgezwitscher verstummt und ein Vogel würde sich dem Schmetterling nähern.

Es klang, als hätten wir zwei Möglichkeiten: Entweder, wir setzten uns in ein Flugzeug, oder wir beschlossen, dass der Besuch in Höngg am Ende unserer Weihnachtsferien die letzte Begegnung mit Gine gewesen sein würde. Er hätte durchaus zur letzten Begegnung getaugt.

Wir sassen zu dritt in ihrem kleinen Wohnzimmer, in dem noch der geschmückte Weihnachtsbaum stand, löffelten zum Ticken der Wanduhr eine milde Gemüsesuppe, die meine Frau gekocht und mitgebracht hatte, und redeten über das Leben in Höngg in lange vergangenen Zeiten, während die tief stehende Wintersonne es gerade so durch die Vorhänge schaffte.

Irgendwann im Laufe des Nachmittags kam dann noch eine Nachbarin vorbei und wir tranken mit ihr Kaffee. Sie heisst Ruth und ist die kleine Schwester einer Schulkameradin von Gine. Wenn im Altersheim in Altstetten, auf der anderen Seite der Limmat, eine Vierzimmerwohnung frei wird, wird sie dort einziehen.

Wir beschlossen, zu fliegen. Obwohl wir nicht wussten, was uns erwarten würde. Würde Gine ansprechbar sein? Würde sie uns erkennen? Oder würde sie mich für meinen Bruder halten? Und wenn sie ihn nicht für mich halten würde, wer wäre er dann und was hatte er an ihrem Krankenbett zu suchen?

Im Flugzeug las ich einen Zeitungsartikel mit dem seltsamen Titel „Gibt es uns wirklich?“ Was für eine dumme Frage. Natürlich gibt es uns nicht wirklich. Aber es gibt uns auch nicht wirklich nicht. Definieren Sie Wirklichkeit, maximal zwei Seiten, sagte die Lehrerin am letzten Schultag zu den Gymnasiasten, Zeilenabstand 1.5, Arial 10. Und jetzt wünsche ich Ihnen schöne Weihnachtsferien und einen guten Start ins kommende Jahr und einen guten Start ins kommende Jahr und einen guten Start ins kommende Jahr.

Meine Schwiegermutter hat mir zum Geburtstag diese neuen Kopfhörer geschenkt. absolute Wunderdinger mit der Fähigkeit, Aussenlärm fast ganz zu unterdrücken, obwohl es nur Ohrenstöpsel sind. Man setzt sie ein und man hört, wie jemand eine Tür schliesst, durch die der Aussenlärm – immerhin zwei sich aufwärmende Flugzeugtriebwerke und das Geschnatter von missmutigen Passagieren, die versuchen, ihr Handgepäck in bereits vollen Fächern zu verstauen – danach nur noch gedämpft ans Ohr dringt. Ich wählte eine Leonard Cohen Playlist von meinem Telefon und begann zu lesen. There´s a crack, a crack in everything – that’s where the light comes in (that’s where the light comes in)…

Im Artikel ging es um die Frage, ob es sein kann, dass wir in einer Computersimulation leben. Wahrscheinlich wieder so ein Schwachsinn, ging es mir durch den Kopf, der darauf hinausläuft, dass Knaben und junge Männer viel zu viele Stunden mit Computerspielen verbringen und den Kontakt zur Wirklichkeit verlieren, in der die Generation ihrer Urgrossväter unablässig Kriege geführt hatte und sich ihre Grossväter quartierweise geprügelt haben. Ich wollte bereits zu den Sportseiten wechseln, las dann aber trotzdem weiter.

Es ging um drei Szenarien, die der Philosoph Nick Bostrom offenbar in einem im Jahr 2003 veröffentlichten Aufsatz mit dem Titel «Are You Living in a Computer Simulation?» beschrieben hat. Er stellte sich für das Universum in ungefähr 10‘000 Jahren drei Szenarien vor. Im ersten war die Menschheit ausgestorben. Das schien mir das angenehmste und einfachste Szenario, denn man musste nicht weiterdenken – es sei denn, man wäre an den Gründen des Aussterbens interessiert und meinte es vielleicht sogar verhindern zu müssen.

Im zweiten Szenario existiert in 10‘000 Jahren eine technisch weit fortgeschrittene posthumane Spezies, die in der Lage wäre, mit Megacomputern ihre Vorfahren in deren Welt und Zeit zu simulieren, inklusive ihres individuellen Bewusstseins, solche Programme aber nicht laufen lässt, zum Beispiel aus ethischen Gründen oder weil sie Besseres zu tun hat.

Das dritte Szenario geht davon aus, dass diese Spezies ihre Fähigkeit zur Simulation tatsächlich anwendet, was zur sogenannten Simulationshypothese führt. Diese besagt, dass wir gegenwärtig mit einiger Wahrscheinlichkeit in einer Computer-simulation leben. Dies deshalb, weil es als sehr unwahrscheinlich gelten müsse, dass gerade wir die „echte“ Zivilisation seien, welche die zur Simulation fähigen Superrechner eines Tages entwickeln wird.

