- eine Geschichte in 4 Etappen
Prolog, Silver Spring, Maryland, USA, an einem sonnigen Herbstmorgen im Jahr 1998
Ein Mann im dunkelgrauen Anzug und mit Sonnenbrille betritt den Eingangsbereich eines Ford Händlers, durchquert die Halle und tritt an den Schalter. Die Empfangsdame begrüsst ihn mit den Worten:
«Guten Morgen, mein Herr, was kann ich für Sie tun?»
«Frederik Johnson, FBI» (er zeigt seinen Ausweis) «Ich brauche die Akten eines Ihrer Kunden: George Habermann. Ein roter Ford SHO.»
Die Empfangsdame lacht. «Da müssen Sie mir aber sagen, welcher der beiden Sie interessiert. Es gibt nämlich zwei George Habermann, die einen roten Ford SHO fahren! Unglaublich, nichtwahr?»
«Ich weiss, aber einer ist verschwunden. Ich brauche den anderen.»
Erste Etappe: Die Tochter der Wahrsagerin (Obersaxen – Washington, D.C.)
vier Jahre vorher, im August 1994
Es ging gar nicht. Es war völlig unmöglich. Wie sollte er sein zweites Ich einholen, das drei Jahre vor ihm gestartet war und somit eigentlich sein erstes Ich war? Es war völlig undenkbar, dass ein Mensch zweimal geboren wurde, im Abstand von wenigen Jahren, und doch hatte die junge Frau genau das behauptet, und zwar nicht von irgendjemandem in einer erfundenen Geschichte, sondern von ihm, George Habermann.
„Du bist nie ganz bei Dir, weil Du Dir vorausgeeilt bist. Wenn Du zu Dir finden willst, wenn Du ganz werden willst, musst Du Dich auf Deine Fersen machen. Und zwar schnell. Je länger Du wartest, desto schwieriger wird es für Dich, dich noch vor dem Ziel einzuholen.“
Und für diesen Unsinn hatte er auch noch 50 Dollar bezahlt, in einer Seitengasse des Dupont Circle in Washington, D.C. Der Schwiegersohn eines längst verstorbenen Schweizer Kinderbuchautors, dessen im Engadin spielende Werke jedes Kind seiner Generation kannte, hatte ihm eine Wahrsagerin empfohlen. Er halte sonst nichts von Wahrsagerinnen, hatte er ihm versichert, aber jedes Mal, wenn er in Washington sei, besuche er sie, und sie enttäusche ihn nie. Es sei einfach unglaublich, was sie über sein Leben wisse, ohne dass er ihr je auch nur das Geringste über sich erzählt habe, und ebenso verblüffend sei, wie oft das, was sie ihm voraussage, dann auch tatsächlich so oder ähnlich eintreffe. Und das alles für 25 Dollar.
Habermann hielt noch weniger als nichts von Wahrsagerinnen und spätestens als er an der Türe klingelte und eine jüngere Frau öffnete und ihm erklärte, ihre Mutter sei krank, aber sie würde sie vertreten, hätte er es sein lassen sollen. Stattdessen folgte er ihr die Treppe hoch in ein nur schwach ausgeleuchtetes Zimmer und setzte sich ihr gegenüber an den kleinen Tisch, auf dem keine Kristallkugel stand – wenigstens das nicht, dachte er.
Wie die Vertretung der Wahrsagerin (wer sagte, dass es sich wirklich um ihre Tochter handelte, und nicht um die Reinigungskraft, die ihre Chance auf ein paar leicht verdiente Dollar gekommen sah?) wissen konnte, dass er in der Schweiz eine ältere Schwester und einen jüngeren Bruder hatte, und dass seine Eltern einige Jahre zuvor kurz nacheinander ums Leben gekommen waren, konnte er sich dann allerdings nicht erklären.
Er hatte sich vorgenommen, der Wahrsagerin keinerlei Informationen über sich zu geben, die sie ihm später auftischen konnte, und hatte das auch mit ihrer Tochter so gehalten. Ja und Nein waren seine einzigen Antworten auf ihre Fragen. Wie es schon in der Bibel geschrieben stand: „Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein; was darüber ist, das ist vom Übel.“ Als hätten die Autoren das digitale Zeitalter vorausgeahnt und ganz nebenbei einen Leitfaden für den Umgang mit Wahrsagerinnen und ihren Töchtern verfasst.
