Eine schwimmende Insel im Weissensee

(Nachrichten aus dem Basiscamp)

Jeder macht Dinge zum ersten Mal. Bloss liegen die Premieren, je älter wir werden, oft lange zurück, und die, die sich viel besser als wir daran erinnern könnten, sind lange tot. Die ersten Schritte, ohne sich am Sofa festzuhalten.

Bei den meisten von uns kommt Neues ab einem gewissen Alter immer seltener vor. Wir begegnen zwar noch viel Neuem, manchmal werden wir von Neuem geradezu überrollt, aber wir tun selber nicht mehr viel Neues. Wir machen lieber Bewährtes und wiederholen endlos dieselben Betätigungen, als müssten wir sie für eine grosse Schlussprüfung so lange einüben, bis wir sie im Schlaf beherrschen.

Natürlich gibt es Ausnahmen. Reinhold Messner suchte sich nach jeder Erstbesteigung sofort ein neues Ziel. Ich hätte ihm bei seinen Aufbrüchen in den Siebzigerjahren nicht folgen können, obwohl ich schon damals 14 Jahre jünger war als er.

Als er 1978 als erster Mensch (das war vor ihm auf zwei Beinen nur Yetis gelungen) ohne Sauerstoff aus Flaschen den Gipfel des Mount Everest erreichte, war ich gerade 20 Jahre alt und für meine Verhältnisse dank Militärdienst und Handball gut in Form. Trotzdem hätte ich keine Chance gehabt, ihm zu folgen, und die auch nicht nutzen wollen, danke Herbert, lieber nicht.

Ich muss Dich hier ziehen lassen, Reinhold, habe ich zu ihm gesagt. Ich kann Dich nicht begleiten. Du musst diesen und die anderen Achttausender alleine besteigen, es tut mir leid. Ich bin eine dieser Flaschen, die Du nicht mittragen willst. Nun geh schon. Nimm den Peter und ein paar Sherpas mit, die sind dafür besser geeignet. Ich bleibe im Basiscamp und schreibe Gedichte.

Er ist dann losgezogen, in einem Höllentempo, und als meine Mutter starb, hatte er bereits alle vierzehn Achttausender bestiegen (einen davon ganz alleine). Nur bei den Seven Summits war er nicht der erste. Aus Ärger darüber hat er die Antarktis, Grönland und die Wüste Gobi durchquert. An drei aufeinanderfolgenden Wochenenden.

Als wir uns 1978 trennten, oder vielleicht muss man sagen, als sich unsere Wege trennten, denn er hat sich nicht von mir verabschiedet, vielleicht, weil er mir mein Zurückbleiben übel nahm, vielleicht aber auch, weil er mich gar nie richtig wahrgenommen hatte, kehrte ich im Gefühl ins Tal zurück, wir könnten trotz allem, was zwischen uns nicht war und nie sein würde (all die Achttausender), Freunde bleiben, oder es irgendwann werden, sollten wir uns bei einer Buchsignierung kennenlernen.

Schreiben Sie „Für meine Tochter“, bitte. Nein: „für meine Söhne und Töchter“. Haben Sie schon begonnen? Schreiben Sie einfach: „Für meine Kinder“. Ich meine natürlich meine, nicht Ihre. Schreiben Sie “Für seine Kinder“. Oder besser „Für Walters Kinder“. Ich bin Walter, erinnerst Du Dich, Reinhold?

Wir haben vieles gemeinsam. Auch ich habe ein Jahr an einer Mittelschule unterrichtet. Nur nicht Mathematik, sondern Geschichte. Aber ich habe auch keinen Zweitwohnsitz in München, dafür einen guten Freund, und anstatt das Messner Mountain Museum (MMM) habe ich lediglich Walters Wunderbare Welt (WWW) gegründet.

Ich bin nach unserer Trennung nicht Extremsportler geworden wie Du, sondern Diplomat, und während Du das Höhenbergsteigen stilistisch verändert hast, habe ich Berichte ohne Tiefgang und Leser geschrieben. So spielt das Leben.