Dass wir diese Zivilisation wären, sei deshalb unwahrscheinlich, weil es (auch das eine Annahme) nur eine „echte“ Welt gebe, jedoch vom Zeitpunkt an, an dem Welten simuliert werden können, fast unendlich viele simulierte Welten. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir nicht in der einzigen „echten“, sondern in einer dieser virtuellen Wirklichkeiten leben, wäre demnach sehr gross.

Mein Bruder sass rauchend auf einer Bank vor dem Spital, als wir uns von unserem türkischen Fahrer verabschiedeten und aus dem Uber stiegen. Wir umarmten uns und gingen unter seiner Führung auf die Station. Alles ist völlig anders hier seit dem Umbau, sagte er, während dem wir die Treppe hochgingen. Die haben alles völlig neu gemacht. Auf der Station angekommen, fragte er die diensthabende Schwester, ob wir zu Gine ins Zimmer gehen dürfen, und ob es später vielleicht möglich wäre, einen Arzt zu sprechen. Ja und wahrscheinlich nein lautete die Antwort.

Bostrom führt offenbar in seinem Artikel aus, dass eines der drei von ihm beschriebenen Szenarien eintreffen werde. Welches, liesse sich nicht sagen. Ob das so schlüssig ist, scheint mir zweifelhaft. Es sind ja neben seinen drei Szenarien (die im Grunde genommen nur zwei sind, wovon eines sich in zwei Unterszenarien aufteilt) ohne weiteres noch andere denkbar.

Neben dem Aussterben und der Weiterentwicklung zu einer posthumanen Spezies, die in der Lage wäre, ganze Welten zu simulieren, gäbe es ja zum Beispiel auch noch die Möglichkeit, dass die Menschheit zwar im 10‘000 Jahren noch existiert, aufgrund verschiedener Ereignisse jedoch einen beträchtlichen Teil ihres technologischen Wissens wieder verloren hätte und deshalb weit davon entfernt wäre, Welten zu simulieren.

Zudem ist es denkbar, dass es nie eine „echte“ Welt gegeben hat, in der sich im Zuge der Evolution die Spezies Mensch entwickelt hat, die dann auf einer Zeitachse Zivilisationen auf einem Planeten schuf, von denen einige wieder ausstarben und irgendwann eine die Technologie beherrschte, um ganze Welten zu simulieren. Es könnte auch sein, dass es nichts anderes als von Hochleistungscomputern oder Supergehirnen simulierte, virtuelle Welten gibt, die von irgendwelchen Wesen, die weder Gott noch Mensch sein müssen, als Nebenprodukt von etwas geschaffen wurden, das wir uns nicht vorstellen können.

Die Wahrscheinlichkeit, in einem städtischen Spital an einem Sonntagnachmittag den diensthabenden Arzt oder die diensthabende Ärztin sprechen zu können, ist unabhängig von der Annahme oder Ablehnung der einen oder anderen Hypothese verschwindend klein. Sie tendiert gegen Null, wenn man am Abend auf einen Rückflug nach Wien gebucht ist.

Gine schaute zufrieden in die Welt, in was für eine auch immer, simuliert oder echt. Sie beklagte sich über nichts, nur als ich fand, das sei ein schönes Zimmer, mit einer schönen Aussicht (ich wollte irgendetwas Positives sagen), meinte Sie, das Zimmer sei scheusslich. Wieviel der Zustand, in dem sie sich befand, mit den Medikamenten zu tun hatte, die man ihr wegen der Schmerzen gegeben hatte, weiss ich nicht. Dass sie sich an nichts erinnern konnte, auch nicht an unseren eine Woche zurückliegenden Besuch in Höngg, erstaunte nicht.

Sie hatte in den letzten zwei Jahren ab und zu Zustände der Verwirrung durchlebt, die jeweils ein paar Tage lang dauerten, an denen ihr Fernseher nur Programme und Nachrichten zeigte, die sie am Vortag genau so schon gesehen hatte.

Bostrom schätzt die Wahrscheinlichkeit dafür, dass wir in einer Computersimulation leben, auf ungefähr 20 Prozent. Elon Musk und der Computerspezialist George Hotz, der als Siebzehnjähriger das iPhone hackte, sollen von der Simulationshypothese zu 100% überzeugt sein.

Gine ist eine intelligente Frau. Man könnte mit ihr, sofern sie wieder klar wird, die Simulationshypothese sehr gut diskutieren. Ich wäre aber überrascht, wenn sie in die Nähe von Bostroms 20% kommen würde.

Während meine Frau Gines Hand hielt, sie auf die Stirne küsste und ihr sagte, sie sei eine schöne Frau, was Gine lächelnd abtat, stand ich auf und schaute aus dem Fenster. Im Park des Spitals spazierten ein paar Patienten mit ihren Besuchern. In Zeitlupe, wie es schien. Oder standen sie nur da und blickten auf die Stadt hinunter?