Hatte der Schwiegersohn des Kinderbuchautors vielleicht Informationen über ihn hinterlassen? Wusste er, den er nur zweimal getroffen hatte, im Zusammenhang mit einem Ausstellungsprojekt, das nie zustande kommen sollte, diese Dinge überhaupt? Hatte er sie ihm womöglich erzählt? Es war praktisch ausgeschlossen, obwohl er manchmal zu viel redete, wie ihm seine Frau ab und zu vorhielt. Also beschloss er, anstatt aufzustehen und diesen totalen Blödsinn abzubrechen, sitzenzubleiben und der jungen Frau zuzuhören. Er hatte noch etwas Zeit, bevor seine Mittagspause zu Ende war.
Hatte sie tatsächlich die Gabe Ihrer Mutter geerbt? Oder hatte auch ihre Mutter keine Gabe und ihrer Tochter lediglich das raffinierte Geschäftsmodell beigebracht, während ihr für Prophezeiungen weniger begabter Sohn im Hinterhof den Kilometerstand von Gebrauchtwagen manipulierte?
Nach ein paar weiteren erstaunlichen Aussagen über Habermanns Vergangenheit und seine Gegenwart kam die junge Frau ins Stocken. Sie stützte ihren Kopf in beide Hände, schloss die Augen und begann leise zu stöhnen.
„Ist Ihnen nicht gut?“ fragte Habermann? „Kann ich Ihnen ein Glas Wasser bringen?“ Er hatte zwar keine Ahnung, ob und wo es hier Wasser gab, aber es gab hier bestimmt eine Astgabel, mit der er nach Wasser suchen konnte. Oder ein Pendel.
„Du bist nicht ganz“, sagte sie, ohne die Augen zu öffnen.
„Nicht ganz was?“ fragte Habermann, und dachte: Nicht ganz bei der Sache? Nicht ganz gebacken?
„Du bist nicht ganz. Du bist nicht Dein ganzes Ich.“
„Will heissen…?“
„Ein Teil von Dir ist bereits unterwegs, ist Dir voraus. Vielleicht zwei, drei Jahre, vielleicht auch mehr, schwer zu sagen.“
„I see…“ sagte Habermann, obwohl er in diesem Augenblick weder etwas sehen noch etwas verstehen konnte.
„Du wurdest schon einmal geboren und wenn es Dir nicht gelingt, Dich einzuholen, wirst Du nie ganz sein.“ Mit diesen Worten öffnete sie die Augen.
„Das macht 50 Dollar“
„50?“ fragte Habermann, „Man hatte mir 25 gesagt…“
„Davon weiss ich nichts“ sagte die Tochter der Wahrsagerin, ohne mit den künstlichen Wimpern zu zucken.
Was konnte man tun, wenn sie nichts davon wusste? Wahrscheinlich hatte sie beim Frühstück in ihrem Kaffee gesehen, dass heute ein Europäer kommen würde, der das Doppelte des üblichen Preises bezahlt.
„Möchten Sie eine Verlängerung?“
„Nein, danke“ sagte Habermann, und gab ihr die 50 Dollar. Wer wusste, was bei einer Verlängerung noch alles zum Vorschein kommen würde. Vielleicht war er mit einem vorausgeeilten Teil seines Ichs, das er nun würde einholen müssen, noch gut bedient. Vielleicht gab es noch andere Ichs, die schon wesentlich mehr Vorsprung hatten, oder er würde von einem halben Dutzend später geborenen Ichs erfahren, die ihm wie eine Meute hechelnder Hunde auf den Fersen waren.
Als er ihr die Treppe hinunter zum Eingang folgte, fragte er sie: „Und wie macht man das, wie holt man sich selber ein?“
„Wie beim Velorennen“ sagte sie mit einem Lächeln, während sie ihm die Türe aufhielt, die hinter ihm ins Schloss fiel.