Wie bitte? Ach so. Entschuldigen Sie, Herr Messner. Schreiben Sie einfach: „Für Herrn Haffner, in Erinnerung an gar nichts.“
(er schreibt…)

Danke. Es wäre mit zwei „f“ gewesen, Haffner mit zwei „f“. Macht aber nichts.

Nach dieser zweiten Trennung von Reinhold, die nicht weniger schmerzhaft war als die erste im Jahr 1978, weil sie diesmal endgültig war oder zumindest endgültig schien, weil man sich ja immer zweimal verlässt im Leben, war ich niedergeschlagen und ging während Monaten kaum noch unter die Leute. Vielleicht war es auch wegen der COVID19-Epidemie.

Jedenfalls habe ich das fehlerhaft gewidmete Buch nie gelesen und es wird, wie so manches andere unnötige Buch, das als Mitbringsel und Geschenk den Weg in unseren Haushalt gefunden hat, den Auszug aus Wien mit Sicherheit nicht mitmachen. Vielleicht werde ich es auf einer Börse für signierte Bücher ausschreiben. Möglicherweise haben fehlerhaft gewidmete Bücher, ähnlich wie Fehldrucke bei Briefmarken, einen besonderen Wert.

Als meine Frau und ich mit den beiden Hunden Anfang August zum Weissensee aufbrachen, einem wunderbaren Bergsee in Kärnten, nahe der Grenze zu Italien, war ich müde, ja geradezu ermattet vom Nachdenken über das Bergsteigen, und ich fühlte mich, als wäre ich unterwegs in einen lang ersehnten Kuraufenthalt.

Wir waren schon ein Jahr zuvor im August eine Woche da gewesen und hatten es so genossen, dass wir – damals ein absolutes Novum in meinem Leben – beim Auschecken gleich wieder eine Woche für den nächsten Sommer gebucht hatten. Und ich nehme es hier vorweg: Wir haben auch nach dieser Ferienwoche, obwohl sie ganz anders verlief als die erste, gleich wieder für das nächste Jahr gebucht. Der Gast fällt bekanntlich nicht weit vom Stamm, und das sind wir ja nun wohl: Stammgäste.

Der Weissensee ist kurz gesagt ein kleines Paradies. Im Gegensatz zu vielen anderen, bekannteren österreichischen Seen, ist ein Grossteil seines Ufers unverbaut und wird es auch bleiben. Weite Teile der schilfbedeckten Uferlandschaft sind Naturschutzgebiet und mit seltenen Ausnahmen, die – johlende Kinder auf Bananenbooten hinter sich herziehend – nur die Regel bestätigen, sind Motorbote mit Verbrennungsmotoren auf dem See nicht erlaubt.

Hatte sich im Jahr zuvor ein Rhythmus eingespielt, bei dem wir mit dem Schiff zu einem Restaurant fuhren, dort eine leichte Mahlzeit einnahmen und dann auf einem entlang dem Ufer leicht erhöhten Pfad durch den schattigen Wald nachhause wanderten, dabei immer wieder den See mit seinen diversen Schattierungen von grün und blau im Blick, verbrachten wir diesmal die meiste Zeit auf dem See.

Wir mieteten jeden Tag nahe bei unserer Unterkunft ein Tretboot, ausgerüstet mit Kissen und Sonnenschirm, und stachen mit den Hunden, die sich auf dem kleinen Boot rasch wohl fühlten und sich auch bei Wellengang auf sicheren Pfoten bewegten, für vier Stunden in See.

Das Wetter spielte vorzüglich mit. Die Tage begannen sonnig und warm und gegen Mittag bildeten sich Wolken, die sich am späteren Nachmittag, wenn wir wieder zurück im Hotel waren, in zum Teil heftigen Gewittern entluden. Genau so, sagte ich zu meiner Frau, genau so waren die langen Sommer meiner Kindheit: am Tag sonnig und heiss und am Abend ein die Luft reinigendes und abkühlendes Gewitter. Wunderbar!