Ein paar Kinder spielten an einem Gerät, das entweder zu diesem Zweck bestimmt oder ein Kunstobjekt war, das sich bespielen liess. Für einen kurzen Augenblick meinte ich, im Gegenlicht Hühner zu sehen, die über den Rasen wackelten. Ich machte kurz hintereinander zwei Fotos mit meinem Telefon und musste an meine Eltern denken, die das Mobiltelefon-Zeitalter nicht mehr erlebt haben.

Seht ihr?, sagte ich zu ihnen. Man kann damit nicht nur telefonieren oder im Flugzeug auf seine ganze Musikbibliothek zurückgreifen, man kann auch fotografieren und in zehntausend Jahren ganze Welten simulieren, in denen Menschen mit ihrem Bewusstsein leben, zum Beispiel die Stationsschwester, die nun ins Zimmer tritt und uns erklärt, wie es weitergehen könnte mit Gine.

Während sie spricht und wir Fragen stellen, ist mir unwohl, weil Gine, über die wir sprechen, daneben liegt und uns zuhört und es geht doch um sie, und sie ist ja nicht taub, sie hört, was wir sagen, und sie müsste ja eigentlich selber entscheiden können, was mit ihr passieren soll und was nicht, zumindest dort, wo es Optionen gab. Wie aussterben oder sich weiter entwickeln bis zur Simulationsreife.

Als die Stationsschwester den Raum wieder verlassen hatte, sagte Gine: Was für einen Schmarren ihr alle redet. Ich habe das alles geträumt.  Was alles?, fragte mein Bruder. Das alles. Dass ich hier in diesem scheusslichen Zimmer bin, dass ihr mich besuchen kommt, dass wir dieses Gespräch führen, dass ich sage: Ich habe das alles genau so geträumt.

Und wie ging es weiter in Deinem Traum?, fragte mein Bruder. Das habe ich vergessen, antwortete Gine.

Wenig später kam die Stationsschwester mit einer zweiten Schwester zurück, um Gine wieder auf die Notfallstation zu bringen. Sie hatte Blut im Harn und sie wollten ihr einen neuen Katheter legen. Wir verabschiedeten uns und ich sagte zu ihr: Wir müssen zurück nach Wien, aber wir kommen wieder. Um die Geschichte weiter zu erzählen, sagte Gine, und ich sagte ja: um die Geschichte weiter zu erzählen.

Mein Bruder verabschiedete sich. Meine Frau und ich traten zur Seite, damit die Schwestern das Bett von Gine an uns vorbeirollen konnten. Wir gingen hinter dem Bett her und warteten vor dem Fahrstuhl, der Gine in den Notfall bringen würde. Während wir auf den Fahrstuhl warteten, sah ich aus dem Fenster, wie mein Bruder die Strasse überquerte, zur Bushaltestelle ging und sich dort auf die Bank setzte. Hatte er nicht gesagt, er würde zu Fuss nachhause gehen?

Als wir aus dem Krankenhaus traten, traf gerade ein Bus bei der Haltestelle ein. Als er wieder wegfuhr, sass mein Bruder immer noch auf der Bank. Hast Du gehört, was Gine gesagt hat?, fragte ich meine Frau. Sie erwartet, dass wir beim nächsten Besuch die Geschichte weitererzählen. Lustig, nicht wahr? Wir haben doch gar keine Geschichte erzählt. Nein, sagte meine Frau, das habe ich nicht mitgekriegt.

Als ich wieder zur Haltestelle schaute, war mein Bruder verschwunden.

***

Wenn sich in einem Spitalzimmer vier Menschen aufhalten, wenn man aus dem Fenster einen kleinen Park sieht, dahinter die Kirche von Wipkingen, in der seit einiger Zeit nicht mehr gepredigt wird, etwas weiter entfernt das vorläufig höchste Hochhaus von Zürich und noch einmal weiter hinten den Zürichsee, und nur drei dieser vier Menschen glauben daran, wach und in ihrem echten Leben zu sein, während der vierte, eine alte Frau im Krankenbett, alles schon einmal genauso geträumt hat: wie gross ist dann die Wahrscheinlichkeit, dass sich die anderen drei im Traum der alten Frau befinden?

Und wie stehen die Chancen, dass sich die träumende Frau lediglich in einer Computersimulation aufhält, in der Linienbusse anhalten und wieder abfahren und Menschen abtransportieren, die gar nicht eingestiegen sind?

Dieser George Hotz mag mit 17 das iPhone gehackt haben, sein deklariertes Lebensziel, einen Weg aus der computergenerierten Welt zu finden, in der er sich zu befinden glaubt, wird er nicht erreichen. Maximal gelingt ihm die Flucht aus einer Computersimulation in die andere. Aber auch nur dann, wenn das in seiner Simulation so vorgesehen ist.

Vielleicht landet er aber auch in Gines Traum. Sollte es dazu kommen, was ich nicht völlig ausschliesse, bitte ich ihn, weil ich nicht weiss, wann ich selber wieder nach Zürich fliegen kann und ob mein Bruder wieder auftauchen wird, am Abend, jeden Abend, wenn die Hühner sich bei Einbruch der Dunkelheit ins Hühnerhaus zurückgezogen haben, die Türe gut zu verriegeln, wegen dem Fuchs.

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