Habermann überquerte die Strasse und nahm die Rolltreppe hinunter zur Metro. Wie man so tief unter einer Stadt ein ganzes U-Bahnnetz bauen konnte, konnte er sich nicht wirklich vorstellen. Die Pyramiden von Gizeh? Gut, das war auch kein kleines Wunder, aber Stein auf Stein und mit unendlich viel Zeit und Sklaven konnte er es sich vorstellen. Ein U-Bahnnetz tief unter eine bereits existierende Stadt zu legen, überstieg hingegen seine Vorstellungskraft. Und trotzdem hatten sie genau das getan.
Was hatte sie gemeint mit Wie beim Velorennen? Er war kein grosser Radsport-Fan und wusste entsprechend wenig über Velorennen. Das einzige Rennen, das er sich hin und wieder im Fernsehen anschaute, war die Tour de France. Was er dabei neben den schönen Landschaften am meisten mochte, war, wie die Mannschaften funktionierten. Wie sie eine Taktik hatten, um ihre Sprinter in Position zu bringen für Zwischenwertungen und Etappensiege oder wie sie ihre Leader zum Gesamtsieg führten, wie die einen für die anderen arbeiteten und alles einem Plan folgte, einer Strategie, die manchmal sogar aufging.
Aber was hatte das mit seiner Situation zu tun? Er hatte kein Team, das ihn an sein ausgerissenes Ich hätte heranführen können. Hatte sie ein Einzel-Zeitfahren gemeint? Sein Ich war vor ihm auf die Strecke gegangen und es ging nun lediglich darum, die von ihm vorgelegte Zeit zu schlagen, um am Ziel ins goldene Trikot des Vereinigten Habermann eingekleidet zu werden?
Oder meinte sie den Windschatten? Riet sie ihm, seinem sich auf der Soloflucht befindlichen Ich im Verlauf des Rennens (was für ein Rennen?) so nahe zu kommen, dass er sich kurz vor der Ziellinie aus seinem Windschatten lösen und sich selber überholen konnte? Wäre das dann ein Doppelsieg oder würde er alleine jubeln?
Zurück im Büro blätterte er noch einen Moment in den Papieren, die ihm der Schwiegersohn des Buchautors hinterlassen hatte, und eigentlich hätte er nun ein paar Museen oder Galerien anrufen sollen, um die Möglichkeit einer Ausstellung auszuloten, aber es fehlte ihm an Energie, um zu versuchen, das Engadin seiner Kindheit nach Washington zu holen, und er fragte sich stattdessen, wieviel Vorsprung sein Ich bereits hatte, in welcher Situation es sich gerade befand und was es gerade tat. Hatte es eine Frau und Kinder wie er? Und was würde geschehen, falls es ihm tatsächlich gelingen würde, sich einzuholen
Zweite Etappe: Über die Brücke rennen (Virginia Beach – Delmarva-Halbinsel)
im Oktober 1996
„Lars Henriksen, Armando da Silva jr., Brandon Barnea, Steven Schenker, John Reilly, James Quigley, Garry Landsman, Tony Marino, Kenneth Anderson…”
„Reich mir doch bitte die Milch rüber…“
„Was…?“
„Die Milch…“
Habermann gab seiner Frau die Milch.
„Dieser Dallas Harrison – was für ein Name – der Junge ist ganze 31 Jahre alt. Fünf Sekunden habe ich ihm abgenommen.“
„Toll…“
Linda goss Milch in ihren Kaffee und beugte sich wieder über ihre Zeitung.
„Andererseits ist da dieser Bill Osburn. 72 Jahre alt. Das wäre dann, warte mal, Jahrgang 1924. Lief locker 16 Sekunden schneller als ich. Kannst Du dir das vorstellen? Ich renne über die Brücke, ich gebe alles, was ich habe, meine Füsse tun mir weh in den teuren Airmax, und auf dem letzten Kilometer, als es mir fast die Lunge zerreisst und ich mich am liebsten auf die Strasse legen würde, zieht dieser Greis locker an mir vorbei, wehendes weisses Haar, ausgelatschte Turnschuhe aus dem K-Mart, „Just do it“ auf dem T-Shirt.