Eines dieser Gewitter hat dann beide hauseigenen Ruderbote vom Steg unseres Hotels losgerissen, und während das eine zurückgebracht wurde, ist das andere noch irgendwo draussen auf dem See oder – wahrscheinlicher – es verbirgt sich irgendwo am Ufer im Schilf, wenn es nicht vom Blitz zerstört gesunken ist.

Das bringt mich zum Schilf. Und ans Ufer. Zum schilfbewachsenen Ufer.

Bevor ich erzähle, worum es hier wirklich geht (alles bisher Geschriebene könnte man eine Einleitung nennen, wenn es mit dem, worum es hier geht, nur irgendetwas zu tun hätte) muss ich noch sagen, was am Tag zuvor geschah.

Am Tag zuvor kam uns mitten auf dem See ein von einem Elektromotor angetriebenes Floss entgegen, etwa zehn auf vier Meter, auf dem eine Gesellschaft bei Tisch sass. Das Floss zog mit fast unhörbarem Summen des Elektromotors an uns vorbei und aus einer Entfernung von sagen wir 30 Metern waren die Stimmen der Gesellschaft zu hören, ohne dass man verstehen konnte, worüber sie sich unterhielten.

Die Szene hatte etwas Unwirkliches oder Inszeniertes an sich, als stammte sie aus einem Film und auch da nur aus einer Traumsequenz. Das einzige, was fehlte, war Musik.

Am selben Nachmittag begann sich einer unserer Pudel, Sheli, seltsam zu benehmen. Sie lief sichtbar unwohl und unruhig auf dem Boot hin und her, wollte nicht gestreichelt werden (was sie sonst immer will), wollte keine Goodies (denen sie sonst nie widerstehen kann) und schien nach einem Platz zu suchen, wo sie gut von Bord gehen könnte.

Obwohl sie auch schon von Bord gesprungen war, um einer Ente nachzujagen, sprang sie aber nicht, und meine Frau liess sie schliesslich ins Wasser. Sofort schwamm sie in Richtung Ufer, auf das Schilf zu. Da ich befürchtete, dass sie sich mit ihrem Halsband im Schilf verheddern könnte, holte ich sie mit dem Tretboot ein und wir fuhren zu einem nahegelegenen Steg, wo meine Frau mit ihr ans Ufer ging, wo sie sogleich ihre Blase leerte.

Als ich am nächsten Morgen die Vorhänge in unserem Hotelzimmer aufzog, sah ich auf dem See etwas, was vorher nicht da war. Zunächst dachte ich, weil man in allem, was man sieht, Bekanntes erkennen will, es sei wieder ein Floss mit einer Gesellschaft, diesmal einer Frühstücksgesellschaft, aber ich realisierte im selben Augenblick, dass dem nicht so war. Das Ding, das da im See trieb, war mit Schilf bewachsen. Es war eine kleine, schwimmende Insel, kein Mensch zu sehen, kein Motor zu hören.

Ich habe, und ich weiss, dass das dumm klingt und es auch ist, die Insel nicht fotografiert. Man findet sie aber, wie alles, im Internet, auf Facebook, unter «Schwimmende Insel an Weissensee gesichtet…»

Die Hotelbesitzerin hat uns erklärt, dieses kleine Stück Land hätte sich vor ein paar Jahren bei einem Sturm vom Ufer losgerissen und habe dann irgendwo wieder angelegt. Bei jedem starken Sturm löse es sich wieder vom Ufer und drifte über den See zu einem neuen Ort.

Ihre Tochter ergänzte, es gäbe Leute, die behaupten würden, ein Seeanlieger hätte das kleine Stück Land absichtlich vom Ufer gelöst, um seinen gesetzlich limitierten Zugang zum See zu vergrössern. Seitdem sei die Insel, wann immer sie an einem bewohnten Ufer anlege, unerwünscht und werde von den Anrainern wieder hinaus in den See gestossen.

