- meiner Mutter zum 89. Geburtstag
Ich schreibe den 22. November 2021 und zum Glück bin ich mit diesem Datum nicht alleine. Alle Menschen (sofern sie gerade schreiben und nicht kochen, essen, schlafen, arbeiten, spielen oder ein Kind zeugen), die westlich der Datumsgrenze leben, schreiben den 22. November. Hier in Wien noch dreiviertel Stunden lang.
Meine Mutter wäre heute 89 Jahre alt geworden. Auch damit bin ich nicht alleine. Viele Mütter wären heute 89 Jahre alt geworden, und einige sind es tatsächlich geworden. Alle, die es nicht geschafft haben, habe ich heute Nachmittag kurzfristig zu einem Geburtstagsfest in die Residenz eingeladen. Das war möglich geworden, weil wegen dem ab heute in ganz Österreich geltenden Lockdown eine geplante Abendeinladung ausgefallen ist. Natürlich sind nicht alle gekommen, bei Weitem nicht, das habe ich angesichts der kurzfristigen Einladung auch nicht erwartet, aber glauben Sie mir – die Residenz war voll und es herrschte eine Stimmung wie bei einem Kindergeburtstag.
Wenn ich am Ende dieses Textes angelangt sein werde, werde ich mich von meinem Schreibtisch erheben und mit meiner Gattin und unseren Hunden die Treppe hinunter und dann ein paar Schritte in Richtung Osten gehen, wo die Hunde im Garten der Residenz ihr letztes Geschäft vor der Nachtruhe verrichten können.
Ich bin froh, dass der Garten der Residenz auf der Ostseite des Hauses liegt. So bin ich auf der sicheren Seite. Wenn man nämlich die Datumsgrenze in Richtung Westen überquert, kommt man in den nächsten Kalendertag, und ich will das Kuchengeschirr, die Tassen und Gläser und all die kleinen Dinge, die Trompeten, Spitzhüte und Glückskäfer, die aus den Tischbomben geflogen kamen, noch heute wegräumen (jemand hat seinen Schal vergessen).
Die Datumsgrenze, ich habe es gerade nachgelesen, verläuft zwischen den beiden Polen der Erde in der Nähe des 180. Längengrads. Wer über sie hinwegschreitet, gelangt in ein anderes Datum, und zwar in ein früheres, wenn er (oder sie) Richtung Osten geht, und in ein späteres in Richtung Westen. Wenn ich „hinwegschreiten“ sage, ist das allerdings schlecht möglich, denn die Datumsgrenze verläuft mitten im Pazifischen Ozean. Man müsste also darüber hinweg schwimmen oder rudern. Auch ein Motorboot wäre denkbar. Segeln würde ich nicht empfehlen, da es um Mitternacht windstill sein kann.
Andererseits wissen wir alle aus Erfahrung, und dafür muss man nicht 89 werden, dass das Datum nicht Mitten im Ozean, sondern immer dort wechselt, wo es gerade 24 Uhr ist, an der sogenannten Mitternachtslinie. Das leuchtet abgesehen davon, dass wir es schon unzählige Male so erlebt haben (in meinem Fall meistens schlafend) auch viel mehr ein, als eine fixe Linie im Pazifik, die früher oder später ganz den Chinesen gehören wird, und wer weiss, was die dann mit dem Datum anstellen werden.
Des Rätsels Lösung ist offenbar, dass es nicht eine, sondern zwei Linien für den Datumswechsel gibt. Neben der einen Linie, die wir im Schlaf begreifen und die (auf der der Sonne abgewandten Seite) die Erde in 24 Stunden einmal umrundet, muss es zwangsläufig eine zweite geben, weil sonst die Erde ja nicht in zwei verschiedene Tage, in heute und morgen (oder heute und gestern) aufgeteilt wäre, sondern heute würde ungebremst bis direkt an die Datumsgrenze reichen und dort wieder heute beginnen, weil auf der anderen Seite der Linie ja bereits heute wäre und deshalb nicht morgen beginnen oder gestern schon vorbei sein kann.
Aus Gründen der Geometrie, denke ich, weil etwas nicht an sich selber grenzen kann, kann die runde Erde nur mit Hilfe von zwei Datumsgrenzen in zwei Bereiche mit dem alten Datum (gestern bzw. heute) und dem neuen Datum (heute bzw. morgen) aufgeteilt werden. Dieser andere Datumswechsel findet, so wurde es irgendwann festgelegt, am 180. Längengrad statt.
Die Bewohner beidseits dieses Längengrads haben dann allerdings nicht das gleiche Kalenderdatum. Auf der westlichen Seite ist man einen Kalendertag weiter als auf der östlichen Seite. Zum Glück verläuft diese feste Trennlinie im Pazifik, zwischen den beiden Kontinenten Asien und Amerika, wo nur sehr wenige Menschen leben. Den wenigen Inselbewohnern, die an dieser festen (im Gegensatz zur wandernden) Trennlinie leben, könne es zugemutet werden, so sahen es die Erfinder der festen Datumsgrenze, dass Nachbarn, die auf der anderen Seite der Datumsgrenze leben, immer ein anderes Datum haben.
Liebe Mutter, das mit der Datumsgrenze hat Dich wahrscheinlich nicht wirklich interessiert, und es tut mir leid, dass ich mich so lange mit diesem Thema aufgehalten habe. Bei all den vielen Gästen heute Nachmittag konnten wir ja kaum miteinander reden, obwohl ich Dich gerne vieles gefragt und Dir noch mehr zu erzählen gehabt hätte. Wir haben uns aus der Ferne zugeprostet und ich habe gesehen, wie Du zweimal in die Küche gegangen bist, um mehr Kuchen aufzutragen. Ich wollte das selber machen, weil Du an Deinem Geburtstag Gast warst und nicht die anderen Gäste hättest bewirten müssen, aber ich bin irgendwie nicht durchgekommen.
Du hast gut ausgesehen und es war wunderbar, wieder einmal Dein Lachen zu hören. Lass mir Vater herzlich grüssen und falls das Dein Schal ist, der in der Garderobe hängen geblieben ist, hoffe ich, dass Du einverstanden bist, dass ich ihn behalte.
PS: Weisst Du noch, dass ich den grössten Teil meiner Studienzeit im Mittelalter zugebracht habe? Damals war die Erde eine Scheibe und eine Trennlinie für den Datumswechsel hätte genügt oder wäre, wenn ich es mir überlege, schon eine zu viel gewesen.
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