Ist als Zwanzigjähriger in der Normandie gelandet, hat die Nazis eigenhändig besiegt und überholt mich fünfzig Jahre später kurz vor Sandy Point, am Ziel des Bay Bridge Runs. Atmet nicht einmal besonders schwer, während ich nach Luft schnappe. Himmelarschundzwirn!“
„Nicht am Tisch bitte, unterbrach ihn Linda, nicht vor den Kindern.“
„Ist aber so. Der Kerl verdrückt im Zielgelände rasch eine Gratisbanane, trinkt zwei Bier des Sponsors und fährt dann nachhause zu seiner fünfundzwanzigjährigen Frau. Seine dritte, versteht sich. Die zweite hat er nach zwanzig belanglosen Jahren grosszügig abgefunden. Sie telefoniert ihm jedes Jahr zu Weihnachten und hinterlässt jedes Mal dieselbe Nachricht auf seinem Beantworter: „Happy Christmas, Bill, I hate you!“. Dann hängt sie wieder auf. Die dritte Frau hat er im Health Club kennengelernt. Blondes, schulterlanges Haar und ein Gesicht wie ein Filmstar, nur nicht so steril. Stets guter Laune. Und natürlich schwer intelligent, sensibel, sinnlich. Sie bumsen nächtelang und spielen vor dem Frühstück zusammen zwei Stunden Squash.“
„George, Du bist widerlich.“
„Ich weiss…“
Er legte die Runner’s Gazette zur Seite und schenkte sich noch einen Kaffee ein. Dann stand er vom Tisch auf und ging mit der Tasse in der Hand in die Küche. Wieso konnte er sich nicht einfach freuen? Vor sechs Wochen hatte er sein erstes Rennen bestritten. Er würde bald vierzig werden und war tatsächlich noch einmal fit geworden, wie er sich das immer vorgenommen hatte, fit vor 40 und dann weiterrennen bis 85.
Von 1738 männlichen Teilnehmern hatte er die 759ste Zeit erreicht, also fast 1000 Läufer hinter sich gelassen auf den zehn Kilometern über die Chesapeake Bay Bridge. Und das alles bei beträchtlichem Gegenwind. Das war doch eigentlich ein schöner Erfolg, für jemanden, der noch vor ein paar Monaten beim Treppensteigen ins Keuchen gekommen war.
Aus dem Küchenfenster sah er seine Kinder im Garten spielen. Norris und Paul prügelten sich unter der Schaukel und Livia und Cindy füllten im Schatten der Bäume Wasserkessel mit Gras und Blüten. Er riss die Schiebtüre zur Veranda auf und schrie in den Garten hinaus:
„Herrgottnochmal, Norris! Willst Du ihn eigentlich umbringen?“
Aber Paul hatte sich bereits aus dem Griff des älteren Bruders befreit und rannte lachend ans andere Ende des Gartens, im Vorbeiweg gezielt den Kessel von Livia umtretend, worauf diese ihm unter grauenhaften Verwünschungen nachsetzte. Nie wieder würde sie mit ihm spielen. Nie! Und wenn er jetzt nicht augenblicklich…
Habermann schloss die Schiebetüre wieder. Nicht einmal seine eigenen Kinder ertrug er. Er war wirklich ein Prunkstück von Arschloch. Er spülte seine Tasse aus und ging mit der Sonntagszeitung nach oben. Die verdammte Zeitung war so dick, dass keiner sie ganz lesen konnte, auch wenn man früh aufstehen würde und den ganzen Sonntag lang nichts anderes vorhatte.
Dritte Etappe: Die Entdeckung des Schläfers (Potomac – Silver Spring – Potomac)
im September 1997
Drei Jahre waren seit dem Besuch bei der Tochter der Wahrsagerin vergangen. Drei Jahre, in denen die Washington Redskins jedes Mal die Playoffs verpasst hatten, sein Tennispartner Harry an Leberkrebs gestorben war und in denen Habermann kaum je an die unglaubliche Geschichte gedacht hatte, die sie ihm für ebenso unglaubliche 50 Dollar aufgetischt hatte.
Eines schönen Tages, die Bäume hatten gerade damit begonnen, ihr farbiges Laub fallen zu lassen, fuhr Habermann mit dem Garagenauto, das er erhalten hatte, bis sein Wagen aus der Werkstatt kommen würde, von seinem Haus in Potomac zur Ford Garage in Silver Spring, um seinen SHO abzuholen.