***

Auf der Heimfahrt nach Wien, während meine Frau mit Kopfhörer eine Lektion ihres Deutschkurses wiederholte und die Pudel auf dem Rücksitz in ihrer Box schliefen, ging mir Verschiedenes durch den Kopf.

Lange Autofahrten setzen bei mir immer allerlei Gedanken in Gang und bringen Erinnerungen an die Oberfläche, meist in rascher Reihenfolge und wild durcheinander, während die Landschaft ruhig vorbeizieht, und manchmal muss ich meine Frau dann bitten, etwas sofort aufzuschreiben, damit ich es nicht vergesse.

Reinhold Messner kam mir wieder in den Sinn. Warum hatte ein Mann, dem kein Gipfel zu hoch ist, mir zweimal den Handschlag verweigert und am Ende noch meinen Namen falsch geschrieben, als wollte er meine Existenz löschen, zumindest aus seinem Gedächtnis?

Bei Pferden sagt man, dass die Ursache für eine Verweigerung falsches Anreiten sein kann (zu nah, nicht nah genug, falsches Tempo, zu wenig Schwung, Unsicherheit beim Reiter). Was war bei Reinhold Messmer schiefgelaufen?

Gab es einen Zusammenhang zwischen der schwimmenden Insel im Weissensee und dem verschwundenen Ruderboot?

Wie würde ich mich fühlen, wenn nach dem bevorstehenden Ende meiner beruflichen Laufbahn der Strom der E-Mails, der täglich in ebenso end- wie belanglosen Wellen an mein Ufer plätscherte, von einem Tag auf den andern abbrechen würde?

Wenn die berufliche E-Mail-Adresse einmal wegfiel, blieb nur noch die private, und ein Blick in meine private Inbox zeigte klar: 9 von 10 E-Mails stammten von mir. Ich hatte sie mir aus dem Büro geschickt. Woher würde ich mir E-Mails schicken, wenn ich kein Büro mehr hatte?

Wo würde ich mich niederlassen nach dem Ende meiner Berufstätigkeit? Würde es mir gehen wie dieser entwurzelten Insel auf dem Weissensee, die keiner wollte?

Hatte meine Frau recht, wenn sie sagte, am besten würden wir nach dem Wegzug aus Wien ein Jahr in Paris leben, ein Jahr in London, ein Jahr ein Nizza?

Würde mich, einmal fest und nicht nur für vier Jahre irgendwo niedergelassen, die Angst packen und ich würde auf einen heftigen Sturm hoffen, auf dass er mich vom Ufer losreisse?

Musste Sheli gar nicht ihre Blase entleeren? Hatte sie die Insel entdeckt? Oder das Zweite Ruderboot? Lauerte etwas im Schilf?

Tamar…
Tamar…!
(sie nimmt die Kopfhörer ab…)
Ja?
Kannst Du bitte aufschreiben: Schwimmende Insel. Sommer meiner Jugend. Verschwundenes Ruderboot. Schilf…

3 Antworten to “Eine schwimmende Insel im Weissensee”

  1. Andreas Härter Says:

    Danke für das P.P.S., alter Freund. Herbert hätte ich erkennen sollen, eigentlich, von lange her.
    Bin wohlauf und hoffe dasselbe für Dich!
    Herzlich, Andi

  2. walter Says:

    Schön Dich zu lesen, lieber Andi, alter Freund!
    Hoffe, es geht Dir gut.
    Herzlich,
    W

    PS: Jim Knopf werde ich mir hervorholen.
    PPS: Herbert ist Herbert Achternbusch: „Du hast zwar keine Chance, aber nutze sie!“

  3. Andreas Härter Says:

    Eine schwimmende Insel namens Walter (haben schwimmende Inseln Namen?) – in welchem (oder wessen) See treibt sie? Es ist gut zu wissen, dass sie irgendwo ist, einmal hier, einmal dort, dass es die Gelegenheit gibt, sie gelegentlich zu erblicken, in einem Traum (mit Tischgesellschaft) oder einem Leben.
    P.S. Lies wieder einmal „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“, alter Freund.
    P.S. Wer ist Herbert?

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