Er hatte sich diesen besonderen Wagen kurz nach seiner Ankunft in den USA gekauft. Eigentlich hatte er es ja auf einen Ford Mustang abgesehen gehabt, aber der Verkäufer hatte ihm davon abgeraten. Die Winter in Washington, meinte er, hätten zwar selten viel Schnee, aber die Strassen seien oft vereist, und wenn er auch im Winter zur Arbeit fahren wolle, sei ein Hinterradantrieb nicht ratsam. Stattdessen empfahl er ihm einen Ford SHO.
Ein SHO sei ein auf dem Mittelklassewagen Ford Taurus aufgebautes Sondermodell mit stärkerem Motor (Super High Output), erklärte er, das nur zwei PS weniger habe als der Ford Mustang, aber Vorderradantrieb. Weil man ihm seine Kraft nicht ansehe (er sah tatsächlich fast genauso aus wie ein normaler Ford Taurus, das meist verkaufte Auto in den USA), nenne man das Fahrzeug, von dem jährlich nur 10‘000 Stück hergestellt würden, Sleeper.
Habermann parkierte den Garagenwagen auf dem grossen Parkplatz vor der Werkstatt und trat ins Büro. Er überreichte der Dame am Empfang den Autoschlüssel und sagte:
„Der Name ist Habermann. George Habermann. Ich komme meinen Ford SHO abholen.“
„Hi, Mr. Habermann. Sure. Let me get the paperwork ready for you.”
Sie produzierte eine Rechnung, und Habermann wunderte sich über den für einen normalen Service viel zu hohen Betrag. Er schaute sich an, woraus sich dieser zusammensetzte, und sah rasch, dass es sich nicht um seinen Wagen handeln konnte.
„Das ist nicht mein Auto“ sagte er, „Es war nur ein regulärer Service, und auf dieser Rechnung stehen neue Bremsen, eine neue Kupplung, ein neuer Auspuff…“
Die Dame nahm die Rechnung wieder an sich, schaute sie an und sagte: „Sie haben doch einen roten Ford SHO, Jahrgang 94, richtig?“
„Ja, habe ich, aber…“
„Und ihre Adresse ist George Habermann, 29 Abott Road, Silver Spring, nichtwahr?“
„Nein, meine Adresse ist 25 Wimsley Court, Potomac.“
Die Dame schaute ihn ungläubig an, ging zurück zur Registratur und kam mit einer zweiten Rechnung zurück.
„Das ist absolut unglaublich, Mister Habermann! (absolutely incredible!) Es gibt tatsächlich zwei George Habermanns, beide wohnen in Maryland, beide fahren einen roten Ford SHO und beide haben ihren Wagen zur gleichen Zeit bei uns in der Garage. So etwas habe ich noch nie erlebt…“
So etwas hatte sie bestimmt noch nie erlebt, und nicht nur sie, auch die meisten anderen Einwohner von Maryland, Virginia, Washington D.C. und wahrscheinlich der ganzen Ostküste dürften so etwas kaum je erlebt haben, aber rein statistisch betrachtet war es wohl möglich, dass zwei Personen mit demselben Namen denselben Wagen kauften, in der gleichen Farbe, und ihn dann zur selben Zeit in dieselbe Garage brachten. Die Wahrscheinlichkeit liesse sich wahrscheinlich berechnen, und sie musste ziemlich klein gewesen sein bis zum Eintreffen des Ereignisses.
Zuhause angekommen erzählte Habermann seiner Frau von diesem unglaublichen Zufall und nach dem Abendessen suchte er im Telefonbuch nach der Adresse von George Habermann in Silver Spring. Er fand sie samt Telefonnummer und Beruf: Salesman.
Ruhetag: Doppel an der Partridge Lane, Potomac, Maryland
im September 1998
Habermann wachte gut gelaunt auf an diesem Samstagmorgen. Als er die kurze Hose seines Pyjamas abgestreift hatte, nahm er sie mit dem Fuss vom Boden auf, indem er sie durch die Luft schleuderte und mit dem Ausruf „Didier Cuche!“ mit der Hand auffing, wie es der Schweizer Abfahrer jahrelang nach jedem Skirennen mit seinem linken Ski gemacht hatte.
Seit zwei Jahren spielte Habermann fast jedes Wochenende am Vormittag Tennis mit einer Gruppe älterer Herren, von denen einer, Roemer, auf seinem Grundstück an der Partridge Lane einen Tennisplatz hatte, den sie im Herbst zuerst vom Laub befreiten und im Winter freischaufelten, falls es einmal geschneit hatte.
Der Potomac Tennis and Conversation Club bestand aus einem Dutzend Männern, die meisten unter ihnen zwischen 60 und 70 Jahre alt. Habermann war zusammen mit Arthur, der wie er um die Vierzig war, mit Abstand der Jüngste. Es wurde jeweils ein Satz Doppel gespielt und die Sieger blieben auf dem Platz, während die Verlierer im kleinen Pavillon neben dem Platz oder im Winter in der Küche Kaffee tranken, Zeitung lasen und diskutierten.
Das Schöne daran war, neben dem Tennisspielen, dass man nicht planen und sich anmelden musste. Man ging einfach hin, wenn man konnte und Lust hatte, und es waren immer mindestens vier, manchmal sechs, sieben oder acht Spieler da.
Keiner verlor an der Partridge Lane absichtlich ein Spiel, aber es ging nicht wirklich ums Gewinnen, sondern um den Spass am Spielen und das Zusammensein mit Freunden. Nur Alvin, der zweitbeste Spieler der Gruppe, regte sich jedes Mal fürchterlich auf, wenn er einen Doppelfehler machte, während Harry, wie Habermann einer der schwächsten Spieler der Gruppe und sein Lieblingspartner, nach einem der seltenen gewonnenen Punkt zu sagen pflegte: „Nur etwas ist tödlicher als meine Vorhand: meine Rückhand.“
Auf dem Heimweg von seinem Tennismorgen kam Habermann die Tochter der Wahrsagerin in den Sinn, die ihm von seinem anderen ich erzählt hatte, und er musste an den Mann in Silver Spring mit demselben Namen und demselben Auto denken. Wenn dieser tatsächlich sein anderes Ich war, das vor ihm gestartet war, weshalb war er dann nicht weiter als bis Silver Spring gekommen? War das alles, was man mit zwei oder drei Jahren Vorsprung bis zur Einholung durch das Feld herausholen konnte? Ein paar Punkte für die Bergpreiswertung und einen Umzug von Potomac nach Silver Spring?
Wenn dieser Verkäufer (was verkaufte er wohl?) aus Silver Spring tatsächlich sein früher geborenes Ich sein sollte, war er lediglich sein Vorausgänger? Würde auch er selber in ein paar Jahren in Silver Spring wohnen und als Verkäufer für sagen wir, Kühlschränke, unterwegs sein? Wie würde er dazu kommen, seinen Beruf als Diplomat aufzugeben, um in Silver Spring sesshaft zu werden und Kühlschränke zu verkaufen?
Oder war dieser George Habermann in Silver Spring nicht sein Vorausgänger, sondern ein vor ihm geborenes Ich, das einen ganz anderen Weg gegangen war, eine andere Frau geheiratet hatte und vielleicht nicht vier, sondern zwei oder gar keine Kinder hatte? Lebte er gar alleine?
War nicht nur sein Wagen ein Sleeper, sondern er selber, und er wartete nur darauf, dass er ihn einholen würde?
In der Tour de France wurden Ausreisser, die nach einer langen Soloflucht von ihren Verfolgern gestellt wurden, meistens gleich nach der Einholung stehengelassen und kamen danach mit grossem Rückstand ins Ziel, weil sie sich auf ihrer langen Flucht alleine im Gegenwind zu stark verausgabt hatten. Oder sie schafften es gar nicht mehr ins Ziel und wurden vom Besenwagen eingesammelt, der am Schluss des Trosses all diejenigen Fahrer aufnahm, die aufgeben mussten.
Was würde passieren, wenn Habermann Habermann eingeholt haben würde? Würde sein Vorausgänger nach dem Ende seiner langen Flucht erschöpft in den Besenwagen steigen? Würden beide Existenzen weitergehen, mit vertauschten Rollen, oder nur eine? Und wenn nur eine – welches Leben würde weitergehen: seines oder seines?
Es gab nur einen Weg, um das herauszufinden, und Habermann fürchtete sich davor. Trotzdem bog er nicht von der River Road zu seinem Haus ab, sondern fuhr weiter bis zum Abzweig nach Silver Spring.
Vierte Etappe: Contre la montre (Potomac – Silver Spring)
immer noch im September 1998
Zuerst war es nur ein Punkt, der weit vor ihm auf der geraden Strasse fuhr und nur langsam grösser wurde, dann konnte er das Heck eines roten Personenwagens ausmachen, und schliesslich war er nahe genug, um den Wagen erkennen zu können.
Habermann wurde beim Anblick des vor ihm fahrenden roten Ford SHO von einem Gemisch aus Nervosität, Angst und Anspannung befallen. War er das?
Und was sollte er jetzt tun? Ihm bis nachhause folgen?
Die Wahrsagerin kam ihm in den Sinn. Wie beim Velorennen.
Hatte sie damit gemeint, er solle ihn aus dem Windschatten überholen? Brauchte man Windschatten zum Überholen, wenn man einen SHO mit 240 PS fuhr, weil der andere auch 240 PS hatte?
Was würde passieren, wenn er zum Überholen ansetzte? Würde sich die Zeit krümmen und er würde während des Überholvorgangs nicht nur das Gesicht des Fahrers von der Seite sehen, sondern auch die rechte Seite des Fahrzeugs und das Gesicht der Beifahrerin?
Oder würde gar nichts passieren und der SHO würde in seinem Rückspiegel kleiner werden und schliesslich verschwinden?
Habermann fürchtete sich davor, den SHO zu überholen. Aber er fand auch nicht den Mut, ihm bis nachhause zu folgen und zu sehen, was aus ihm werden würde. Da kein Gegenverkehr in Sichtweite war, drückte er das Gaspedal ganz nach unten und die rasante Beschleunigung des SHO trug ihn im Nu auf die Höhe des Fahrzeugs vor ihm und an ihm vorbei. Der Fahrer schaute ihn ungläubig an. Der Beifahrersitz war leer.
Siegerehrung (Silver Spring, Maryland)
ohne Zeitangabe
Auf der Schlussetappe der Tour de France wird der Leader nach einem ungeschriebenen Gesetz nicht mehr angegriffen. Die Fahrer nehmen es normalerweise gemütlich und auf der Avenue des Champs Élysées wird auf dem Fahrrad Champagner getrunken iund geplaudert.
Habermann mochte keinen Champagner. Er trank nur ein Glas mit, weil seine Frau sich ein Champagnerfrühstück gewünscht hatte.
«Ich hatte einen seltsamen Traum heute Nacht», sagte sie.
«Was hast Du denn geträumt?»
«Es war ein wirres Durcheinander. Ich weiss nicht mehr alles. Einmal waren wir an einem Strand in der Bretagne, dann in den Pyrenäen, dann wieder hier zuhause. Wir hatten mehrere Hunde dabei, kleine und grosse. Sogar Kinder hatten wir. Kurz bevor ich erwachte, standen wir in einer Menschenmenge vor einem leeren Siegerpodest.
Die Leute jubelten und klatschten, aber es stand niemand auf dem Podest. Es war wirklich bizarr.»
Nach dem Frühstück ging Habermann ins Badezimmer und zog sich aus, um zu duschen. Seine Frau kam gerade richtig, um zu sehen, wie er mit dem Fuss seine Unterhose durch die Luft wirbelte und dabei etwas sagte, was wie «Deede Kush» klang.
«Was machst Du da?»
«Lustig, nicht?» antwortete Habermann, und stieg in die Duschkabine.
Als Habermanns Frau wieder im Wohnzimmer war, hörte sie die Türglocke klingeln. Sie ging zur Türe und sah durch das Guckloch einen Mann im dunkelgrauen Anzug, der eine Sonnenbrille trug, obwohl es ein bedeckter, grauer Tag war.
18. September 2021 um 20:19
Das ist eine deiner Top Five stories ! I love it.